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Globale Migrations- und Fluchtbewegungen prägen gegenwärtig politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatten. Bildete Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs eine der größten flüchtlingsgenerierenden Regionen, steht es heute vor allem als Ziel weltweiter Migration im Fokus. Der Sammelband bietet auf aktuellem Forschungsstand ein breites Panorama an zeithistorischen, politik- und sozialwissenschaftlichen Beiträgen. Sie diskutieren kontroverse Begriffe wie "Arbeits- und Wirtschaftsmigration", "Zwangsmigration" und "politische Flucht", analysieren Netzwerke, Infrastrukturen und Akteure…mehr

Produktbeschreibung
Globale Migrations- und Fluchtbewegungen prägen gegenwärtig politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatten. Bildete Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs eine der größten flüchtlingsgenerierenden Regionen, steht es heute vor allem als Ziel weltweiter Migration im Fokus. Der Sammelband bietet auf aktuellem Forschungsstand ein breites Panorama an zeithistorischen, politik- und sozialwissenschaftlichen Beiträgen. Sie diskutieren kontroverse Begriffe wie "Arbeits- und Wirtschaftsmigration", "Zwangsmigration" und "politische Flucht", analysieren Netzwerke, Infrastrukturen und Akteure verschiedener Migrationsregime und fragen nach Konzepten und Praktiken politischer Steuerung. Mit Fallbeispielen zu Europa, Nord-, Mittel- und Südamerika, zu Afrika, Asien und dem Nahen Osten vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart leistet der Band einen fundierten und facettenreichen Beitrag zu einem hochaktuellen Forschungsfeld.

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Autorenporträt
Prof. Dr. phil. habil. Jochen Oltmer, geb. 1965, ist apl. Professor für Migrationsgeschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Er arbeitet zu deutschen, europäischen und globalen Migrationsverhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart, leitet mehrere Forschungsprojekte und ist Mitglied zahlreicher Beiräte, insbesondere von Museen und Ausstellungsprojekten.

Dr. Agnes Bresselau von Bressensdorf ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des Berliner Kollegs Kalter Krieg am Institut für Zeitgeschichte München - Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2020

Wissenschaftlich Flagge zeigen
Versuch einer historischen Einordnung des Migrationsgeschehens seit 1945

Seit 2015 ist Migration in Politik, Medien und Gesellschaft der Bundesrepublik wieder ein ebenso zentrales wie kontrovers diskutiertes Thema. Vier Merkmale der Diskussion sollen herausgegriffen werden. Erstens stehen die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen und die Folgen für die Asyl- und Schutzsuchenden sowie die deutsche Gesellschaft im Mittelpunkt. Zwischen unterschiedlichen Formen von Migration wird dabei in der Regel nicht unterschieden. Zweitens zeichnet die Debatten eine starke Polarisierung aus. Einerseits wird Migration als Armutsmigration, als Einwanderung in die Sozialsysteme oder als Bedrohung der inneren und äußeren Sicherheit, also vor allem als Gefahr wahrgenommen, die es abzuwehren gilt. Im Gegensatz dazu steht die Auffassung, Zuwanderung sei ein unverzichtbares Instrument, um die Nachfrage der Wirtschaft nach Arbeitskräften zu decken sowie die Sozialsysteme und den Wohlstand des Landes sichern zu können. Die Diskurse über Migration weisen drittens eine nationale Engführung aus: Was schadet oder nutzt der deutschen Gesellschaft?

