Der vorliegende Band enthält Foucaults Einleitung zur amerikanischen Ausgabe, Herculine Barbins Erinnerungen, Oskar Panizzas literarische Bearbeitung dieses Stoffs, ein von Foucault erstelltes Dossier mit Gutachten und Dokumenten zum historischen Fall und ein Nachwort der Herausgeber.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.1999Und Mediziner stehn und sehn mich an
Wie Herculine, das arme Kind, zum Mann gemacht wurde: Ein Fall für Michel Foucault
Als Michel Foucault in den fünfziger Jahren sein Buch über "Wahnsinn und Gesellschaft" schrieb, arbeitete er in den Archiven des Arsenals und der Bastille. Hier entstand der Plan, eine Anthologie all jener Schriftstücke zu veröffentlichen, die ihn faszinierten: Lebenserzählungen aus juristischen Urteilen und Internierungsregistern, Bruchstücke von Geschichten im verborgenen, angetroffen im Zufall der Bücher und der Dokumente. Der Band sollte in der von Pierre Nora herausgegebenen Reihe der "Archives" bei Julliard erscheinen, kam aber nie zustande.
Etwa zwanzig Jahre später nahm Foucault mit seiner Dokumentation über den Familienmörder Pierre Rivière die Idee der Fallsammlung wieder auf. Er stellte ein Dossier zusammen, das neben den autobiographischen Erinnerungen des jungen Bauernsohnes medizinische und juristische Gutachten enthielt, die ein Fachorgan für öffentliche Hygiene und Gerichtsmedizin 1836 dokumentiert hatte. Am Beispiel Rivières konnten die engen Verstrickungen von Psychiatrie und Strafjustiz im neunzehnten Jahrhundert entwickelt werden: Diskurse spielten hier zusammen, die als Instrumente eingesetzt wurden, als Angriffs- und Verteidigungswaffen in den Beziehungen der Macht und des Wissens.
Die Formung der Fallgeschichte zum Genre gehört sicher zu den interessantesten Unternehmungen im Werk Foucaults. Erstaunen mag es deshalb, daß eine andere Geschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert, die der Philosoph im Zuge seiner Arbeit an der "Geschichte der Sexualität" entdeckte und bereits Ende der siebziger Jahre publizierte, in Deutschland bisher unbeachtet blieb: der Fall des Hermaphroditen Herculine Barbin. Zusammen mit einem ergänzenden Dokument über "Hermaphrodismus beim Menschen" von 1902 und einem umfangreichen Nachwort haben Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl diese Akte Foucaults jetzt in einer deutschen Ausgabe zugänglich gemacht.
Herculine Barbin, von ihrer Umgebung Alexina genannt, wurde in einem fast ausschließlich weiblichen und religiösen Umfeld aufgezogen, arbeitete als Zimmermädchen und leitete später, nach ihrer Ausbildung zur Lehrerin, ein Mädchenpensionat. Dort fand sie die Liebe ihres Lebens. Ausgelöst durch eine medizinische Untersuchung, folgte dieser jedoch die Entdeckung ihres "wahren Geschlechts": Herculine wurde zu Abel Barbin gemacht, zum Mann und zu einem Verwaltungsangestellten der französischen Eisenbahn. Außerstande, sich an die neue Identität zu gewöhnen, nahm er sich 1868 im Alter von dreißig Jahren das Leben.
Auch der Hermaphrodit Barbin hat kurz vor seinem Tod seine Erinnerungen niedergeschrieben. Sie sind - wie schon bei Pierre Rivière - das Dokument einer Schicksalsgeschichte, die im Spannungsfeld zwischen Medizin und Justiz entschieden wurde. Wiederholt spricht Barbin von dem frühen Unbehagen, sich vor den Augen der Mitschülerinnen entkleiden zu müssen, von der Scham über zu starke Behaarung an Armen und Beinen und dem leichten Flaum auf der Oberlippe. Die Äußerungen über anatomische Besonderheiten der Geschlechtsteile dagegen bleiben bloße Andeutungen.
Dieser Verschleierung des Geschlechts in der Autobiographie war zum Zeitpunkt der Erzählung seine "Entdeckung" bereits vorangegangen. Oskar Panizza, den die Erinnerungen des Hermaphroditen 1893 zu einem literarischen Text inspirierten, stilisierte sie zu einer Szenerie des Skandals. Er erfand eine ganze Landschaft perverser Galanterien, um seine Erzählung dann in der voyeuristisch angelegten Passage des alles entscheidenden Arztbesuches kulminieren zu lassen: Nur durch einen Türspalt blickt der Leser in das Halbdunkel des Untersuchungszimmers und lauscht dem Gemurmel des Arztes, schließlich dem Stöhnen und Wimmern Alexinas. Das Ganze erhält hier das Parfüm des achtzehnten Jahrhunderts. Diderot und sein Briefroman "Die Nonne" sind nicht weit.
"Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht?", so fragt Foucault und beschwört nicht ohne Pathos den "glücklichen Limbus einer Nicht-Identität". Um 1860 schufen die medizinischen Expertisen Evidenzen. Die definierten das zweideutige Geschlecht Alexinas als "männlichen Zwitter" und legten damit unwiderruflich das eine, "wahre" Geschlecht fest, dem die juristische Modifizierung des Personenstandes folgte. "Jedem seine ursprüngliche, eigentliche, festgelegte und ausschlaggebende sexuelle Identität", das war die Maxime, die aus medizinischer und juristischer Sicht bereits seit dem achtzehnten Jahrhundert gelten sollte. In ihrem Nachwort rekonstruieren Schäffner und Vogl die Vorgeschichte solcher Prämissen und schlagen einen Bogen bis zu den "Gender"-Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts. Die "Wahrheit" des Geschlechts machen sie als diskursives Produkt kenntlich, das genau dort entsteht, wo die Disziplinierung des Körpers mit einer Kontrolle der Bevölkerung zusammentrifft.
"Bei den Begriffen Sex und Sexualität", so formulierte es Foucault im Zusammenhang seiner Arbeit "Der Wille zum Wissen", "handelt es sich um überladene, heiße Begriffe, die benachbarte Begriffe leicht in den Schatten stellen." Er unterstrich dabei, daß ihm Sexualität nur ein Beispiel für ein allgemeines Problem sei, das alle seine Bücher bestimme: die Frage, wie in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die - zumindest für eine bestimmte Zeit - mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden ist. Zusammen mit der Historikerin Arlette Farge ging er ebendieser Frage wenige Jahre später anhand einer weiteren Fallsammlung nach. Es waren die "Lettres de cachet", Briefe aus den Archiven der Bastille im achtzehnten Jahrhundert. Sie realisierten seinen ersten Entwurf zum Genre der Fallgeschichte. JULIA ENCKE
Michel Foucault: "Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin". Herausgegeben von Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Aus dem Französischen von Wolfgang Schäffner und Annette Wunschel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 248 S., br., 19,80 DM.
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Wie Herculine, das arme Kind, zum Mann gemacht wurde: Ein Fall für Michel Foucault
Als Michel Foucault in den fünfziger Jahren sein Buch über "Wahnsinn und Gesellschaft" schrieb, arbeitete er in den Archiven des Arsenals und der Bastille. Hier entstand der Plan, eine Anthologie all jener Schriftstücke zu veröffentlichen, die ihn faszinierten: Lebenserzählungen aus juristischen Urteilen und Internierungsregistern, Bruchstücke von Geschichten im verborgenen, angetroffen im Zufall der Bücher und der Dokumente. Der Band sollte in der von Pierre Nora herausgegebenen Reihe der "Archives" bei Julliard erscheinen, kam aber nie zustande.
Etwa zwanzig Jahre später nahm Foucault mit seiner Dokumentation über den Familienmörder Pierre Rivière die Idee der Fallsammlung wieder auf. Er stellte ein Dossier zusammen, das neben den autobiographischen Erinnerungen des jungen Bauernsohnes medizinische und juristische Gutachten enthielt, die ein Fachorgan für öffentliche Hygiene und Gerichtsmedizin 1836 dokumentiert hatte. Am Beispiel Rivières konnten die engen Verstrickungen von Psychiatrie und Strafjustiz im neunzehnten Jahrhundert entwickelt werden: Diskurse spielten hier zusammen, die als Instrumente eingesetzt wurden, als Angriffs- und Verteidigungswaffen in den Beziehungen der Macht und des Wissens.
Die Formung der Fallgeschichte zum Genre gehört sicher zu den interessantesten Unternehmungen im Werk Foucaults. Erstaunen mag es deshalb, daß eine andere Geschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert, die der Philosoph im Zuge seiner Arbeit an der "Geschichte der Sexualität" entdeckte und bereits Ende der siebziger Jahre publizierte, in Deutschland bisher unbeachtet blieb: der Fall des Hermaphroditen Herculine Barbin. Zusammen mit einem ergänzenden Dokument über "Hermaphrodismus beim Menschen" von 1902 und einem umfangreichen Nachwort haben Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl diese Akte Foucaults jetzt in einer deutschen Ausgabe zugänglich gemacht.
