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Im Mittelpunkt dieses Buches steht der Fall Aimée: Die Postangestellte Marguerite Pantaine hatte eine Bühnenschauspielerin mit einem Messer attackiert und war daraufhin psychiatrisiert worden. Jacques Lacan hatte sich der Patientin angenommen. Seine nun erstmals auf deutsch erscheinende Dissertation aus dem Jahre 1932 wurde damals mehr im sozialistischen und surrealistischen Milieu rezipiert als durch Wissenschaft und Psychiatrie. Das Werk gibt nicht nur einen umfassenden Überblick über die damaligen Bemühungen, die Paranoia und allgemein die Geisteskrankheiten zu erklären, sondern zeigt auch,…mehr

Produktbeschreibung
Im Mittelpunkt dieses Buches steht der Fall Aimée: Die Postangestellte Marguerite Pantaine hatte eine Bühnenschauspielerin mit einem Messer attackiert und war daraufhin psychiatrisiert worden. Jacques Lacan hatte sich der Patientin angenommen. Seine nun erstmals auf deutsch erscheinende Dissertation aus dem Jahre 1932 wurde damals mehr im sozialistischen und surrealistischen Milieu rezipiert als durch Wissenschaft und Psychiatrie. Das Werk gibt nicht nur einen umfassenden Überblick über die damaligen Bemühungen, die Paranoia und allgemein die Geisteskrankheiten zu erklären, sondern zeigt auch, dass schon der frühe Lacan mit der Anknüpfung an die phänomenologische Philosophie und Psychologie und an die Freudsche Psychoanalyse eine mutige und avancierte Position einnahm, die den Weg aus der Psychiatrie herauswies. Die Übersetzung folgt der von Jacques Lacan in seiner Reihe Le Champ freudien herausgegebenen Ausgabe, die durch die Ersten Schriften zur Paranoia ergänzt wird. Nicht zuletzt ist dieses Werk auch für die Kenntnis des Lacanschen Werdegangs unerlässlich.
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Autorenporträt
Jacques Lacan (1901-1981), ausgebildeter Mediziner mit dem Schwerpunkt Psychiatrie, praktizierender Psychoanalytiker seit 1938, hat nach Kriegsende insbesondere in seinem Seminar (1953-1980) als einer der führenden Ausbilder und theoretischen Köpfe der französischen Psychoanalyse gewirkt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Enten recken ihren Kragen in den Wind
Jacques Lacan hebt Freud aus den Angeln und wird Doktor der Medizin / Von Bettina Engels

Die Geschichte der Psychoanalyse steckt voller Anekdoten. Sie ranken sich oft um das Leben jener Patienten, die zu einem der berühmten "Fälle" der Psychoanalyse wurden. Manchmal werfen biographische Details, von deren Veröffentlichung der Autor aus diesen oder jenen Gründen abgesehen hatte, tatsächlich ein neues Licht auf den Krankheitsverlauf - so geschehen im Zuge der biographischen Nachforschungen, die sich an Freuds Schreber-Studie anschlossen. Der an Paranoia erkrankte Senatspräsident hatte nämlich einen berühmten Vater, Daniel Gottlob Moritz Schreber, den Erfinder der nach ihm benannten Schrebergärten, und dieser Volkspädagoge scheint in der Erziehung seines Sohnes einen Sadismus an den Tag gelegt zu haben, der nicht folgenlos blieb.

Als Anekdote von reinem Unterhaltungswert darf dagegen die biographische Entschlüsselung des "Falls Aimée", Lacans erster und wohl einziger großer Fallstudie, gelten. Die französischsprachige Öffentlichkeit wurde 1986 durch Elisabeth Roudinescos "Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich" über Aimées Identität aufgeklärt. Lacan selbst behauptete, erst 1953 erfahren zu haben, daß Didier Anzieu, zu diesem Zeitpunkt in Analyse bei Lacan und später selbst ein bekannter Psychoanalytiker, der Sohn jener Paranoikerin war, die 1931 unter ihrem Geburtsnamen Marguerite Pantaine in die Psychiatrie des Krankenhauses von Sainte-Anne eingewiesen wurde. Im strengen Sinne allerdings kann bei "Aimée" noch gar nicht von einem "psychoanalytischen Fall" die Rede sein, denn ihr behandelnder Arzt war damals gerade dabei, die Psychoanalyse zu entdecken. Lacans medizinische Dissertation "Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia" ist jetzt beim Wiener Passagen Verlag in deutscher Übersetzung erschienen.

