»Das Dasein ist für den Juden eine zu heiligende Aufgabe, kein Provisorium, sondern ein auszufüllender Rahmen, eine Herausforderung, auf die wir mit all unserem Wissen antworten müssen.« »Worin besteht dein Judentum, wenn es sich dabei um keine Religion und keine traditionelle Gemeinschaft handelt?« Diese Frage seines Schriftstellerkollegen Amoz Oz bezeichnet den Urgrund einer Untersuchung in Essays, mit denen György Konrád nach allen Seiten des Judentums Ausschau hält: nach Wurzeln des Jüdischen, nach familiären Erinnerungsdepots, nach der Bedeutung von Gemeinschaft als Lebensstrategie, nach dem Ort des absoluten Verbrechens in Auschwitz, nach einem Weltvolk in Nationalstaaten, aber auch nach den charakteristischen Tugenden und Fehlern des Judentums. Es wäre kein Konrádsches Buch ohne den zugleich melancholisch gefärbten und doch ruhig-hoffnungsvollen Blick über das Kreisen der Reflexionen hinaus. Auf Personen, Orten und Stätten ruht dieser Blick, in denen jüdisches Erbe fortlebt: im Bannkreis der Weltstadt so gut wie in der intimen Provinz eines heimatlichen Dorfes oder eines vertrauten Herzens.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die eigene Geschichte verpflichtet, meint Ilma Rakusa, und György Konrád verpflichtet sie gleich in mehrfacher Hinsicht: Als Überlebenden, als Juden, als Ungarn. In seinen zwanzig Essays "Über Juden" wird Konrád diesem Anspruch mehr als gerecht, findet die Rezensentin. Sie kreisen um Fragen der jüdischen Identität in der Diaspora, darum, wie jüdisches Leben außerhalb der religiösen Gemeinschaft zu denken ist, quasi mit einem "mobilen Gott", fasst Rakusa zusammen. Der Autor rufe in seinen Essays aber auch zur Zivilcourage in der Gegenwart auf, was die Rezensentin angesichts des wieder aufkeimenden Antisemitismus in Ungarn sehr wichtig und bewundernswert findet. "Keine Selbstverleugnung, keine falschen Rücksichten, keine Selbsttäuschung", fordert sie gemeinsam mit Konrád. Rakusa freut sich über eine lehrreiche und heilsame Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2012Schuldlose Völker gibt es nun doch
György Konráds parteiische Essays zum Judentum
Von seinem vor zwei Jahren erschienenen Essaytagebuch "Das Pendel" (F.A.Z. vom 23. Januar 2011) unterscheidet sich György Konráds neue Aufsatzsammlung "Über Juden" gänzlich. Wie die Vorgängerpublikation ist auch sie zunächst in Ungarn erschienen, jedoch versammelt der neue Band zwanzig eigenständige Abhandlungen, wobei die meisten zwar im neuen Jahrtausend entstanden sind, mehrere aber auf die neunziger Jahre zurückgehen und eine gar auf das Jahr 1986.
In den jüngeren Texten schlägt der ungarisch-jüdische Autor einen weit schärferen Ton an als in den älteren. Hier merkt man Konrád, der als Kind in Ungarn den Holocaust nur knapp überlebt hat, seine aufgestaute Wut über die Wiederkehr des offenen Antisemitismus in seinem Land deutlich an. "Über Juden" gerät wohl auch deshalb über weite Strecken zu einer Apologetik des jüdischen Diasporalebens wie des Staates Israel, durchwoben von sich stets wiederholenden biographischen Details, die an das eigene Schicksal und an das der ungarischen Juden in der Schoa gemahnen. Für den älter werdenden Konrád ist eine starke israelische Armee die notwendige historische Antwort auf die Judenvernichtung. Aus seiner Sicht sind die heutigen Feinde des israelischen Staates ohne weiteres mit den Nationalsozialisten vergleichbar, strebten sie doch mit ihrem radikalen Islamismus die "Endlösung" für Israel an.
