»Für mich ist das das tollste Buch, was ich in diesem Jahr gelesen habe. (...) Ich glaube, dass es sich tatsächlich um den größten Schriftsteller unserer Tage handelt.« Matthias Brandt
Das autobiographische Schreiben ist für John Burnside existenziell. Mit »Lügen über meinen Vater« und »Wie alle anderen« hat er radikal ehrlich aufgedeckt, woher die dunklen Stoffe stammen, die er ins seinen hochgelobten Gedichten und Romanen literarisch verarbeitet. Im vorliegenden Band wendet er sich nun jener Kraftquelle zu, aus der er wohl am meisten schöpft: der Liebe in all ihren Ausprägungen. Mal beschützend wie die Liebe einer Mutter in kleinen, zärtliche Gesten, mal berauschend wie das erste Verliebtsein, mal gefährlich wie heimliche Liebschaften, mal destruktiv wie sexuelle Hörigkeit. Es ist diese gefährliche Seite der Liebe, die den Autor fasziniert und ihn in menschliche Abgründe blicken lässt.
Ein Memoir der Sonderklasse: John Burnside verbindet in »Über Liebe und Magie« persönliche Erinnerungen, Reflexionen und ungeschönte Selbsterforschung zu einem einzigartigen Kunstwerk.
PLATZ 1 DER SWR-BESTENLISTE FEBRUAR 2020!
Das autobiographische Schreiben ist für John Burnside existenziell. Mit »Lügen über meinen Vater« und »Wie alle anderen« hat er radikal ehrlich aufgedeckt, woher die dunklen Stoffe stammen, die er ins seinen hochgelobten Gedichten und Romanen literarisch verarbeitet. Im vorliegenden Band wendet er sich nun jener Kraftquelle zu, aus der er wohl am meisten schöpft: der Liebe in all ihren Ausprägungen. Mal beschützend wie die Liebe einer Mutter in kleinen, zärtliche Gesten, mal berauschend wie das erste Verliebtsein, mal gefährlich wie heimliche Liebschaften, mal destruktiv wie sexuelle Hörigkeit. Es ist diese gefährliche Seite der Liebe, die den Autor fasziniert und ihn in menschliche Abgründe blicken lässt.
Ein Memoir der Sonderklasse: John Burnside verbindet in »Über Liebe und Magie« persönliche Erinnerungen, Reflexionen und ungeschönte Selbsterforschung zu einem einzigartigen Kunstwerk.
PLATZ 1 DER SWR-BESTENLISTE FEBRUAR 2020!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019In der Wildnis unserer Herzen
Auf der Jagd nach dem Kindheitskometen: John Burnside dringt in die Welt hinter den Spiegeln vor und beweist dabei seinen Sinn fürs Magische.
Von Hubert Spiegel
Was liebt ein Junge, wenn er neun Jahre alt ist? Die Antwort, die John Burnside in seinem neuen Buch gibt, mag auch für viele Leser, die selbst einmal neunjährige Jungen waren, überraschend sein: Er liebt "fast alles", und zwar auf eine nahezu bedingungslose Weise. Aber weiß er es auch?
John liebte das dampfende Tauwasser in den Gossen und Gräben, den Bogen eines gut geworfenen Balls im Sommerhimmel, die Kyries und die schwarzen Gewänder am Karfreitag, den Hostienklecks auf der Zunge und die älteren Schwestern seiner Schulfreunde. Vor allem liebte er seine Cousine Madeleine - "aber selbst mein neunjähriges Ich wusste, dass ich nur verknallt war". Die meisten Männer, so Burnside, wünschten sich, die "leichte, jungenhafte Art zu lieben", die ihnen damals gegeben war, würde ewig währen. Aber das tut sie nicht. Wir ändern uns, Männer wie Frauen, wir lassen erst die Kinder, die wir waren, hinter uns, dann die verknallten Teenager und die jungen Liebenden, und wenn wir Pech haben - und das haben wohl viele von uns - verlieren wir die Geschöpfe, die wir einmal gewesen sind, vollständig aus den Augen. Nur in seltenen kostbaren Augenblicken blitzt so etwas wie ein Kindheitskomet in uns auf, um sogleich wieder zu vergehen.