Als Lacan das erste Mal Aimée zu Gesicht bekommt, ist sie bereits kuriert. Ihre Heilung gleicht einem Wunder. Nachdem sie vergeblich versucht hat, eine bekannte Pariser Schauspielerin zu erdolchen, von der sie sich und ihren Sohn verfolgt glaubt (Huguette Duflos alias "Mme Z."), verbringt sie zwei Monate im Gefängnis von Saint-Lazare. Am zwanzigsten Tag der Gefangenschaft fallen plötzlich "der ganze Wahn und all seine Themen, die Themen des altruistischen Idealismus und der Erotomanie ebenso wie die Themen der Verfolgung und der Eifersucht" von ihr ab. Lacan deutet diese Spontanremission als "Erkenntnis" und schließt von der "Natur der Heilung" auf die "Natur der Krankheit". In der abstoßenden Gesellschaft normaler Verbrecherinnen, verlassen von ihren Angehörigen, wird ihr schlagartig klar, daß "sie sich selbst getroffen hat". Die treibende Kraft oder "konkrete Tendenz" hinter den phantastischen Vorstellungen, die auf einmal wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen, beschreibt er als Wunsch nach Selbstbestrafung.

Aimées Krankengeschichte erfüllt für Lacan unterschiedliche Funktionen. Zunächst dient sie ihm dazu, die nosologische Einheit eines bestimmten Psychosentyps zu behaupten: die der sogenannten "Selbstbestrafungsparanoia". Darüber hinaus prädestinieren die Tatsache und die kathartische Form ihrer Heilung sie dafür, zur Waffe gegen die "psychiatrischen Dogmen" seiner Zeit zu werden. Lacan, ganz im Geiste des Surrealismus von der künstlerischen und philosophischen Bedeutung des Wahns überzeugt, bekämpft eine Psychiatrie, die den paranoischen Wahn darauf reduziert, nicht weiter verstehbare Folge einer organischen Krankheit oder einer "paranoischen Konstitution" zu sein.

Denn nach Lacans Auffassung kann ihm nur eine Theorie gerecht werden, die ihn als "Phänomen der Persönlichkeit" begreift. An eine in diesem Sinne auf die Persönlichkeit bezogene, "psychogenische" Theorie stellt Lacan drei Anforderungen: Sie müsse erstens die biographische Entwicklung einer Person als "verständlichen Zusammenhang" darstellen, zweitens deren "Selbstauffassung", jene "mehr oder weniger idealen Bilder", die jemand von sich hat, erhellen und drittens "Spannungen in den sozialen Beziehungen" der Person berücksichtigen. Damit hat Lacan das Rätsel des paranoischen Wahns psychoanalysekompatibel chiffriert; die Auflösung, die er sich in seiner Doktorarbeit einfallen läßt, wird ungemein folgenreich sein, denn sie hebt mit ein paar unauffälligen Handgriffen das von der Freudschen Lehre aufgestoßene Tor zum Unbewußten geradezu aus den Angeln.

Lacan tritt in einem Moment in den psychoanalytischen Diskurs ein, als sich das Interesse zunehmend von der neurotischen Verdrängung hin zur psychologischen Ökonomie der Psychosen verlagert. Nicht mehr das Schicksal unbewußter Triebregungen steht damit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern die Frage nach der Identität des Ichs. Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Versuch, den Wahn des Senatspräsidenten Schreber als Verleugnung einer homosexuellen Bindung an seinen Vater zu deuten, veranlassen Freud 1914, einen Begriff einzuführen, der die Architektur der Triebtheorie ins Wanken bringt: Der "Narzißmus" macht das Ich, bisher Gegenspieler der sexuellen Tendenzen des Subjekts, zu dessen Liebesobjekt, und sogar zu einem ausgezeichneten, dem allerersten nämlich.

Dieser Gedanke fasziniert Lacan, legt er doch die Zerbrechlichkeit und den erotischen Kern der Subjektivität offen. Freuds Theorie des Über-Ichs, wie er sie 1923 in "Das Ich und das Es" formuliert, trifft eine weitere "surrealistische" Intuition Lacans. Sie erlaubt es, den Menschen nicht nur als Produkt seiner eigenen Phantasie, sondern auch als das Opfer sozialer Zwänge anzusehen. Dieser Intuition gemäß modifiziert Lacan nun die von Freud vorgesehene Chronologie: Während Freud die Instanz des Über-Ichs aus dem Ich hervorgehen läßt, nachdem sich dieses vom Es differenziert habe, betrachtet Lacan die Einsetzung der Gewissensinstanz als Vorbedingung der Ich-Entwicklung. Er begründet seine "Korrektur" mit dem folgenden Argument: Um den Dualismus von Lustprinzip und Realitätsprinzip zu etablieren, die nach Freuds Lehre jeweils das Es beziehungsweise das Ich regieren, rekurriere dieser nämlich bereits auf das Ich als Subjekt der Erkenntnis. Nach Lacans Vorstellung läßt sich ein solcher Zirkelschluß hingegen nur vermeiden, wenn man das Realitätsprinzip und damit die Funktionsweise des Ichs als eine Synthese von Lustprinzip und sozialer Norm begreift. Die zweiseitige Abhängigkeit des Ichs, von der auch Freud ausgeht, findet sich dadurch genetisch bestätigt und zugleich radikalisiert.

