Über die Schrift hinaus heißt das neue Buch von Ulla Berkéwicz. Gründend auf das vedische, das jüdische und das mathematisch-topologische Wissen, formuliert es in zwei einander bespiegelnden, korrespondierenden Teilen die Aufforderung, wahrzunehmen, was unser Bewusstsein beschränkt.
In einer überwältigenden poetischen Phantasie überschreitet in der dreizehnten Stunde einer Faschingsdienstagnacht eine Dichterfürstin die Schwelle des Erzählens und ein Mathematikrebell die Zählbarkeit der Zahl. Das sprengt eine Potentaten-, Künstler- und Bürgergesellschaft aus ihrem Rahmen, so dass sie den beiden in ihre Vorstellungsfreiheit folgen kann. Die geistes- und naturwissenschaftlichen Grundgedanken für dieses anarchische Spektakel entwickelt eine so provokante wie kompromisslose Prosaschrift, die zeigt, was möglich ist, wenn wir unsere Wahrnehmung nicht auf unsere Sphäre der drei Dimensionen beschränken, sondern unseren Vorstellungen freien Lauf lassen in Bereiche, die von den Begriffen Raum und Zeit nicht begrenzt sind.
In einer überwältigenden poetischen Phantasie überschreitet in der dreizehnten Stunde einer Faschingsdienstagnacht eine Dichterfürstin die Schwelle des Erzählens und ein Mathematikrebell die Zählbarkeit der Zahl. Das sprengt eine Potentaten-, Künstler- und Bürgergesellschaft aus ihrem Rahmen, so dass sie den beiden in ihre Vorstellungsfreiheit folgen kann. Die geistes- und naturwissenschaftlichen Grundgedanken für dieses anarchische Spektakel entwickelt eine so provokante wie kompromisslose Prosaschrift, die zeigt, was möglich ist, wenn wir unsere Wahrnehmung nicht auf unsere Sphäre der drei Dimensionen beschränken, sondern unseren Vorstellungen freien Lauf lassen in Bereiche, die von den Begriffen Raum und Zeit nicht begrenzt sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2018Kabbala und Kybernetik
Ulla Berkéwicz moduliert in "Über die Schrift hinaus" die Grenzen der Wahrnehmung
Ein kleines Wortspiel, das die Richtung vorgibt: "Sagten und sangen sie so . . .", schreibt Ulla Berkéwicz in ihrem neuen Buch "Über die Schrift hinaus" und erinnert damit natürlich an Heiner Müllers unvergessenes Diktum: "Was man noch nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen." Irgendwo zwischen diesen Polen oszilliert die Wahrheit, nie leicht zu fassen, nicht in Worten oder in Klängen, aber im Doppelpass möglicherweise zumindest zu erahnen. Einen Gattungsbegriff hat dieser Text von Ulla Berkéwicz nicht, man könnte ihn am ehesten als eine "Grenzüberschreitung" bezeichnen, denn Fiktionen oder Tatsachen sind ihm lediglich das Material, aus dem die Autorin ihre Phantasien von einem Denkraum ohne einengende Kategorien und einer Wahrnehmung ohne narrative Demarkationslinien oder technokratische Zensur errichtet.
In zwei Teilen wandert sie mit großen, autarken, lässig unregelmäßig gesetzten Schritten durch zahlreiche bekannte wie exquisit abgelegene Wissensfelder. Im ersten Teil sind es etwa "Kirche, König, Kapital", die in poetisch-essayistischer Form gestreift und betrachtet werden, wobei es bei Berkéwicz nur einen Wimpernschlag von der Französischen Revolution bis zur Netzgesellschaft braucht und von der Kabbala bis zur Kybernetik, von den Frühromantikern bis zu "LSD-Aktivisten" oder vom Rabbi Löw bis zu Norbert Wiener. Von hebräischer Vernunft und griechischem Logos wird zum Darwinismus oder sogar zu Hitlers Lebensraumpolitik übergeleitet, nicht vergessend "kalifornische Eugeniker", die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verdrückten: "Als sie wieder auftauchten, benannte man die Eugenik in Humangenetik um."
Im Grunde sind es die ewigen Fragen, wie sich nämlich technische Entwicklungen und zivilisatorische Standards versöhnen können, die hier mit mäandernder Akribie und künstlerischer Emphase aufgeworfen werden. Im Wettkampf zwischen analogem und digitalem Weltverständnis plädiert Ulla Berkéwicz für eine Internationale des Zweifels und der Ungewissheit, für ungläubiges Fragen statt für beharrende Antworten, und vertraut auf den Zusammenschluss intellektueller wie emotionaler Kräfte, basierend auf der Tatsache, dass "die Menge aller Zahlen" mehr ist "als jede beliebige Zahl".
Die dichterische Kombination aus Traum und Realität, aus Mystik und Mathematik ist kühn und keck und natürlich so hochgespannt wie angreifbar. Ulla Berkéwicz geht trotz jedweder inhärenter Gefährdung ungeschützt aufs Ganze, weil ihr das sichere Halbherzige - man könnte es auch Halbgare nennen - einfach nicht genügt. Besonders deutlich wird diese kreativ-elegante Vermessenheit im zweiten Teil, der in Form eines turbulenten diskursiven Einakters in ein typisches Wiener Kaffeehaus führt und ungebundene Geister aller Art versammelt: Friederike Mayröcker und Ann Cotten, Maria Callas und Ingeborg Bachmann, Marylin Monroe und Romy Schneider, den Kellner Franz "mit einer Tellerpalatschinke auf der flachgehaltnen Hand" und den bereits in den vorherigen Abschnitten aufgetretenen geheimnisvollen russischen Mathematiker Grigori Jakowlewitsch Perelman. Da hebt sich dieses aufs schönste unlogische und aufs mutigste universale Traktat dann endgültig vom Boden ab und verwirbelt sich in einen theatralisch absurden Strudel aus Witz, Esprit und tieferer Bedeutung. Es flirrt, es glitzert, es regt an, es ruft nach der Bühne - vor allem im eigenen Kopf.