Oft muss Burnside nicht viel tun, um die kometengleichen Bruchstücke seiner Vergangenheit hervorzulocken. Manche von ihnen sind ständig präsent, andere prasseln wie Hagelkörner im Frühjahrsgewitter auf ihn ein, wieder andere sind rare und kostbare Heimsuchungen in dunklen Nächten, die es reichlich gibt in diesem außergewöhnlichen Buch. Die große Liebe, der Kneipenflirt, die unheimliche Begegnung wechseln mit Einschüben, Exkursen und Abschweifungen über Songs, Begriffe, Fotografien von Diane Arbus oder den Klassengegensätzen in England heute und damals. Burnsides deutscher Verlag bezeichnet das Buch als Memoir, als Sammlung von Erinnerungen an persönliche Erlebnisse und Augenblicke also. Das ist gewiss nicht falsch, vermittelt aber nur einen allzu schwachen Eindruck von der Natur der Sache. "Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You" ist das Journal der schmerzreichen Erziehung eines Herzens, das sich jeder Erziehung widersetzt, das Umwege mehr liebt als Abkürzungen und aus Angst vor ausgetretenen Pfaden immer wieder auf abschüssiges Seelengelände gerät und dort den Halt verliert. So gleicht die Lektüre einem Gang durch Burnsides klandestines Archiv der Gefühle, in dem Persönliches und Allgemeines, Abgedrehtes und Intimes, Verborgenes und Verstiegenes nebeneinander ausharrt und auf den Augenblick wartet, in dem es ans Licht gehoben werden soll.
Burnside hat einen Sinn fürs Magische - in der Natur, in der Musik, im Klang der Worte und Wendungen, einen Sinn für Etymologien und Ableitungen, aber auch für alles Elementare, für das Rohe, das uns in der unendlichen Abfolge seiner Überlieferungen und Überformungen in immer neuen Gestalten begegnet. Was hat der Zauber in Nina Simones Fassung des Klassikers "I Put a Spell on You", den Burnside als kleiner Junge erstmals auf dem Plattenspieler seiner angehimmelten Cousine Madeleine hörte, mit dem Hokuspokus zu tun, den Screamin' Jay Hawkins in seiner Originalversion desselben Liedes veranstaltet? Mehr als nur die Melodie und die Worte.
Burnside kommt immer wieder auf einzelne Songs zu sprechen. Wie bei jedem von uns sind sie auch bei ihm Chiffren für bestimmte Lebensabschnitte und die in ihnen vorherrschenden Stimmungen und Gefühle, sie sind Zeitmaschinen, mit denen wir reisen können, aber zugleich sind sie auch der Zeit enthoben. Burnside spürt der Magie in Songs nach, die ihrerseits magischen Vorgängen wie der Liebe nachspüren, und vergisst darüber nicht, dass die sehnsuchtsvollen Momente, die seine Mutter in ihrer kleinen Küche vor dem Transistorradio verbrachte, ebenso wahrhaftig wie synthetisch waren: Produkte einer Musik- und Magie-Industrie, die sich von unerfüllten Träumen nährt. Und von uneingestandenen Ängsten. Screamin' Jay, ein augenrollender Voodoo-Priester des Blues, der eine ganz andere Art des Schwarzseins verkörperte als Nina Simone, eine Gestalt wie aus einer Minstrel Show entsprungen, ein in ein Leopardenfell gehüllter Bass-Bariton, der den Scharlatan gab, um sich dem Mainstream zu verweigern, besaß in den Augen Burnsides nicht nur so etwas wie Genie, sondern etwas anderes, größeres: Er besaß glamourie.
Schriftsteller sind Leute, die wissen, dass sie am liebsten über Dinge reden, die sich mit einem Wort nicht sagen lassen, aber nicht aufhören können, es zu versuchen. Burnside erfindet solche Worte nicht, aber er schüttelt sie aus alten Wörterbüchern. Glamourie ist ein solches Wort, und wie das Wörtchen thrawn, das mit krumm, widerspenstig oder trotzig nur unzureichend übersetzt ist, verweist auch glamourie auf eine Sphäre des Überirdischen, nicht ganz Geheuren. Es gibt im Denken, Fühlen und Schreiben John Burnsides immer wieder Verweise auf eine Welt jenseits der Welt, eine Welt hinter den Spiegeln, eine bessere, aber vermutlich gefährliche Welt. Ein Teil der Liebe, von der Burnside erzählt, hat ihren Ursprung dort, und ein Teil der Liebe, die Burnside in seinem Leben verspielt, verstolpert, verweigert oder verloren hat, dürfte dorthin zurückgekehrt sein.