Lacans Analyse der "Selbstbestrafungsparanoia" Aimées stellt eine kuriose Verbindung der Themen von Narzißmus, Über-Ich und Triebschicksal dar. Sie enthält bereits in Grundzügen seine Theorie der imaginären Ich-Identität, die er vier Jahre später auf dem Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Marienbad präsentieren wird. In der Gestalt der älteren Schwester verschmelzen für Aimée nämlich das geliebte Bild eines idealeren Selbst und die strafende Macht des Gewissens. Für das "Stadium der Über-Ich-Bildung", dessen libidinöse Organisation er hier zur "spezifischen Ursache" ihres Wahns erklärt, wird er 1936 den Begriff des "Spiegelstadiums" geprägt haben.

Der "Fall Aimée" war für den jungen Lacan wohl auch deshalb von besonderem Reiz, weil er seine romantische Vorstellung von der Produktivität der Psychose bestärkte. Die Postangestellte Marguerite Pantaine schrieb zwei Romane, deren (wenngleich unterschiedliche) ästhetische Qualität Lacan wiederholt hervorhebt. Mit der Auflösung ihres Wahns verebbt auch die literarische Produktion. Ganz nach dem Vorbild Freuds, der seine "Psychoanalytischen Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia" auf die Lektüre von Daniel Paul Schrebers "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" gründete, deutet Lacan in den Schriften Aimées die Zeichen der Paranoia und zitiert sie ausgiebig.

In diesen Passagen geht leider die Übersetzung, der von Anfang an allerlei Stilblüten, lexikalische Mißgriffe und grammatische Pannen unterlaufen, vollends baden. Über die Wendung, jemandem, dem ein Unrecht geschieht, "werde etwas zum Tort gemacht", läßt sich möglicherweise nach einem Blick in den Fremdwörterduden noch streiten. Daß die Enten wahrscheinlich nicht ihren "Kragen", sondern ihren "Hals" in den Wind recken, stört das Verständnis der Erzählung vielleicht ebensowenig wie die sich verlaufenden Kinder, die angeblich "in die Irre gehen", oder der Mann, der "aufs Wasser geht", statt zur See zu fahren. Gravierender wird die Verwirrung allerdings, wenn sich die Heldin fragt, "warum sie ihr ganzes Leben seine Aufwallungen aushalten" soll, während sie in Wirklichkeit genug davon hat, ihre eigenen zurückzuhalten, und so weiter.

Die Übersetzung ist also, gelinde gesagt, unzuverlässig. Und geradeso wie die Übersetzung scheint auch die völlig kommentarlose Edition wenig dazu angetan, der deutschen Lacan-Rezeption ihre kritiklose Schwärmerei abzugewöhnen (denn kein Nicht-Schwärmer wird das Buch in dieser Form durchlesen wollen). Mindestens um des Unterhaltungswertes willen hätte man doch auf ein, zwei gelüftete Geheimnisse hinweisen können, zumal die Quellen im allgemeinen nicht auf deutsch verfügbar sind. Durch Unterlassen entsteht der Lacan-typische Eindruck, diese gleichsam geniale und unausgegorene Arbeit stünde wie ein erratischer Block in der Landschaft.

Jacques Lacan: "Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia". Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Passagen Verlag, Wien 2001. 408 S., geb., 107,60 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für ein "schillerndes historisches Dokument" hält Rezensent Andreas Cremonini Lacans Dissertation aus dem Jahre 1932, in der der angehende Psychoanalytiker einen berühmten zeitgenössischen Fall von Paranoia behandelt. Ihre Spannung erhalte diese Arbeit, die den jungen Arzt über Nacht bei Surrealisten und Marxisten bekannt machte, daher, dass sich Lacan dem Fall von zwei gegensätzlichen Seiten nähert, erklärt Cremonini: dem psychiatrischen Determinismus der damaligen Zeit und der philosophischen Phänomenologie. Die freudsche Psychoanalyse spielt im eigentlichen Sinne keine Rolle, auch die für Lacan charakteristische Betonung des Sprachlichen fehle völlig. Doch vor allem in zweierlei Hinsicht findet Rezensent Cremonini die Arbeit aufschlussreich. So werde einerseits deutlich, dass Lacan zentrale Gedanken seiner Theorie weitgehend unabhängig von Freuds Psychoanalyse entwickelt hat. Andererseits zeige die Arbeit, dass Lacan nicht der Sprachstrukturalist gewesen sei, für den ihn die Rezeption gern genommen habe, wie Cremonini meint. Denn bereits in der "thèse" sei das Verhältnis zwischen Subjekt und Struktur nicht als einseitiger Determinismus konzipiert.

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