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Palästina, Israel und die Suche nach der Lösung
Über Palästina vereint zwei neu entdeckte, bisher unbekannte Texte von und mit Hannah Arendt. Der Aufsatz »American Foreign Policy and Palestine« wurde 1944 von Arendt vor der Staatsgründung Israels verfasst und erst jetzt in einem Archiv gefunden. 14 Jahre später ist sie Mitglied eines Expert:innen-Rats, der in dem Bericht »The Palestine Refugee Problem« eine Lösung für die Situation der Geflüchteten im Nahen Osten formulierte. Diese beiden außergewöhnlichen Fundstücke belegen eindrücklich Arendts lebenslanges Ringen um einen Frieden in Israel und Palästina.
Herausgegeben von Thomas Meyer
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Produktbeschreibung
Palästina, Israel und die Suche nach der Lösung

Über Palästina vereint zwei neu entdeckte, bisher unbekannte Texte von und mit Hannah Arendt. Der Aufsatz »American Foreign Policy and Palestine« wurde 1944 von Arendt vor der Staatsgründung Israels verfasst und erst jetzt in einem Archiv gefunden. 14 Jahre später ist sie Mitglied eines Expert:innen-Rats, der in dem Bericht »The Palestine Refugee Problem« eine Lösung für die Situation der Geflüchteten im Nahen Osten formulierte. Diese beiden außergewöhnlichen Fundstücke belegen eindrücklich Arendts lebenslanges Ringen um einen Frieden in Israel und Palästina.

Herausgegeben von Thomas Meyer
Autorenporträt
Hannah Arendt (1906-1975) promovierte 1928 bei Karl Jaspers. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Sie war Gastprofessorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte an der New School for Social Research in New York.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gäbe es ein "Museum der verpassten Gelegenheiten", dieses Buch wäre ein äußerst passender Grundstock, findet der Philosoph und Rezensent Dieter Thomä. Er informiert zuerst über Herkunft der Texte und Hannah Arendts Anteil daran. Dann legt er dar, wie die Texte Fragen zum Konflikt behandeln, die uns bis heute beschäftigen. Arendts Text von 1944 beschreibt er als eine etwas idealistische Einschätzung der amerikanischen Außenpolitik, aber er enthält für Thomä auch einige Kassandrarufe: Dass der Nahe Osten zum Pulverfass wird, sagt Arendt schon hier voraus.Bei dem Text von 1958 hat Arendt nur als Koautorin mitgewirkt. Besonders bemerkenswert scheinen Thomä hier gerade die Fragen, die als "irrelvant" ausgekklammert werden. Und das sind ausgerechnet die Fragen nach den historischen ansprüchen der Araber und der Israelis, die den Konflikt bis heute vergiften. Sie auszuklammern, so Thomä, wäre vielleicht auch ein Weg zum Frieden.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2024

Wider die Logik der Umsiedlung

von Omri Boehm

Es ist noch immer nicht zu spät": So lauten die letzten Worte von Hannah Arendts Aufsatz "To Save the Jewish Homeland", den sie 1948 verfasste, als Israel um sein Überleben und seine Unabhängigkeit kämpfte und bereits Hunderttausende Palästinenser aus Städten wie Haifa, Tiberias und Akkon vertrieben worden waren. "Selbst wenn die Juden den Krieg gewinnen sollten", warnte Arendt, wäre die Errichtung eines jüdischen Nationalstaats inmitten einer "vollkommen feindlichen" arabisch-palästinensischen Mehrheit zum Scheitern verurteilt. Das jüdische Volk würde zu einem "jener Kriegerstämme verkommen" müssen, über deren Schicksal wir seit den Tagen "Spartas" unterrichtet sind, und sich letztlich nicht nur von der Völkergemeinschaft, sondern auch vom Weltjudentum isolieren. Auf diese Weise, mahnte sie, würden mit der Gründung eines jüdischen Nationalstaats in Palästina "die einzigartigen Chancen und einzigartigen Errungenschaften des Zionismus in Palästina zerstört".