"I Put a Spell on You" ist eine Wanderung durch die Wildnis des Herzens, aber auch durch seine Einöde. Die Rezensentin des "Guardian" meinte, Frauen sollten dieses Buch unbedingt lesen, weil es mythische Muster männlichen Begehrens offenbaren würde. Das stimmt, aber wer weiß, ob sich mit dem Wissen viel anfangen lässt? Burnside ist, wie er schon in Büchern wie "Lügen über meinen Vater" (2011) und "Wie alle anderen" eindrucksvoll gezeigt hat, ein Meister der qualvollen Selbsterforschung. Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass Erkenntnis, vor allem, wenn es sich dabei um Selbsterkenntnis handeln sollte, in den meisten Fällen zu spät kommt. Manches in diesem Buch konnte man so ähnlich schon lesen, von den (kurzen) Passagen über den trinkenden, zur Gewalttätigkeit neigenden Vater über die anrührenden Erinnerungen an die duldsame Großmut der Mutter bis zu den dem Drogenkonsum und der Selbstzerstörung gewidmeten Jahren mit ihren psychotischen und paranoiden Begleiterscheinungen.
In einem Song von Rickie Lee Jones ist vom "dunklen Ende des Jahrmarkts" die Rede. John Burnside kennt diesen Ort nur zu gut. Man sollte ihm dorthin nicht folgen wollen. Aber man muss keine Angst haben, sich von diesem Buch verzaubern zu lassen.
John Burnside: "Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You".
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2019. 288 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Jagd nach dem Kindheitskometen: John Burnside dringt in die Welt hinter den Spiegeln vor und beweist dabei seinen Sinn fürs Magische.
Von Hubert Spiegel
Was liebt ein Junge, wenn er neun Jahre alt ist? Die Antwort, die John Burnside in seinem neuen Buch gibt, mag auch für viele Leser, die selbst einmal neunjährige Jungen waren, überraschend sein: Er liebt "fast alles", und zwar auf eine nahezu bedingungslose Weise. Aber weiß er es auch?
John liebte das dampfende Tauwasser in den Gossen und Gräben, den Bogen eines gut geworfenen Balls im Sommerhimmel, die Kyries und die schwarzen Gewänder am Karfreitag, den Hostienklecks auf der Zunge und die älteren Schwestern seiner Schulfreunde. Vor allem liebte er seine Cousine Madeleine - "aber selbst mein neunjähriges Ich wusste, dass ich nur verknallt war". Die meisten Männer, so Burnside, wünschten sich, die "leichte, jungenhafte Art zu lieben", die ihnen damals gegeben war, würde ewig währen. Aber das tut sie nicht. Wir ändern uns, Männer wie Frauen, wir lassen erst die Kinder, die wir waren, hinter uns, dann die verknallten Teenager und die jungen Liebenden, und wenn wir Pech haben - und das haben wohl viele von uns - verlieren wir die Geschöpfe, die wir einmal gewesen sind, vollständig aus den Augen. Nur in seltenen kostbaren Augenblicken blitzt so etwas wie ein Kindheitskomet in uns auf, um sogleich wieder zu vergehen.