Länder der EU, Europas und darüber hinaus sind nur dann ein Thema, wenn sie dazu dienen, den einen oder anderen Standpunkt - Gefahr oder Nutzen - zu untermauern. Der Blick über den Tellerrand könnte helfen, Ursachen für Migrationen zu erkennen und Maßstäbe zu finden, um das Migrationsgeschehen in Deutschland, Europa oder global allein schon quantitativ einordnen zu können. Schließlich charakterisiert viertens die fehlende historische Tiefenschärfe die Auseinandersetzungen. Das Hier und Heute ist der alles bestimmende Gradmesser, wenn über Migration diskutiert und gestritten wird. Selbst die jüngere Zuwanderungsgeschichte der Bundesrepublik wird ausgeblendet, von früheren Epochen ganz zu schweigen. Damit erscheint Migration als ein allein die deutsche Gegenwart bestimmendes Phänomen, das deshalb in der Gesellschaft als außergewöhnlich, vor allem als bedrohlich wahrgenommen wird.

Vor diesem Hintergrund ist die Publikation zu sehen, die Agnes Bresselau von Bressensdorf herausgegeben hat und in die sie umsichtig einführt. Der Band geht auf eine Tagung des Instituts für Zeitgeschichte in München von Ende 2016 zurück, das damit bei diesem gesellschaftspolitisch brisanten Thema wissenschaftlich Flagge zeigt. Der Band greift die kontroversen tagesaktuellen Debatten mit dem Ziel auf, sie in längerfristige Entwicklungen einzuordnen, um so die historische Tiefendimension gegenwärtiger Migrationsfragen herausarbeiten zu können. Sein klug gewählter Titel ist ein auf den Punkt gebrachtes Programm. "Über Grenzen" geht die Publikation in mehrfacher Hinsicht - inhaltlich, zeitlich, geographisch und methodisch - und stößt zugleich an Grenzen.

Inhaltlich fußt der Band auf der wissenschaftlich zweifelsfreien, aber in der Öffentlichkeit noch nicht geläufigen Erkenntnis, dass Bevölkerungsbewegungen in der Geschichte nicht nur allgegenwärtige gesellschaftliche Phänomene sind, sondern diese auch in hohem Maß prägen. Migrationen sind der Normalfall und nicht die Ausnahme in der Geschichte. Sie erfolgen, ohne dass zwischen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit klar getrennt werden könnte, immer über Grenzen - festgesetzte und angenommene, deutlich markierte oder äußerlich unsichtbare. Entsprechend dem gegenwärtigen Stand der Forschung unterscheidet der Band zwischen Wanderungsbewegungen im Allgemeinen sowie Flucht- und Gewaltmigration.

Zeitlich umspannt der chronologisch und systematisch strukturierte Band die Zeit von 1945 bis in die Gegenwart. Dabei unterscheidet er mehrere Phasen, von den Nachkriegsmigrationen über die Wanderungsbewegungen während des Kalten Krieges, die angenommene Globalisierung der Migrations- und Fluchtbewegungen seit Mitte der 1970er Jahre bis hin zu jenen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Ob damit, wie es in der Einführung heißt, Deutschland und Europa wieder ins Zentrum des globalen Migrationsgeschehens rückten, darf bezweifelt werden. Ebenso kann bei allen Merkmalen, die die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als eigene Phase in der neueren Migrationsgeschichte erscheinen lassen, dennoch nicht übersehen werden, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs eine willkürlich gesetzte zeitliche Grenze ist, wenn das globale Flucht- und Migrationsgeschehen untersucht wird. Gleich mehrere Beiträge verdeutlichen das: Der Nationalstaat war schon vor 1945 ein zentraler Akteur im Rahmen der globalen Migrationen (Randall Hansen); Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg sind ohne den Krieg nicht zu verstehen und stehen in ihrer Begründung, Planung und auch Durchführung in der Tradition der seit dem 19. Jahrhundert stattfindenden ethnischen Säuberungen (Michael Schwartz); humanitäre Flüchtlingshilfe hat seit 70 Jahren sicher einen besonderen Stellenwert erhalten, ihre Wurzeln reichen aber mindestens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück (Peter Gatrell); und Zwangsmigration wurde nicht zum ersten Mal im Kosovo-Konflikt als politische Waffe eingesetzt (Kelly M. Greenhill), sondern ist ein Instrument mit einer weit zurückreichenden Geschichte.

