Vor dem Hintergrund einer Radikalisierung der politischen Systeme in Europa fragt Simone Weil 1934 nach den Ursachen des überall um sich greifenden Unbehagens. Warum leben wir in einer ungerechten Gesellschaft, in der der Einzelne nicht frei und zufrieden sein kann? Weil wir uns nach Simone Weil zu Instrumenten der von uns selbst produzierten Herrschaft machen. Aus einer marxismuskritischen Perspektive erforscht sie die Verbindung von wachsender Unterdrückung und wachsender wirtschaftlicher Prosperität. Welchen Preis zahlt das Kollektiv für den Glauben an ewiges Wachstum und immer weiter gesteigerte Produktivität? Den Preis der Freiheit und der Eigenverantwortung, sagt Weil, einen Preis, den zu bezahlen wir nicht bereit sein sollten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2012Schwere Geburt
Im Juni 1934 fasst Simone Weil dieKomposition ihres grand oeuvre, "Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung", in ein vielsagendes Bild: "Ich fühle mich wie eine Gebärende", schreibt sie, der Essay sei eine "schwere Geburt". Das überrascht kaum, hatte Weil sich doch - vor dem Hintergrund der damals in Frankreich zunehmend radikaler werdenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen - sowohl eine Kritik des Marxismus als auch eine Bestandsaufnahme der "geistigen Situation der Zeit" vorgenommen, die schließlich in einen neu gedachten Entwurf einer freien Gesellschaft münden sollten. Als größte kommunistische Fehleinschätzung identifizierte Weil die Annahme, die Ursache der Unterdrückung allein in den Produktionsverhältnissen zu finden. Dagegen wollte sie "die objektiven Bedingungen einer von Unterdrückung absolut freien Gesellschaftsorganisation als idealen Grenzwert bestimmen". Dieses Ideal wollte Weil in einem ausgeglichenen Verhältnis von Denken und Handeln sehen, das dafür sorgen sollte, den im Rahmen materieller Produktion aufgeworfenen Problemen bereits alle Elemente ihrer methodischen Lösung entnehmen zu können. Freies Handeln ist dabei für sie autarkes, von anderen unabhängiges Handeln. Die Produktionsverhältnisse bleiben auch in Weils Analyse von Bedeutung, wobei jedoch die Beziehung des Arbeiters zu seiner Arbeit darüber bestimmt, welches Maß an Freiheit er verwirklichen kann. Im Dezember 1934 machte sie mit ihrer These Ernst und nahm eine Stelle als Fließbandarbeiterin an. Die Publikation des Essays, der nun erstmals auf Deutsch vorliegt, erlebte sie wegen ihres frühen Todes 1943 nicht mehr. (Simone Weil: "Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung". Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Diaphanes Verlag, Zürich 2012. 128 S., br., 14,90 [Euro].) kala
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Juni 1934 fasst Simone Weil dieKomposition ihres grand oeuvre, "Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung", in ein vielsagendes Bild: "Ich fühle mich wie eine Gebärende", schreibt sie, der Essay sei eine "schwere Geburt". Das überrascht kaum, hatte Weil sich doch - vor dem Hintergrund der damals in Frankreich zunehmend radikaler werdenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen - sowohl eine Kritik des Marxismus als auch eine Bestandsaufnahme der "geistigen Situation der Zeit" vorgenommen, die schließlich in einen neu gedachten Entwurf einer freien Gesellschaft münden sollten. Als größte kommunistische Fehleinschätzung identifizierte Weil die Annahme, die Ursache der Unterdrückung allein in den Produktionsverhältnissen zu finden. Dagegen wollte sie "die objektiven Bedingungen einer von Unterdrückung absolut freien Gesellschaftsorganisation als idealen Grenzwert bestimmen". Dieses Ideal wollte Weil in einem ausgeglichenen Verhältnis von Denken und Handeln sehen, das dafür sorgen sollte, den im Rahmen materieller Produktion aufgeworfenen Problemen bereits alle Elemente ihrer methodischen Lösung entnehmen zu können. Freies Handeln ist dabei für sie autarkes, von anderen unabhängiges Handeln. Die Produktionsverhältnisse bleiben auch in Weils Analyse von Bedeutung, wobei jedoch die Beziehung des Arbeiters zu seiner Arbeit darüber bestimmt, welches Maß an Freiheit er verwirklichen kann. Im Dezember 1934 machte sie mit ihrer These Ernst und nahm eine Stelle als Fließbandarbeiterin an. Die Publikation des Essays, der nun erstmals auf Deutsch vorliegt, erlebte sie wegen ihres frühen Todes 1943 nicht mehr. (Simone Weil: "Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung". Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Diaphanes Verlag, Zürich 2012. 128 S., br., 14,90 [Euro].) kala
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»Weils Essay hat nichts von seiner Aktualität verloren. Ein Buch für Leute, die ihre Lust am Selberdenken auffrischen wollen.« Uli Müller, ZEIT online