Oft muss Burnside nicht viel tun, um die kometengleichen Bruchstücke seiner Vergangenheit hervorzulocken. Manche von ihnen sind ständig präsent, andere prasseln wie Hagelkörner im Frühjahrsgewitter auf ihn ein, wieder andere sind rare und kostbare Heimsuchungen in dunklen Nächten, die es reichlich gibt in diesem außergewöhnlichen Buch. Die große Liebe, der Kneipenflirt, die unheimliche Begegnung wechseln mit Einschüben, Exkursen und Abschweifungen über Songs, Begriffe, Fotografien von Diane Arbus oder den Klassengegensätzen in England heute und damals. Burnsides deutscher Verlag bezeichnet das Buch als Memoir, als Sammlung von Erinnerungen an persönliche Erlebnisse und Augenblicke also. Das ist gewiss nicht falsch, vermittelt aber nur einen allzu schwachen Eindruck von der Natur der Sache. "Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You" ist das Journal der schmerzreichen Erziehung eines Herzens, das sich jeder Erziehung widersetzt, das Umwege mehr liebt als Abkürzungen und aus Angst vor ausgetretenen Pfaden immer wieder auf abschüssiges Seelengelände gerät und dort den Halt verliert. So gleicht die Lektüre einem Gang durch Burnsides klandestines Archiv der Gefühle, in dem Persönliches und Allgemeines, Abgedrehtes und Intimes, Verborgenes und Verstiegenes nebeneinander ausharrt und auf den Augenblick wartet, in dem es ans Licht gehoben werden soll.
Burnside hat einen Sinn fürs Magische - in der Natur, in der Musik, im Klang der Worte und Wendungen, einen Sinn für Etymologien und Ableitungen, aber auch für alles Elementare, für das Rohe, das uns in der unendlichen Abfolge seiner Überlieferungen und Überformungen in immer neuen Gestalten begegnet. Was hat der Zauber in Nina Simones Fassung des Klassikers "I Put a Spell on You", den Burnside als kleiner Junge erstmals auf dem Plattenspieler seiner angehimmelten Cousine Madeleine hörte, mit dem Hokuspokus zu tun, den Screamin' Jay Hawkins in seiner Originalversion desselben Liedes veranstaltet? Mehr als nur die Melodie und die Worte.
Burnside kommt immer wieder auf einzelne Songs zu sprechen. Wie bei jedem von uns sind sie auch bei ihm Chiffren für bestimmte Lebensabschnitte und die in ihnen vorherrschenden Stimmungen und Gefühle, sie sind Zeitmaschinen, mit denen wir reisen können, aber zugleich sind sie auch der Zeit enthoben. Burnside spürt der Magie in Songs nach, die ihrerseits magischen Vorgängen wie der Liebe nachspüren, und vergisst darüber nicht, dass die sehnsuchtsvollen Momente, die seine Mutter in ihrer kleinen Küche vor dem Transistorradio verbrachte, ebenso wahrhaftig wie synthetisch waren: Produkte einer Musik- und Magie-Industrie, die sich von unerfüllten Träumen nährt. Und von uneingestandenen Ängsten. Screamin' Jay, ein augenrollender Voodoo-Priester des Blues, der eine ganz andere Art des Schwarzseins verkörperte als Nina Simone, eine Gestalt wie aus einer Minstrel Show entsprungen, ein in ein Leopardenfell gehüllter Bass-Bariton, der den Scharlatan gab, um sich dem Mainstream zu verweigern, besaß in den Augen Burnsides nicht nur so etwas wie Genie, sondern etwas anderes, größeres: Er besaß glamourie.
Schriftsteller sind Leute, die wissen, dass sie am liebsten über Dinge reden, die sich mit einem Wort nicht sagen lassen, aber nicht aufhören können, es zu versuchen. Burnside erfindet solche Worte nicht, aber er schüttelt sie aus alten Wörterbüchern. Glamourie ist ein solches Wort, und wie das Wörtchen thrawn, das mit krumm, widerspenstig oder trotzig nur unzureichend übersetzt ist, verweist auch glamourie auf eine Sphäre des Überirdischen, nicht ganz Geheuren. Es gibt im Denken, Fühlen und Schreiben John Burnsides immer wieder Verweise auf eine Welt jenseits der Welt, eine Welt hinter den Spiegeln, eine bessere, aber vermutlich gefährliche Welt. Ein Teil der Liebe, von der Burnside erzählt, hat ihren Ursprung dort, und ein Teil der Liebe, die Burnside in seinem Leben verspielt, verstolpert, verweigert oder verloren hat, dürfte dorthin zurückgekehrt sein.
