Ein ganz besonderes literarisches Memoir über die Liebe mit ihren Licht- und Schattenseiten
Der hochgelobte schottische Autor John Burnside blickt zurück auf sein Leben und erzählt von den vielen Facetten der Liebe. Von Menschen, die ihn geprägt haben, und von der faszinierenden Kraft, die er in der Sprache und in der Musik entdeckt. Ehrlich und ungeschönt spürt John Burnside den magischen, aber auch abgründig-gefährlichen Seiten der Liebe nach und verwebt Kindheitserinnerungen und Reflexionen über Kunst zu einem einzigartigen poetischen Werk. »Für mich ist dies das tollste Buch, was ich in diesem Jahr gelesen habe. Ich glaube, dass es sich tatsächlich um den größten Schriftsteller unserer Tage handelt.« (Matthias Brandt in »Das literarischen Quartett«)
Der hochgelobte schottische Autor John Burnside blickt zurück auf sein Leben und erzählt von den vielen Facetten der Liebe. Von Menschen, die ihn geprägt haben, und von der faszinierenden Kraft, die er in der Sprache und in der Musik entdeckt. Ehrlich und ungeschönt spürt John Burnside den magischen, aber auch abgründig-gefährlichen Seiten der Liebe nach und verwebt Kindheitserinnerungen und Reflexionen über Kunst zu einem einzigartigen poetischen Werk. »Für mich ist dies das tollste Buch, was ich in diesem Jahr gelesen habe. Ich glaube, dass es sich tatsächlich um den größten Schriftsteller unserer Tage handelt.« (Matthias Brandt in »Das literarischen Quartett«)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019In der Wildnis unserer Herzen
Auf der Jagd nach dem Kindheitskometen: John Burnside dringt in die Welt hinter den Spiegeln vor und beweist dabei seinen Sinn fürs Magische.
Von Hubert Spiegel
Was liebt ein Junge, wenn er neun Jahre alt ist? Die Antwort, die John Burnside in seinem neuen Buch gibt, mag auch für viele Leser, die selbst einmal neunjährige Jungen waren, überraschend sein: Er liebt "fast alles", und zwar auf eine nahezu bedingungslose Weise. Aber weiß er es auch?
John liebte das dampfende Tauwasser in den Gossen und Gräben, den Bogen eines gut geworfenen Balls im Sommerhimmel, die Kyries und die schwarzen Gewänder am Karfreitag, den Hostienklecks auf der Zunge und die älteren Schwestern seiner Schulfreunde. Vor allem liebte er seine Cousine Madeleine - "aber selbst mein neunjähriges Ich wusste, dass ich nur verknallt war". Die meisten Männer, so Burnside, wünschten sich, die "leichte, jungenhafte Art zu lieben", die ihnen damals gegeben war, würde ewig währen. Aber das tut sie nicht. Wir ändern uns, Männer wie Frauen, wir lassen erst die Kinder, die wir waren, hinter uns, dann die verknallten Teenager und die jungen Liebenden, und wenn wir Pech haben - und das haben wohl viele von uns - verlieren wir die Geschöpfe, die wir einmal gewesen sind, vollständig aus den Augen. Nur in seltenen kostbaren Augenblicken blitzt so etwas wie ein Kindheitskomet in uns auf, um sogleich wieder zu vergehen.
Oft muss Burnside nicht viel tun, um die kometengleichen Bruchstücke seiner Vergangenheit hervorzulocken. Manche von ihnen sind ständig präsent, andere prasseln wie Hagelkörner im Frühjahrsgewitter auf ihn ein, wieder andere sind rare und kostbare Heimsuchungen in dunklen Nächten, die es reichlich gibt in diesem außergewöhnlichen Buch. Die große Liebe, der Kneipenflirt, die unheimliche Begegnung wechseln mit Einschüben, Exkursen und Abschweifungen über Songs, Begriffe, Fotografien von Diane Arbus oder den Klassengegensätzen in England heute und damals. Burnsides deutscher Verlag bezeichnet das Buch als Memoir, als Sammlung von Erinnerungen an persönliche Erlebnisse und Augenblicke also. Das ist gewiss nicht falsch, vermittelt aber nur einen allzu schwachen Eindruck von der Natur der Sache. "Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You" ist das Journal der schmerzreichen Erziehung eines Herzens, das sich jeder Erziehung widersetzt, das Umwege mehr liebt als Abkürzungen und aus Angst vor ausgetretenen Pfaden immer wieder auf abschüssiges Seelengelände gerät und dort den Halt verliert. So gleicht die Lektüre einem Gang durch Burnsides klandestines Archiv der Gefühle, in dem Persönliches und Allgemeines, Abgedrehtes und Intimes, Verborgenes und Verstiegenes nebeneinander ausharrt und auf den Augenblick wartet, in dem es ans Licht gehoben werden soll.