Solch überspitzte Rhetorik, die der Heftigkeit des innerungarischen Kulturkampfes geschuldet sein dürfte, stützt sich auf Geschichtsauffassungen konservativ-zionistischer Provenienz, die selbst in Israel als überholt gelten. Vereinfachend heißt es etwa in dem 2009 entstandenen politischen Stück "Europa und Israel", die Araber seien 1948 "geflohen" und die Juden aus den arabischen Ländern anschließend in einem Racheakt "vertrieben" worden. Der Europäischen Union, die mit Israel bekanntlich auf vielen Ebenen kooperiert, wirft der jüdische Ungar vor, konsequent proarabisch zu sein, woraus er eine Kontinuität zum Verhalten der Europäer während des Holocaust ableitet.
Von einem solchen zur Einseitigkeit neigenden Opferdiskurs war Konrád 1989 noch weit entfernt. In der Abhandlung "Ungarisch-jüdische Bilanz" konstatierte er damals: "Auch als Juden sind wir nicht Opfer - dies allein schon deshalb nicht, weil die Geschichte zahlreiche jüdische Taten und Täter registriert. Schuldlose Völker gibt es nicht, nur moralische Stumpfheit." Und gegen die erhob der Schriftsteller den moralischen Zeigefinger: "Ein Jude muss darunter leiden, wenn israelische Soldaten ein arabisches Kind erschießen."
Wer also jene sprichwörtliche jüdische Fähigkeit zur Selbstkritik sucht, wie man sie im Allgemeinen von einem jüdischen Schriftsteller, der "Über Juden" schreibt, erwartet, dem seien vor allem die in dem Band enthaltenen früheren Stücke empfohlen. Allerdings dominiert auch hier bei Konrád der Zwang, die jüdische Mentalität auf die Erfahrung der Verfolgung zurückzuführen. Weil sie ihre Zelte häufig haben abbrechen müssen, so legt es der Essay "Weltvolk in Nationalstaaten" nahe, seien die Juden besonders dem "Abstrakten" verbunden - sprich Finanzangelegenheiten, Wissenschaften, Medien und Kunst. Ihr Denken sei von Wertvorstellungen geprägt, die nicht direkt an das Materielle gebunden und deshalb auch weniger der Gefahr ausgesetzt seien, zerstört zu werden.
Daraus resultiert auch György Konráds selbstauferlegte "Disziplin des Außenseiters", die ihn antreibt, das eigene Judesein stets aufs Neue zu ergründen. Am spannendsten wird diese Selbsterforschung in der Abhandlung "Die erste Entscheidung", die sich durch ihre Gedankenklarheit und ihren Einfallsreichtum deutlich von den übrigen Beiträgen des Bandes abhebt. Vor allem aber durch eine gesunde Portion Selbstironie, die in dem Buch sonst rar gesät ist: "Wenn ich voller Rasierschaum in den Spiegel sehe", steht hier, "kommt es mir nicht in den Sinn, dass ich dies als Jude tue."
JOSEPH CROITORU
György Konrád: "Über Juden".
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 246 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
György Konráds parteiische Essays zum Judentum
Von seinem vor zwei Jahren erschienenen Essaytagebuch "Das Pendel" (F.A.Z. vom 23. Januar 2011) unterscheidet sich György Konráds neue Aufsatzsammlung "Über Juden" gänzlich. Wie die Vorgängerpublikation ist auch sie zunächst in Ungarn erschienen, jedoch versammelt der neue Band zwanzig eigenständige Abhandlungen, wobei die meisten zwar im neuen Jahrtausend entstanden sind, mehrere aber auf die neunziger Jahre zurückgehen und eine gar auf das Jahr 1986.