"I Put a Spell on You" ist eine Wanderung durch die Wildnis des Herzens, aber auch durch seine Einöde. Die Rezensentin des "Guardian" meinte, Frauen sollten dieses Buch unbedingt lesen, weil es mythische Muster männlichen Begehrens offenbaren würde. Das stimmt, aber wer weiß, ob sich mit dem Wissen viel anfangen lässt? Burnside ist, wie er schon in Büchern wie "Lügen über meinen Vater" (2011) und "Wie alle anderen" eindrucksvoll gezeigt hat, ein Meister der qualvollen Selbsterforschung. Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass Erkenntnis, vor allem, wenn es sich dabei um Selbsterkenntnis handeln sollte, in den meisten Fällen zu spät kommt. Manches in diesem Buch konnte man so ähnlich schon lesen, von den (kurzen) Passagen über den trinkenden, zur Gewalttätigkeit neigenden Vater über die anrührenden Erinnerungen an die duldsame Großmut der Mutter bis zu den dem Drogenkonsum und der Selbstzerstörung gewidmeten Jahren mit ihren psychotischen und paranoiden Begleiterscheinungen.
In einem Song von Rickie Lee Jones ist vom "dunklen Ende des Jahrmarkts" die Rede. John Burnside kennt diesen Ort nur zu gut. Man sollte ihm dorthin nicht folgen wollen. Aber man muss keine Angst haben, sich von diesem Buch verzaubern zu lassen.
John Burnside: "Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You".
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2019. 288 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Cornelia Geißler sieht Helles in all dem Dunkel der Erinnerung von John Burnside. Die Kraft, die nötig ist, um sich souverän darin zu bewegen, wie es der Autor vormacht, scheint ihr immens und "anstiftend". Das leichte Unbehagen beim Griff zu diesem Autor wird diesmal für Geißler relativiert, da Burnside eine glückliche Jugend "behauptet" und von der Liebe in ihren Erscheinungsformen erzählt, angeregt durch Musik, "an seiner Biografie entlang", wie Geißler erklärt. Die Mutter des Autors kommt laut Geißler ebenso vor wie die Frauen seines Lebens. Die Form des mäandernden Erzählens stellt hohe Anforderungen an den Übersetzer, die Bernhard Robben aber aufs Beste erfüllt, so die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2020Narziss und der
Reiz der Chimären
„I put a spell on you“: John Burnside über
„Liebe und Magie“ – und die rettende Kraft des Schreibens
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Wenn exzentrische Persönlichkeiten, eingenommen vom eigenen Gefühl, die ganze Welt umarmen wollen, ist das meistens zum Davonlaufen. Nicht so im Fall des schottischen Lyrikers und Romanciers John Burnside. Er weiß so genau, wie es ist, wenn man sich selbst nicht mag. Von ihm lässt die Welt sich gern sagen, was schön ist oder wenigstens schön sein könnte, wenn sie, die Welt, weniger gedankenlos wäre.
Sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch „Über Liebe und Magie“ (passabel übersetzt von Bernhard Robben) ist eine Mischung aus Jugenderinnerungen und Reflexionen über die Liebe und über Lieder. Der Untertitel seines Buches – „I put a spell on you“ – ist der Titel eines Songs, den die Bluessängerin Nina Simone so dargeboten hat, dass Burnside sich tatsächlich davon wie verzaubert fühlt.
Angefangen hat alles, wie üblich, mit seiner Kindheit. Die fand statt in einer schottischen Kleinstadt, deren hässliche Aussichtslosigkeit von einem lieblos hingesetzten Einkaufszentrum gekrönt wurde. Die Eltern beschreibt er als arm, redlich und katholisch, womit die Einwilligung in einen Gesellschaftsvertrag feststand, der da besagte: Die Männer malochen, die Frauen hüten das Heim. Die Männer, wenn sie abends nach Hause kamen, waren müde und schlecht gelaunt. Frauen war bestimmt, Hausfrau zu werden, und das Wünschen nach Freude, die über einen Tanzabend hinausgeht, bleiben zu lassen: „Vom Gör bis zur Greisin wurde die Willenskraft von Mädchen und Frauen, dort, wo wir aufwuchsen, immerzu gebrochen.“
Die Männer, so Burnside, hätten bloß in ihrer Jugend eine kurze Zeit von wenigen Jahren gehabt, bevor sie ihr Schicksal annahmen: zu schlecht bezahlter Arbeit gehen, eine Ehe eingehen, bis dass der Tod dann komme. „Die Heirat“, definiert er knapp, wie der Amerikaner Ambrose Bierce es in seinem „Wörterbuch des Teufels“ (1911) nicht besser hätte tun können: „das, was am ehesten Gelegenheit für eine lebensbedrohliche Enttäuschung bietet“.