Burnside hat einen Sinn fürs Magische - in der Natur, in der Musik, im Klang der Worte und Wendungen, einen Sinn für Etymologien und Ableitungen, aber auch für alles Elementare, für das Rohe, das uns in der unendlichen Abfolge seiner Überlieferungen und Überformungen in immer neuen Gestalten begegnet. Was hat der Zauber in Nina Simones Fassung des Klassikers "I Put a Spell on You", den Burnside als kleiner Junge erstmals auf dem Plattenspieler seiner angehimmelten Cousine Madeleine hörte, mit dem Hokuspokus zu tun, den Screamin' Jay Hawkins in seiner Originalversion desselben Liedes veranstaltet? Mehr als nur die Melodie und die Worte.
Burnside kommt immer wieder auf einzelne Songs zu sprechen. Wie bei jedem von uns sind sie auch bei ihm Chiffren für bestimmte Lebensabschnitte und die in ihnen vorherrschenden Stimmungen und Gefühle, sie sind Zeitmaschinen, mit denen wir reisen können, aber zugleich sind sie auch der Zeit enthoben. Burnside spürt der Magie in Songs nach, die ihrerseits magischen Vorgängen wie der Liebe nachspüren, und vergisst darüber nicht, dass die sehnsuchtsvollen Momente, die seine Mutter in ihrer kleinen Küche vor dem Transistorradio verbrachte, ebenso wahrhaftig wie synthetisch waren: Produkte einer Musik- und Magie-Industrie, die sich von unerfüllten Träumen nährt. Und von uneingestandenen Ängsten. Screamin' Jay, ein augenrollender Voodoo-Priester des Blues, der eine ganz andere Art des Schwarzseins verkörperte als Nina Simone, eine Gestalt wie aus einer Minstrel Show entsprungen, ein in ein Leopardenfell gehüllter Bass-Bariton, der den Scharlatan gab, um sich dem Mainstream zu verweigern, besaß in den Augen Burnsides nicht nur so etwas wie Genie, sondern etwas anderes, größeres: Er besaß glamourie.
Schriftsteller sind Leute, die wissen, dass sie am liebsten über Dinge reden, die sich mit einem Wort nicht sagen lassen, aber nicht aufhören können, es zu versuchen. Burnside erfindet solche Worte nicht, aber er schüttelt sie aus alten Wörterbüchern. Glamourie ist ein solches Wort, und wie das Wörtchen thrawn, das mit krumm, widerspenstig oder trotzig nur unzureichend übersetzt ist, verweist auch glamourie auf eine Sphäre des Überirdischen, nicht ganz Geheuren. Es gibt im Denken, Fühlen und Schreiben John Burnsides immer wieder Verweise auf eine Welt jenseits der Welt, eine Welt hinter den Spiegeln, eine bessere, aber vermutlich gefährliche Welt. Ein Teil der Liebe, von der Burnside erzählt, hat ihren Ursprung dort, und ein Teil der Liebe, die Burnside in seinem Leben verspielt, verstolpert, verweigert oder verloren hat, dürfte dorthin zurückgekehrt sein.
"I Put a Spell on You" ist eine Wanderung durch die Wildnis des Herzens, aber auch durch seine Einöde. Die Rezensentin des "Guardian" meinte, Frauen sollten dieses Buch unbedingt lesen, weil es mythische Muster männlichen Begehrens offenbaren würde. Das stimmt, aber wer weiß, ob sich mit dem Wissen viel anfangen lässt? Burnside ist, wie er schon in Büchern wie "Lügen über meinen Vater" (2011) und "Wie alle anderen" eindrucksvoll gezeigt hat, ein Meister der qualvollen Selbsterforschung. Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass Erkenntnis, vor allem, wenn es sich dabei um Selbsterkenntnis handeln sollte, in den meisten Fällen zu spät kommt. Manches in diesem Buch konnte man so ähnlich schon lesen, von den (kurzen) Passagen über den trinkenden, zur Gewalttätigkeit neigenden Vater über die anrührenden Erinnerungen an die duldsame Großmut der Mutter bis zu den dem Drogenkonsum und der Selbstzerstörung gewidmeten Jahren mit ihren psychotischen und paranoiden Begleiterscheinungen.