Geographisch betrachtet, geht der Band weit über die in der deutschen Forschung bestehenden Grenzen hinaus. Hier liegt sicher eine Stärke dieses globalen Migrationsmosaiks, das die Beiträge insgesamt bieten. Wesentliche Aspekte der deutschen Migrationsgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Flucht und Vertreibung der Deutschen, Flucht aus der DDR, Arbeitsmigration in die Bundesrepublik und die DDR, Aufnahme von politischen Flüchtlingen, Bürgerkriegsflüchtlingen, Asylsuchenden) werden in das europäische Migrationsgeschehen eingebunden. Zudem erweitert der Band mit seinen Fallbeispielen aus dem Nahen Osten (kurdische Flüchtlinge), aus Asien (vietnamesische Boat People), Lateinamerika (Flüchtlinge aus Chile), Afrika (Lager) und den Vereinigten Staaten (Arbeitsmigranten) seine Perspektive weit über Europa hinaus. Der begrüßenswerte globale Ansatz lässt Verbindungen zwischen einzelnen Migrationsbewegungen, bezogen auf ihre Motive, den Verlauf und die Auswirkungen, erkennen. Dennoch scheinen Wechselwirkungen zwischen Entwicklungen in Deutschland, Europa und global nur ab und zu durch, was sicher auch dem Forschungsstand geschuldet ist.

Auch methodisch überschreitet die Publikation Grenzen. Sie argumentiert gegen die nach wie vor in fachspezifischen Bahnen verlaufende Migrationsforschung und leistet damit einen wichtigen Beitrag, um die Verinselung der Forschung zu überwinden. Forschungsgeschichtliche Überblicke zur deutschen historischen Migrationsforschung (Jochen Oltmer) und zur Migrationsforschung in der deutschen Politikwissenschaft (Ursula Münch) sowie der Versuch einer politischen Theorie des Flüchtlings als Grenzsubjekt (Julia Schulze Wessel) eröffnen den Band. Neben thematisch ausgerichteten Überblicksdarstellungen, unter anderem zur Aufnahme politischer Flüchtlinge in der Bundesrepublik und der DDR (Helge Heidemeyer) und zur Europäisierung der Migrationspolitik (Marcel Berlinghoff), finden sich Fallstudien zur Rolle der Medien im Rahmen der Hungerkrisen in Äthiopien in den 1970er Jahren (Tobias Hof), zu transnationalen Netzwerken kurdischer Flüchtlinge (Birgit Amman) oder zur Kriminalisierung mexikanischer Arbeitsmigranten in den Vereinigten Staaten (Susanne Gratius). Manche beleuchten Migrationen aus staatlicher Perspektive, andere betonen, was es hervorzuheben gilt, die aktive Rolle der Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten bei Wanderungsbewegungen, die als Aushandlungsprozess verstanden werden (Ulrike Krause). Die meisten Beiträge schöpfen aus bereits vorliegenden Studien, nur wenige fußen auf neueren Archivstudien.

Mit dem Band liegt eine gelungene und aktuelle Bestandsaufnahme vor, die Ansätze und Perspektiven einer global ausgerichteten Migrationsforschung verbindet sowie deren gegenwärtige thematische Schwerpunkte und hochgradigen Spezialisierungsgrad erkennen lässt. Zugleich verdeutlicht er die bestehenden Hindernisse einer fächerübergreifenden und global ausgerichteten Migrationsforschung sowie die Schwierigkeiten, Erkenntnisse der Forschung in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs einfließen zu lassen. In den gesellschaftspolitischen Debatten spielen nämlich die wichtigen Ergebnisse, wie sie der vorliegende Band bietet, so gut wie keine Rolle.

MATHIAS BEER

Agnes Bresselau von Bressensdorf (Hrsg.): Über Grenzen. Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945.

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019. 418 S., 60,- [Euro].

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