Herculine Barbin, von ihrer Umgebung Alexina genannt, wurde in einem fast ausschließlich weiblichen und religiösen Umfeld aufgezogen, arbeitete als Zimmermädchen und leitete später, nach ihrer Ausbildung zur Lehrerin, ein Mädchenpensionat. Dort fand sie die Liebe ihres Lebens. Ausgelöst durch eine medizinische Untersuchung, folgte dieser jedoch die Entdeckung ihres "wahren Geschlechts": Herculine wurde zu Abel Barbin gemacht, zum Mann und zu einem Verwaltungsangestellten der französischen Eisenbahn. Außerstande, sich an die neue Identität zu gewöhnen, nahm er sich 1868 im Alter von dreißig Jahren das Leben.
Auch der Hermaphrodit Barbin hat kurz vor seinem Tod seine Erinnerungen niedergeschrieben. Sie sind - wie schon bei Pierre Rivière - das Dokument einer Schicksalsgeschichte, die im Spannungsfeld zwischen Medizin und Justiz entschieden wurde. Wiederholt spricht Barbin von dem frühen Unbehagen, sich vor den Augen der Mitschülerinnen entkleiden zu müssen, von der Scham über zu starke Behaarung an Armen und Beinen und dem leichten Flaum auf der Oberlippe. Die Äußerungen über anatomische Besonderheiten der Geschlechtsteile dagegen bleiben bloße Andeutungen.
Dieser Verschleierung des Geschlechts in der Autobiographie war zum Zeitpunkt der Erzählung seine "Entdeckung" bereits vorangegangen. Oskar Panizza, den die Erinnerungen des Hermaphroditen 1893 zu einem literarischen Text inspirierten, stilisierte sie zu einer Szenerie des Skandals. Er erfand eine ganze Landschaft perverser Galanterien, um seine Erzählung dann in der voyeuristisch angelegten Passage des alles entscheidenden Arztbesuches kulminieren zu lassen: Nur durch einen Türspalt blickt der Leser in das Halbdunkel des Untersuchungszimmers und lauscht dem Gemurmel des Arztes, schließlich dem Stöhnen und Wimmern Alexinas. Das Ganze erhält hier das Parfüm des achtzehnten Jahrhunderts. Diderot und sein Briefroman "Die Nonne" sind nicht weit.
"Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht?", so fragt Foucault und beschwört nicht ohne Pathos den "glücklichen Limbus einer Nicht-Identität". Um 1860 schufen die medizinischen Expertisen Evidenzen. Die definierten das zweideutige Geschlecht Alexinas als "männlichen Zwitter" und legten damit unwiderruflich das eine, "wahre" Geschlecht fest, dem die juristische Modifizierung des Personenstandes folgte. "Jedem seine ursprüngliche, eigentliche, festgelegte und ausschlaggebende sexuelle Identität", das war die Maxime, die aus medizinischer und juristischer Sicht bereits seit dem achtzehnten Jahrhundert gelten sollte. In ihrem Nachwort rekonstruieren Schäffner und Vogl die Vorgeschichte solcher Prämissen und schlagen einen Bogen bis zu den "Gender"-Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts. Die "Wahrheit" des Geschlechts machen sie als diskursives Produkt kenntlich, das genau dort entsteht, wo die Disziplinierung des Körpers mit einer Kontrolle der Bevölkerung zusammentrifft.
"Bei den Begriffen Sex und Sexualität", so formulierte es Foucault im Zusammenhang seiner Arbeit "Der Wille zum Wissen", "handelt es sich um überladene, heiße Begriffe, die benachbarte Begriffe leicht in den Schatten stellen." Er unterstrich dabei, daß ihm Sexualität nur ein Beispiel für ein allgemeines Problem sei, das alle seine Bücher bestimme: die Frage, wie in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die - zumindest für eine bestimmte Zeit - mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden ist. Zusammen mit der Historikerin Arlette Farge ging er ebendieser Frage wenige Jahre später anhand einer weiteren Fallsammlung nach. Es waren die "Lettres de cachet", Briefe aus den Archiven der Bastille im achtzehnten Jahrhundert. Sie realisierten seinen ersten Entwurf zum Genre der Fallgeschichte. JULIA ENCKE
Michel Foucault: "Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin". Herausgegeben von Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Aus dem Französischen von Wolfgang Schäffner und Annette Wunschel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 248 S., br., 19,80 DM.
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