Burnside beschreibt sich als einen braven Jungen. Dem Heranwachsenden dämmerte dann, wie da Kirche und Staat zusammenarbeiteten. Die Kirche habe dabei geholfen, die Armen in ihrem Status festzunageln. Seine Jugend fand er alles in allem schrecklich und suchte zu fliehen oder zu fliegen. John Burnside hatte wohl zu viel Fantasie für die Welt, in die er hineingestopft werden sollte. Er sei, schreibt er, damals jede Woche neu verliebt gewesen. Weil das nichts half und die (katholischen) Mädchen nicht in Reichweite kamen, musste der Alkohol ran, dann auch Drogen: Fliegen können mit „Lucy in the Sky with Diamonds“ oder anderen Songs, das wär’s gewesen. Stattdessen landete der junge Burnside, heute ist er 64 Jahre alt, in der Psychiatrie – ganz weit von der Liebe entfernt.
Vielleicht hat seine Lebenskraft John Burnside geholfen, seine Jugend zu überwinden und mit dem Schreiben zu beginnen; vielleicht war es auch andersherum: Das Schreiben mag ihm geholfen haben. Für den Leser ist das einerlei. So wie ein Schmetterling mit seinem Flügelschlag die Luft bewegt, ohne zu erwarten, dass deshalb gleich in China ein Erdbeben stattfindet, hat Burnside seine eigenen Erfahrungen, angereichert von Lektürefrüchten und Abschweifungen, zu Papier gebracht – in der Diktion mal poetisch und dann wieder gern deftig-umgangssprachlich.
„Liebe und Magie“, im Original bereits 2014 erschienen, wurde vom Guardian als „ein erhellendes Buch über das, was Liebe alles sein kann“ gepriesen. Das ist schon richtig. Die Liebe kann vor allem schmerzhaft sein, niederdrückend, alles andere auslöschend. Der 2017 verstorbene französische Schriftsteller Jean d’Ormesson – ein Doyen der Literatur, Mitglied der Académie française – verstand unter Liebe das „Feuer der Passion“: „Die Passion entzündet den Körper, die Herzen, die Seelen, und sie verbrennt die Gefäße. Die Passion hat keine andere Politik als die der verbrannten Erde.“ Und weiter: Literatur gebe es bloß, „weil die Menschen reden, weil sie leiden und weil sie lieben“.
Anders als Burnside stammte d’Ormesson aus großen Verhältnissen. Doch würde Burnside ihm wohl zustimmen. Was er von seinen Verliebtheiten und Lieben erzählt, ist alles andere als romantisch. Weil das mit den Weibern und der Liebe immer so schwierig ist, meint er, neigten Männer dazu, sich an Traumfrauen zu hängen, am besten an eine tote, so eine wie Ophelia, die im „Hamlet“ aus Liebe ins Wasser geht und – österreichisch gesagt – eine schöne Leich’ abgibt. Nicht jede Leserin muss sich in diese männliche Vorstellung einfühlen.
Bleibt zu konstatieren: Mag die Idee auch seltsam sein, interessant ist sie schon; wir reden von einer Chimäre mit schönem, wenn auch blass-blauem Angesicht und langen Haaren, die wie Seetang aussehen und so das Menschliche mit dem Element Wasser verbinden, welch letzteres ja nun wirklich faszinierend ist.
In Fabeln erkennt Burnside die Gegenwart. Nachgerade hübsch ist sein Blick auf die mythologische Figur Narziss, den Archetypus der Egomanie, der so vernarrt ist in sein Spiegelbild, dass er sich weiter und weiter niederbeugt, in den Teich fällt und ertrinkt. Von wegen!, ruft Burnside. Narziss habe die Avancen der Nymphe Echo abgewiesen, eben weil er an seiner Seite keine Gefährtin haben wollte, die bloß nachspreche, was er sage, die ihm bloß nach dem Munde rede.