IRENE BAZINGER
Ulla Berkéwicz: "Über die Schrift hinaus".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 116 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulla Berkéwicz moduliert in "Über die Schrift hinaus" die Grenzen der Wahrnehmung
Ein kleines Wortspiel, das die Richtung vorgibt: "Sagten und sangen sie so . . .", schreibt Ulla Berkéwicz in ihrem neuen Buch "Über die Schrift hinaus" und erinnert damit natürlich an Heiner Müllers unvergessenes Diktum: "Was man noch nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen." Irgendwo zwischen diesen Polen oszilliert die Wahrheit, nie leicht zu fassen, nicht in Worten oder in Klängen, aber im Doppelpass möglicherweise zumindest zu erahnen. Einen Gattungsbegriff hat dieser Text von Ulla Berkéwicz nicht, man könnte ihn am ehesten als eine "Grenzüberschreitung" bezeichnen, denn Fiktionen oder Tatsachen sind ihm lediglich das Material, aus dem die Autorin ihre Phantasien von einem Denkraum ohne einengende Kategorien und einer Wahrnehmung ohne narrative Demarkationslinien oder technokratische Zensur errichtet.
In zwei Teilen wandert sie mit großen, autarken, lässig unregelmäßig gesetzten Schritten durch zahlreiche bekannte wie exquisit abgelegene Wissensfelder. Im ersten Teil sind es etwa "Kirche, König, Kapital", die in poetisch-essayistischer Form gestreift und betrachtet werden, wobei es bei Berkéwicz nur einen Wimpernschlag von der Französischen Revolution bis zur Netzgesellschaft braucht und von der Kabbala bis zur Kybernetik, von den Frühromantikern bis zu "LSD-Aktivisten" oder vom Rabbi Löw bis zu Norbert Wiener. Von hebräischer Vernunft und griechischem Logos wird zum Darwinismus oder sogar zu Hitlers Lebensraumpolitik übergeleitet, nicht vergessend "kalifornische Eugeniker", die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verdrückten: "Als sie wieder auftauchten, benannte man die Eugenik in Humangenetik um."
Im Grunde sind es die ewigen Fragen, wie sich nämlich technische Entwicklungen und zivilisatorische Standards versöhnen können, die hier mit mäandernder Akribie und künstlerischer Emphase aufgeworfen werden. Im Wettkampf zwischen analogem und digitalem Weltverständnis plädiert Ulla Berkéwicz für eine Internationale des Zweifels und der Ungewissheit, für ungläubiges Fragen statt für beharrende Antworten, und vertraut auf den Zusammenschluss intellektueller wie emotionaler Kräfte, basierend auf der Tatsache, dass "die Menge aller Zahlen" mehr ist "als jede beliebige Zahl".
Die dichterische Kombination aus Traum und Realität, aus Mystik und Mathematik ist kühn und keck und natürlich so hochgespannt wie angreifbar. Ulla Berkéwicz geht trotz jedweder inhärenter Gefährdung ungeschützt aufs Ganze, weil ihr das sichere Halbherzige - man könnte es auch Halbgare nennen - einfach nicht genügt. Besonders deutlich wird diese kreativ-elegante Vermessenheit im zweiten Teil, der in Form eines turbulenten diskursiven Einakters in ein typisches Wiener Kaffeehaus führt und ungebundene Geister aller Art versammelt: Friederike Mayröcker und Ann Cotten, Maria Callas und Ingeborg Bachmann, Marylin Monroe und Romy Schneider, den Kellner Franz "mit einer Tellerpalatschinke auf der flachgehaltnen Hand" und den bereits in den vorherigen Abschnitten aufgetretenen geheimnisvollen russischen Mathematiker Grigori Jakowlewitsch Perelman. Da hebt sich dieses aufs schönste unlogische und aufs mutigste universale Traktat dann endgültig vom Boden ab und verwirbelt sich in einen theatralisch absurden Strudel aus Witz, Esprit und tieferer Bedeutung. Es flirrt, es glitzert, es regt an, es ruft nach der Bühne - vor allem im eigenen Kopf.
IRENE BAZINGER
Ulla Berkéwicz: "Über die Schrift hinaus".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 116 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Friedrich Wilhelm Graf lernt Ulla Berkewicz als Romantikerin kennen in ihrer Kulturkritik "Über die Schrift hinaus". Der "Komputer" (sic), der "Golem unserer Tage", manipuliere unser Leben zunehmend, die enthemmten, ichbezogenen "Nerds" aus dem Silicon Valley verkünden indes eine neue "Übermenschenideologie", "rassistisch" und "amerikanisch konsumtiv", liest Graf bei Berkewicz. Natürlich weiß die Verlegerin, wo Abhilfe zu finden ist, so der Kritiker: Mit Verweisen auf den Kybernetiker Norbert Wiener, den Informatiker Joseph Weizenbaum und den russisch-jüdischen Mathematiker Grigori Jakowlewitsch Perelman empfehle die Autorin "Versenkung", so der Rezensent weiter, der schließlich etwas ratlos mit Berkewicz, den Romanows, Maria Callas und der "Romysissy" im Wiener Cafehaus landet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dieses Buch ist ... eine fantastische Übertreibung dessen, was Prosa bisher wagte, eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren.« Daniela Dahn der Freitag 20181004