Vier Jahre zuvor hatte Arendt in ihrem Aufsatz "Zionism Reconsidered" bereits alarmiert den tektonischen "Wendepunkt in der Geschichte des Zionismus" vermerkt - vom annähernd einvernehmlichen Aufbau einer jüdischen Heimstätte in einem binationalen Staat zu einem souveränen Staat - und darauf hingewiesen, dass letzterer untragbar wäre und zu einer Politik der "Umsiedlung" von Palästinensern führen müsste. Das eigentliche Ziel "der Juden in Palästina ist der Aufbau einer jüdischen Heimstätte", schrieb sie. "Dieses Ziel darf niemals der Pseudo-Souveränität eines jüdischen Staates geopfert werden. (...) Es ist noch immer nicht zu spät."

So viel ist bekannt. Nicht bekannt ist, dass sich Arendt zehn Jahre später einem Gremium von Nahostexperten und Intellektuellen am New Yorker Institute for Mediterranean Affairs anschloss, um einen gemeinsamen Text zu verfassen, "Das Palästinensische Flüchtlingsproblem", der das Programm einer Intervention vorstellte: "Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung". Diesen der Arendt-Leserschaft bislang unbekannten Text, der jetzt unter dem Titel "Über Palästina" zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt - nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober, da der Gazastreifen dem Erdboden gleichgemacht ist, 1,9 Millionen Palästinenser vertrieben worden sind und im Westjordanland systematisch palästinensische Dörfer verdrängt werden -, nennt Arendts Biograph und Herausgeber Thomas Meyer mit gutem Grund "eine Sensation".

In seiner jüngst veröffentlichten Biographie hat Meyer einen neuen Blick auf Arendts Verhältnis zum Zionismus und die Bedeutung ihres "Aktivismus" geworfen, indem er ihren intensiven Einsatz für jüdische Flüchtlinge thematisiert. Der jetzige, bislang übersehene Text lässt sich als Erweiterung dieses Themas verstehen, in deren Rahmen sich die Verfasserin von "Wir Flüchtlinge" einer Gruppe anschließt, um einen praktischen Vorschlag zu entwickeln, diesmal zugunsten der Palästinenser und nicht der jüdischen Flüchtlinge. Wenn man Arendts Zionismus richtig versteht, ist dies mit ihrem zionistischem Aktivismus mehr als nur vereinbar: Als der junge jüdische Staat gerade aufzublühen begann, sah die weitsichtige Philosophin sehr genau, dass es ohne eine politische Lösung für die Millionen palästinensischer Flüchtlinge an seinen Grenzen unweigerlich irgendwann zu spät wäre.

Das Hauptargument des Textes besagt, dass eine Lösung sowohl notwendig als auch möglich ist. Notwendig nicht nur als integraler Bestandteil eines Friedensprogramms, sondern tiefer gehend: als ein unvermeidliches Problem, das "zunächst ... gelöst werden" muss, um die Voraussetzung für einen künftigen Frieden zu schaffen. Die Autoren lassen somit die genauen Details einer künftigen Einigung bewusst offen und behaupten, dass neben der "humanitären" Pflicht, den Flüchtlingen wieder "zu einem Leben in Anstand und Würde" zu verhelfen, eine "gerechte Lösung" gefunden werden müsse, wenn "sich das psychologische Klima tatsächlich ändern und eine echte Aussicht auf einen stabilen Frieden in diesem Teil der Welt bestehen soll".

Dementsprechend enthält der Text einen aufschlussreichen Abschnitt mit der Überschrift "Nicht relevante Aspekte", der sich erhebliche Mühe gibt, diese Aspekte hintanzustellen. Zu ihnen zählen einige der heute vertrautesten Fragen: "Wer trägt die Schuld?", "Welche historischen Ansprüche haben das jüdische beziehungsweise das arabische Volk?", "Was erfordert absolute Gerechtigkeit?" und: "Wer hat recht?". Ebenfalls einer zukünftigen Behandlung überlassen bleiben müsse, so die Gruppe, ob die Palästinenser "ein Bündnis (confederation) mit Israel (wie in der UN-Resolution für Palästina von 1947 vorgeschlagen) oder mit einem arabischen Staat" eingehen. "Erst nachdem das Flüchtlingsproblem gelöst wurde", wird ein Friedensschluss zu verhandeln sein.

