Am 15. März 1945 starb der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs an den Folgen von Deportation und Lagerhaft im KZ Buchenwald. Zwei Jahre später würdigte Georges Canguilhem in einem Nachruf Leben und Werk Halbwachs'. Im Vordergrund von Canguilhems Würdigung steht nicht die Frage des kollektiven Gedächtnisses, die bis heute vor allem im deutschsprachigen Raum mit dem Soziologen verbunden ist. Vielmehr akzentuiert Canguilhem das soziale Engagement von Halbwachs und dessen Interesse für das Verhältnis von Mensch und Materie. Demnach ist die Beziehung der Gesellschaft zu der von ihr geschaffenen Umwelt und ihre daraus resultierende »Lebensweise« (genre de vie) der zentrale Gegenstand der Halbwachs'schen Soziologie. In dieser Ausrichtung auf das gesellschaftliche Problem des Lebens liegt die gemeinsame Aktualität von Halbwachs und Canguilhem. Sie ist aber von der forcierten Diskussion nicht zu trennen, die im Frankreich der 1930er-Jahre um Antifaschismus, Kritische Theorie und Marxismus entbrannte. Was durch das gewaltsam unterbrochene Werk von Halbwachs greifbar wird, ist ein aufgeklärter Gegenpol zum rechtskonservativen Ökologiedenken, wie es sich gegenwärtig im Rekurs auf Martin Heidegger und Carl Schmitt neu formiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2022Umwelt als Produkt
Georges Canguilhem und Maurice Halbwachs
Über die französischen Intellektuellen, die im Konzentrationslager Buchenwald ermordet worden sind, wäre eine eigene Monographie zu schreiben. Zu den Bekanntesten unter ihnen gehört - neben dem Literaturkritiker Benjamin Crémieux und dem Sinologen Henri Maspero - der Soziologe Maurice Halbwachs.
Dass Halbwachs, einer der produktivsten Nachfolger Émile Durkheims und ein bedeutendes Mitglied der frühen Annales-Schule rund um Marc Bloch und Lucien Febvre, weitaus mehr gewesen ist als der Theoretiker des "kulturellen Gedächtnisses", auf den ihn die kulturwissenschaftliche Rezeption bisweilen reduziert hat, zeigt nun ein vom Weimarer Medienwissenschaftler Henning Schmidgen edierter Band.
Den Ausgangspunkt des klug komponierten Dossiers bildet ein Nachruf, den der Philosoph und Mediziner Georges Canguilhem zwei Jahre nach Halbwachs' Tod für seinen Kollegen an der Universität Straßburg verfasst hat. Trotz seines Zögerns, soziologische Erkenntnisse zu verallgemeinern, habe Halbwachs nicht zuletzt mit seinen Studien über die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse die Grundlagen zu einer philosophischen Anthropologie gelegt, in deren Zentrum das Verhältnis von Mensch und Materie stehe. Die Umwelt sei nicht naturgegeben, sondern ein Produkt menschlicher Arbeit, mithin ökonomischer und im weitesten Sinne technischer Faktoren, die eine entsprechende Lebensweise bedingten.
In einem ausführlichen begleitenden Essay arbeitet Henning Schmidgen die Konvergenzen zwischen Halbwachs' und Canguilhems Denken vor dem Hintergrund des Diskussionsstandes der Dreißigerjahre im Spannungsfeld von Geschichtswissenschaft, Biologie und Marxismus heraus und betont die Aktualität ihrer Begriffe. Gegen ein oft rückwärtsgewandtes Ökologiedenken, das die Natur verklärt, hätten sie die Umwelt als ein Problem gesellschaftlicher Organisation definiert.
Eine Auswahl von Dokumenten und Zeugenberichten zu Halbwachs' "langem Sterben" (Wolf Lepenies) infolge von Deportation und Lagerhaft erinnert zugleich an den organisierten Terror als negativen Horizont von Canguilhems Beschäftigung mit den Begriffen des Lebens, der Umwelt und der Normativität. Halbwachs, so bemerkt er in seinem Nekrolog, "hätte uns ein Werk geben können, in dem das kollektive Unglück sich in eine Erkenntnis seiner Wirkung verwandelt hätte". MAXIMILIAN GILLESSEN
Georges Canguilhem: "Über Maurice
Halbwachs".