In den jüngeren Texten schlägt der ungarisch-jüdische Autor einen weit schärferen Ton an als in den älteren. Hier merkt man Konrád, der als Kind in Ungarn den Holocaust nur knapp überlebt hat, seine aufgestaute Wut über die Wiederkehr des offenen Antisemitismus in seinem Land deutlich an. "Über Juden" gerät wohl auch deshalb über weite Strecken zu einer Apologetik des jüdischen Diasporalebens wie des Staates Israel, durchwoben von sich stets wiederholenden biographischen Details, die an das eigene Schicksal und an das der ungarischen Juden in der Schoa gemahnen. Für den älter werdenden Konrád ist eine starke israelische Armee die notwendige historische Antwort auf die Judenvernichtung. Aus seiner Sicht sind die heutigen Feinde des israelischen Staates ohne weiteres mit den Nationalsozialisten vergleichbar, strebten sie doch mit ihrem radikalen Islamismus die "Endlösung" für Israel an.
Solch überspitzte Rhetorik, die der Heftigkeit des innerungarischen Kulturkampfes geschuldet sein dürfte, stützt sich auf Geschichtsauffassungen konservativ-zionistischer Provenienz, die selbst in Israel als überholt gelten. Vereinfachend heißt es etwa in dem 2009 entstandenen politischen Stück "Europa und Israel", die Araber seien 1948 "geflohen" und die Juden aus den arabischen Ländern anschließend in einem Racheakt "vertrieben" worden. Der Europäischen Union, die mit Israel bekanntlich auf vielen Ebenen kooperiert, wirft der jüdische Ungar vor, konsequent proarabisch zu sein, woraus er eine Kontinuität zum Verhalten der Europäer während des Holocaust ableitet.
Von einem solchen zur Einseitigkeit neigenden Opferdiskurs war Konrád 1989 noch weit entfernt. In der Abhandlung "Ungarisch-jüdische Bilanz" konstatierte er damals: "Auch als Juden sind wir nicht Opfer - dies allein schon deshalb nicht, weil die Geschichte zahlreiche jüdische Taten und Täter registriert. Schuldlose Völker gibt es nicht, nur moralische Stumpfheit." Und gegen die erhob der Schriftsteller den moralischen Zeigefinger: "Ein Jude muss darunter leiden, wenn israelische Soldaten ein arabisches Kind erschießen."
Wer also jene sprichwörtliche jüdische Fähigkeit zur Selbstkritik sucht, wie man sie im Allgemeinen von einem jüdischen Schriftsteller, der "Über Juden" schreibt, erwartet, dem seien vor allem die in dem Band enthaltenen früheren Stücke empfohlen. Allerdings dominiert auch hier bei Konrád der Zwang, die jüdische Mentalität auf die Erfahrung der Verfolgung zurückzuführen. Weil sie ihre Zelte häufig haben abbrechen müssen, so legt es der Essay "Weltvolk in Nationalstaaten" nahe, seien die Juden besonders dem "Abstrakten" verbunden - sprich Finanzangelegenheiten, Wissenschaften, Medien und Kunst. Ihr Denken sei von Wertvorstellungen geprägt, die nicht direkt an das Materielle gebunden und deshalb auch weniger der Gefahr ausgesetzt seien, zerstört zu werden.
Daraus resultiert auch György Konráds selbstauferlegte "Disziplin des Außenseiters", die ihn antreibt, das eigene Judesein stets aufs Neue zu ergründen. Am spannendsten wird diese Selbsterforschung in der Abhandlung "Die erste Entscheidung", die sich durch ihre Gedankenklarheit und ihren Einfallsreichtum deutlich von den übrigen Beiträgen des Bandes abhebt. Vor allem aber durch eine gesunde Portion Selbstironie, die in dem Buch sonst rar gesät ist: "Wenn ich voller Rasierschaum in den Spiegel sehe", steht hier, "kommt es mir nicht in den Sinn, dass ich dies als Jude tue."
JOSEPH CROITORU
György Konrád: "Über Juden".
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 246 S., geb., 21,95 [Euro].
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