In einem Song von Rickie Lee Jones ist vom "dunklen Ende des Jahrmarkts" die Rede. John Burnside kennt diesen Ort nur zu gut. Man sollte ihm dorthin nicht folgen wollen. Aber man muss keine Angst haben, sich von diesem Buch verzaubern zu lassen.
John Burnside: "Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You".
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2019. 288 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Jagd nach dem Kindheitskometen: John Burnside dringt in die Welt hinter den Spiegeln vor und beweist dabei seinen Sinn fürs Magische.
Von Hubert Spiegel
Was liebt ein Junge, wenn er neun Jahre alt ist? Die Antwort, die John Burnside in seinem neuen Buch gibt, mag auch für viele Leser, die selbst einmal neunjährige Jungen waren, überraschend sein: Er liebt "fast alles", und zwar auf eine nahezu bedingungslose Weise. Aber weiß er es auch?
John liebte das dampfende Tauwasser in den Gossen und Gräben, den Bogen eines gut geworfenen Balls im Sommerhimmel, die Kyries und die schwarzen Gewänder am Karfreitag, den Hostienklecks auf der Zunge und die älteren Schwestern seiner Schulfreunde. Vor allem liebte er seine Cousine Madeleine - "aber selbst mein neunjähriges Ich wusste, dass ich nur verknallt war". Die meisten Männer, so Burnside, wünschten sich, die "leichte, jungenhafte Art zu lieben", die ihnen damals gegeben war, würde ewig währen. Aber das tut sie nicht. Wir ändern uns, Männer wie Frauen, wir lassen erst die Kinder, die wir waren, hinter uns, dann die verknallten Teenager und die jungen Liebenden, und wenn wir Pech haben - und das haben wohl viele von uns - verlieren wir die Geschöpfe, die wir einmal gewesen sind, vollständig aus den Augen. Nur in seltenen kostbaren Augenblicken blitzt so etwas wie ein Kindheitskomet in uns auf, um sogleich wieder zu vergehen.
Oft muss Burnside nicht viel tun, um die kometengleichen Bruchstücke seiner Vergangenheit hervorzulocken. Manche von ihnen sind ständig präsent, andere prasseln wie Hagelkörner im Frühjahrsgewitter auf ihn ein, wieder andere sind rare und kostbare Heimsuchungen in dunklen Nächten, die es reichlich gibt in diesem außergewöhnlichen Buch. Die große Liebe, der Kneipenflirt, die unheimliche Begegnung wechseln mit Einschüben, Exkursen und Abschweifungen über Songs, Begriffe, Fotografien von Diane Arbus oder den Klassengegensätzen in England heute und damals. Burnsides deutscher Verlag bezeichnet das Buch als Memoir, als Sammlung von Erinnerungen an persönliche Erlebnisse und Augenblicke also. Das ist gewiss nicht falsch, vermittelt aber nur einen allzu schwachen Eindruck von der Natur der Sache. "Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You" ist das Journal der schmerzreichen Erziehung eines Herzens, das sich jeder Erziehung widersetzt, das Umwege mehr liebt als Abkürzungen und aus Angst vor ausgetretenen Pfaden immer wieder auf abschüssiges Seelengelände gerät und dort den Halt verliert. So gleicht die Lektüre einem Gang durch Burnsides klandestines Archiv der Gefühle, in dem Persönliches und Allgemeines, Abgedrehtes und Intimes, Verborgenes und Verstiegenes nebeneinander ausharrt und auf den Augenblick wartet, in dem es ans Licht gehoben werden soll.
Burnside hat einen Sinn fürs Magische - in der Natur, in der Musik, im Klang der Worte und Wendungen, einen Sinn für Etymologien und Ableitungen, aber auch für alles Elementare, für das Rohe, das uns in der unendlichen Abfolge seiner Überlieferungen und Überformungen in immer neuen Gestalten begegnet. Was hat der Zauber in Nina Simones Fassung des Klassikers "I Put a Spell on You", den Burnside als kleiner Junge erstmals auf dem Plattenspieler seiner angehimmelten Cousine Madeleine hörte, mit dem Hokuspokus zu tun, den Screamin' Jay Hawkins in seiner Originalversion desselben Liedes veranstaltet? Mehr als nur die Melodie und die Worte.