Aus dem Französischen von Ronald Voullié. Mit einem Essay von Henning Schmidgen und Dokumenten zu Halbwachs in
Buchenwald.
August Verlag, Berlin 2022. 128 S., br., 12,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Georges Canguilhem und Maurice Halbwachs
Über die französischen Intellektuellen, die im Konzentrationslager Buchenwald ermordet worden sind, wäre eine eigene Monographie zu schreiben. Zu den Bekanntesten unter ihnen gehört - neben dem Literaturkritiker Benjamin Crémieux und dem Sinologen Henri Maspero - der Soziologe Maurice Halbwachs.
Dass Halbwachs, einer der produktivsten Nachfolger Émile Durkheims und ein bedeutendes Mitglied der frühen Annales-Schule rund um Marc Bloch und Lucien Febvre, weitaus mehr gewesen ist als der Theoretiker des "kulturellen Gedächtnisses", auf den ihn die kulturwissenschaftliche Rezeption bisweilen reduziert hat, zeigt nun ein vom Weimarer Medienwissenschaftler Henning Schmidgen edierter Band.
Den Ausgangspunkt des klug komponierten Dossiers bildet ein Nachruf, den der Philosoph und Mediziner Georges Canguilhem zwei Jahre nach Halbwachs' Tod für seinen Kollegen an der Universität Straßburg verfasst hat. Trotz seines Zögerns, soziologische Erkenntnisse zu verallgemeinern, habe Halbwachs nicht zuletzt mit seinen Studien über die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse die Grundlagen zu einer philosophischen Anthropologie gelegt, in deren Zentrum das Verhältnis von Mensch und Materie stehe. Die Umwelt sei nicht naturgegeben, sondern ein Produkt menschlicher Arbeit, mithin ökonomischer und im weitesten Sinne technischer Faktoren, die eine entsprechende Lebensweise bedingten.
In einem ausführlichen begleitenden Essay arbeitet Henning Schmidgen die Konvergenzen zwischen Halbwachs' und Canguilhems Denken vor dem Hintergrund des Diskussionsstandes der Dreißigerjahre im Spannungsfeld von Geschichtswissenschaft, Biologie und Marxismus heraus und betont die Aktualität ihrer Begriffe. Gegen ein oft rückwärtsgewandtes Ökologiedenken, das die Natur verklärt, hätten sie die Umwelt als ein Problem gesellschaftlicher Organisation definiert.
Eine Auswahl von Dokumenten und Zeugenberichten zu Halbwachs' "langem Sterben" (Wolf Lepenies) infolge von Deportation und Lagerhaft erinnert zugleich an den organisierten Terror als negativen Horizont von Canguilhems Beschäftigung mit den Begriffen des Lebens, der Umwelt und der Normativität. Halbwachs, so bemerkt er in seinem Nekrolog, "hätte uns ein Werk geben können, in dem das kollektive Unglück sich in eine Erkenntnis seiner Wirkung verwandelt hätte". MAXIMILIAN GILLESSEN
Georges Canguilhem: "Über Maurice
Halbwachs".
Aus dem Französischen von Ronald Voullié. Mit einem Essay von Henning Schmidgen und Dokumenten zu Halbwachs in
Buchenwald.
August Verlag, Berlin 2022. 128 S., br., 12,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im März 1945 starb der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs im Konzentrationslager Buchenwald. Dass der zwei Jahre später veröffentlichte Nachruf seines Kollegen Georges Canguilhem nun auf Deutsch vorliegt, ist für Rezensent Maximilian Gillessen ein Glücksfall. Denn die Gedenkschrift zeige, dass der Theoretiker bis heute in den Kulturwissenschaften nicht den Platz einnimmt, der ihm gebührt. Dass dem Band ein erklärendes Dossier beigefügt ist, hätte Gillessen allerdings nicht nur bejubeln, sondern zum Maßstab seiner Kritik machen sollen. Denn wer sich in der philosophischen Anthropologie nicht bereits bestens auskennt, verliert sich in Gillessens hoch gelehrter Kritik.
© Perlentaucher Medien GmbH
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