Und als Narziss sich im Wasser anschaute – laut dem Mythos wurde er zur Strafe für die Abweisung Echos dazu verdammt, sich selbst schön zu finden – habe er weniger sich selbst bewundert, als vielmehr sich vergewissern wollen, in der Welt zu sein. Ob man dieser Interpretation zuneigt oder nicht, spielt keine Rolle. Sie beschreibt auf jeden Fall John Burnsides Haltung als Schriftsteller. Er schreibt über sich selbst auf ungemein zugewandte Weise: In der Welt, für die Welt.
„Lucy in the Sky with Diamonds“
als Wegweiser in die
Welt der Drogen
Burnside hat seine eigene Theorie,
warum Narziss die Avancen
der Nymphe Echo abgelehnt hat
Über die Welt schreiben, indem man über sich selbst schreibt: John Burnside.
Foto: mauritius images / Alamy / Pako Mera
John Burnside: Über Liebe und Magie – I put a spell on you. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2019. 288 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Reiz der Chimären
„I put a spell on you“: John Burnside über
„Liebe und Magie“ – und die rettende Kraft des Schreibens
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Wenn exzentrische Persönlichkeiten, eingenommen vom eigenen Gefühl, die ganze Welt umarmen wollen, ist das meistens zum Davonlaufen. Nicht so im Fall des schottischen Lyrikers und Romanciers John Burnside. Er weiß so genau, wie es ist, wenn man sich selbst nicht mag. Von ihm lässt die Welt sich gern sagen, was schön ist oder wenigstens schön sein könnte, wenn sie, die Welt, weniger gedankenlos wäre.
Sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch „Über Liebe und Magie“ (passabel übersetzt von Bernhard Robben) ist eine Mischung aus Jugenderinnerungen und Reflexionen über die Liebe und über Lieder. Der Untertitel seines Buches – „I put a spell on you“ – ist der Titel eines Songs, den die Bluessängerin Nina Simone so dargeboten hat, dass Burnside sich tatsächlich davon wie verzaubert fühlt.
Angefangen hat alles, wie üblich, mit seiner Kindheit. Die fand statt in einer schottischen Kleinstadt, deren hässliche Aussichtslosigkeit von einem lieblos hingesetzten Einkaufszentrum gekrönt wurde. Die Eltern beschreibt er als arm, redlich und katholisch, womit die Einwilligung in einen Gesellschaftsvertrag feststand, der da besagte: Die Männer malochen, die Frauen hüten das Heim. Die Männer, wenn sie abends nach Hause kamen, waren müde und schlecht gelaunt. Frauen war bestimmt, Hausfrau zu werden, und das Wünschen nach Freude, die über einen Tanzabend hinausgeht, bleiben zu lassen: „Vom Gör bis zur Greisin wurde die Willenskraft von Mädchen und Frauen, dort, wo wir aufwuchsen, immerzu gebrochen.“
Die Männer, so Burnside, hätten bloß in ihrer Jugend eine kurze Zeit von wenigen Jahren gehabt, bevor sie ihr Schicksal annahmen: zu schlecht bezahlter Arbeit gehen, eine Ehe eingehen, bis dass der Tod dann komme. „Die Heirat“, definiert er knapp, wie der Amerikaner Ambrose Bierce es in seinem „Wörterbuch des Teufels“ (1911) nicht besser hätte tun können: „das, was am ehesten Gelegenheit für eine lebensbedrohliche Enttäuschung bietet“.
Burnside beschreibt sich als einen braven Jungen. Dem Heranwachsenden dämmerte dann, wie da Kirche und Staat zusammenarbeiteten. Die Kirche habe dabei geholfen, die Armen in ihrem Status festzunageln. Seine Jugend fand er alles in allem schrecklich und suchte zu fliehen oder zu fliegen. John Burnside hatte wohl zu viel Fantasie für die Welt, in die er hineingestopft werden sollte. Er sei, schreibt er, damals jede Woche neu verliebt gewesen. Weil das nichts half und die (katholischen) Mädchen nicht in Reichweite kamen, musste der Alkohol ran, dann auch Drogen: Fliegen können mit „Lucy in the Sky with Diamonds“ oder anderen Songs, das wär’s gewesen. Stattdessen landete der junge Burnside, heute ist er 64 Jahre alt, in der Psychiatrie – ganz weit von der Liebe entfernt.