Burnside kommt immer wieder auf einzelne Songs zu sprechen. Wie bei jedem von uns sind sie auch bei ihm Chiffren für bestimmte Lebensabschnitte und die in ihnen vorherrschenden Stimmungen und Gefühle, sie sind Zeitmaschinen, mit denen wir reisen können, aber zugleich sind sie auch der Zeit enthoben. Burnside spürt der Magie in Songs nach, die ihrerseits magischen Vorgängen wie der Liebe nachspüren, und vergisst darüber nicht, dass die sehnsuchtsvollen Momente, die seine Mutter in ihrer kleinen Küche vor dem Transistorradio verbrachte, ebenso wahrhaftig wie synthetisch waren: Produkte einer Musik- und Magie-Industrie, die sich von unerfüllten Träumen nährt. Und von uneingestandenen Ängsten. Screamin' Jay, ein augenrollender Voodoo-Priester des Blues, der eine ganz andere Art des Schwarzseins verkörperte als Nina Simone, eine Gestalt wie aus einer Minstrel Show entsprungen, ein in ein Leopardenfell gehüllter Bass-Bariton, der den Scharlatan gab, um sich dem Mainstream zu verweigern, besaß in den Augen Burnsides nicht nur so etwas wie Genie, sondern etwas anderes, größeres: Er besaß glamourie.
Schriftsteller sind Leute, die wissen, dass sie am liebsten über Dinge reden, die sich mit einem Wort nicht sagen lassen, aber nicht aufhören können, es zu versuchen. Burnside erfindet solche Worte nicht, aber er schüttelt sie aus alten Wörterbüchern. Glamourie ist ein solches Wort, und wie das Wörtchen thrawn, das mit krumm, widerspenstig oder trotzig nur unzureichend übersetzt ist, verweist auch glamourie auf eine Sphäre des Überirdischen, nicht ganz Geheuren. Es gibt im Denken, Fühlen und Schreiben John Burnsides immer wieder Verweise auf eine Welt jenseits der Welt, eine Welt hinter den Spiegeln, eine bessere, aber vermutlich gefährliche Welt. Ein Teil der Liebe, von der Burnside erzählt, hat ihren Ursprung dort, und ein Teil der Liebe, die Burnside in seinem Leben verspielt, verstolpert, verweigert oder verloren hat, dürfte dorthin zurückgekehrt sein.
"I Put a Spell on You" ist eine Wanderung durch die Wildnis des Herzens, aber auch durch seine Einöde. Die Rezensentin des "Guardian" meinte, Frauen sollten dieses Buch unbedingt lesen, weil es mythische Muster männlichen Begehrens offenbaren würde. Das stimmt, aber wer weiß, ob sich mit dem Wissen viel anfangen lässt? Burnside ist, wie er schon in Büchern wie "Lügen über meinen Vater" (2011) und "Wie alle anderen" eindrucksvoll gezeigt hat, ein Meister der qualvollen Selbsterforschung. Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass Erkenntnis, vor allem, wenn es sich dabei um Selbsterkenntnis handeln sollte, in den meisten Fällen zu spät kommt. Manches in diesem Buch konnte man so ähnlich schon lesen, von den (kurzen) Passagen über den trinkenden, zur Gewalttätigkeit neigenden Vater über die anrührenden Erinnerungen an die duldsame Großmut der Mutter bis zu den dem Drogenkonsum und der Selbstzerstörung gewidmeten Jahren mit ihren psychotischen und paranoiden Begleiterscheinungen.
In einem Song von Rickie Lee Jones ist vom "dunklen Ende des Jahrmarkts" die Rede. John Burnside kennt diesen Ort nur zu gut. Man sollte ihm dorthin nicht folgen wollen. Aber man muss keine Angst haben, sich von diesem Buch verzaubern zu lassen.
John Burnside: "Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You".
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2019. 288 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Cornelia Geißler sieht Helles in all dem Dunkel der Erinnerung von John Burnside. Die Kraft, die nötig ist, um sich souverän darin zu bewegen, wie es der Autor vormacht, scheint ihr immens und "anstiftend". Das leichte Unbehagen beim Griff zu diesem Autor wird diesmal für Geißler relativiert, da Burnside eine glückliche Jugend "behauptet" und von der Liebe in ihren Erscheinungsformen erzählt, angeregt durch Musik, "an seiner Biografie entlang", wie Geißler erklärt. Die Mutter des Autors kommt laut Geißler ebenso vor wie die Frauen seines Lebens. Die Form des mäandernden Erzählens stellt hohe Anforderungen an den Übersetzer, die Bernhard Robben aber aufs Beste erfüllt, so die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Für mich ist das das tollste Buch, was ich in diesem Jahr gelesen habe. (...) Ich glaube, dass es sich tatsächlich um den größten Schriftsteller unserer Tage handelt.« Matthias Brandt ZDF "Das literarische Quartett"