Vielleicht hat seine Lebenskraft John Burnside geholfen, seine Jugend zu überwinden und mit dem Schreiben zu beginnen; vielleicht war es auch andersherum: Das Schreiben mag ihm geholfen haben. Für den Leser ist das einerlei. So wie ein Schmetterling mit seinem Flügelschlag die Luft bewegt, ohne zu erwarten, dass deshalb gleich in China ein Erdbeben stattfindet, hat Burnside seine eigenen Erfahrungen, angereichert von Lektürefrüchten und Abschweifungen, zu Papier gebracht – in der Diktion mal poetisch und dann wieder gern deftig-umgangssprachlich.
„Liebe und Magie“, im Original bereits 2014 erschienen, wurde vom Guardian als „ein erhellendes Buch über das, was Liebe alles sein kann“ gepriesen. Das ist schon richtig. Die Liebe kann vor allem schmerzhaft sein, niederdrückend, alles andere auslöschend. Der 2017 verstorbene französische Schriftsteller Jean d’Ormesson – ein Doyen der Literatur, Mitglied der Académie française – verstand unter Liebe das „Feuer der Passion“: „Die Passion entzündet den Körper, die Herzen, die Seelen, und sie verbrennt die Gefäße. Die Passion hat keine andere Politik als die der verbrannten Erde.“ Und weiter: Literatur gebe es bloß, „weil die Menschen reden, weil sie leiden und weil sie lieben“.
Anders als Burnside stammte d’Ormesson aus großen Verhältnissen. Doch würde Burnside ihm wohl zustimmen. Was er von seinen Verliebtheiten und Lieben erzählt, ist alles andere als romantisch. Weil das mit den Weibern und der Liebe immer so schwierig ist, meint er, neigten Männer dazu, sich an Traumfrauen zu hängen, am besten an eine tote, so eine wie Ophelia, die im „Hamlet“ aus Liebe ins Wasser geht und – österreichisch gesagt – eine schöne Leich’ abgibt. Nicht jede Leserin muss sich in diese männliche Vorstellung einfühlen.
Bleibt zu konstatieren: Mag die Idee auch seltsam sein, interessant ist sie schon; wir reden von einer Chimäre mit schönem, wenn auch blass-blauem Angesicht und langen Haaren, die wie Seetang aussehen und so das Menschliche mit dem Element Wasser verbinden, welch letzteres ja nun wirklich faszinierend ist.
In Fabeln erkennt Burnside die Gegenwart. Nachgerade hübsch ist sein Blick auf die mythologische Figur Narziss, den Archetypus der Egomanie, der so vernarrt ist in sein Spiegelbild, dass er sich weiter und weiter niederbeugt, in den Teich fällt und ertrinkt. Von wegen!, ruft Burnside. Narziss habe die Avancen der Nymphe Echo abgewiesen, eben weil er an seiner Seite keine Gefährtin haben wollte, die bloß nachspreche, was er sage, die ihm bloß nach dem Munde rede.
Und als Narziss sich im Wasser anschaute – laut dem Mythos wurde er zur Strafe für die Abweisung Echos dazu verdammt, sich selbst schön zu finden – habe er weniger sich selbst bewundert, als vielmehr sich vergewissern wollen, in der Welt zu sein. Ob man dieser Interpretation zuneigt oder nicht, spielt keine Rolle. Sie beschreibt auf jeden Fall John Burnsides Haltung als Schriftsteller. Er schreibt über sich selbst auf ungemein zugewandte Weise: In der Welt, für die Welt.
„Lucy in the Sky with Diamonds“
als Wegweiser in die
Welt der Drogen
Burnside hat seine eigene Theorie,
warum Narziss die Avancen
der Nymphe Echo abgelehnt hat
Über die Welt schreiben, indem man über sich selbst schreibt: John Burnside.
Foto: mauritius images / Alamy / Pako Mera
John Burnside: Über Liebe und Magie – I put a spell on you. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2019. 288 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Für mich ist das das tollste Buch, was ich in diesem Jahr gelesen habe. (...) Ich glaube, dass es sich tatsächlich um den größten Schriftsteller unserer Tage handelt.« Matthias Brandt ZDF "Das literarische Quartett"