Zwei Aspekte fallen hieran auf. Zum einen: Warum muss erst das Flüchtlingsproblem gelöst werden, damit ein Frieden möglich wird? Die Antwort lautet, dass ethnische Säuberungen als vielversprechendes "politisches" Modell erscheinen werden, als Alternative zur Notwendigkeit einer Friedensvereinbarung, wenn gewaltsame Bevölkerungsumsiedlungen erst einmal als plausible Methode der Konfliktlösung durchgehen.

Zum anderen scheint dem Dokument eine unorthodoxe Lesart des Teilungsplans der UN von 1947 zugrunde zu liegen. Man glaubt oft, jener Beschluss hätte die vertraute Zweistaatenlösung ins Spiel gebracht, die Israel akzeptiert hätte und die heute die legitime Grundlage für jede Friedenslösung böte. Eine Infragestellung dieses Modells durch (kon-)föderative Vorschläge gilt deshalb als prinzipielle Abkehr von akzeptierten Grundsätzen, um nicht zu sagen als Infragestellung von Israels Existenzrecht, wie es die UN-Resolution von 1947 anerkennt.

"Das Palästinensische Flüchtlingsproblem" bezweifelt dieses verbreitete Missverständnis. Der sogenannte Teilungsplan war in Wirklichkeit ein "Teilungsplan mit Wirtschaftsunion" und sollte eine uneingeschränkte "Zollunion", ein "gemeinsames Währungssystem", ein gemeinsames Bahnsystem, staatenübergreifende Autobahnen, Post- und Kommunikationssysteme, Häfen und Flughäfen einschließen. Er sollte auch "freien Transit" im gesamten Territorium garantieren, der durch einen gemeinsamen "Wirtschaftsrat" inklusive "Gericht" sichergestellt würde. Ein derartiger Plan passt mühelos zu Arendts Axiom, dass Frieden in der Region nur auf "einer tragfähigen Grundlage jüdisch-arabischer Zusammenarbeit" erreicht werden könne, was sie mit der Warnung verband: Wenn "jüdische und arabische Führer gleichermaßen behaupten, es gebe ,keine Brücke'", dann werde das Gebiet bis zur völligen Zerstörung verfallen. Daher von Neuem die Notwendigkeit, das Problem der palästinensischen Flüchtlinge anzugehen.

Auf der einen Seite gilt: "Hass dauert nicht ewig", eine "gerechte Lösung kann die Feindseligkeit auflösen und ein neues Klima für eventuelle Kooperation schaffen". Auf der anderen Seite wird es ohne Behandlung der Flüchtlingsproblematik unmöglich werden, die Teilung zwischen Juden und Palästinensern zu überwinden, und die Weigerung, dieses Problem anzugehen, würde das Modell der Umsiedlung statt jenes der Zusammenarbeit (oder gar Konföderation) zementieren.

"Der Kern des Problems", wie die Mitglieder des Gremiums hervorheben, ist der "augenscheinlich unversöhnliche Konflikt" zwischen dem Rückkehrrecht der Flüchtlinge und Israels Behauptung, dies würde "seine Wirtschaft in Unordnung bringen", "den jüdischen Charakter des Staates entstellen" und eine "Fünfte Kolonne" installieren. Das wirtschaftliche Argument ließe sich vermutlich aus dem Feld schlagen, indem man die Israelis daran erinnert, dass sie "planen, eine noch größere Zahl von Juden aufzunehmen". Ihre "Abneigung" dagegen, "dass der Staat dann nicht mehr so überwiegend jüdisch sei wie jetzt", wäre zu überwinden, indem man sie daran erinnert, "dass die zionistischen Führer bis zur Flucht der Araber im Jahr 1948 immer geplant hatten, mit den Arabern in einer Art binationalem Staat zusammenzuleben".

Zugegebenermaßen ist das der Punkt, an dem einige der ideologischen Fragen, die vermeintlich hintangestellt wurden, durch die Hintertür wieder hereinkommen. Das macht die Argumente als historische Beobachtungen aber nicht weniger zutreffend und als praktische Anregungen auf lange Sicht nicht weniger stichhaltig. Ben-Gurion hatte, bevor die Vorstellung einer Umsiedlung an Reiz für ihn gewann, selbst binationale Konstellationen vorgeschlagen und angemerkt: "Alle anderen Vorstellungen untergraben unsere Existenz in Palästina." Das kommt Arendts Behauptung, man dürfe ein jüdisches Heimatland nicht jüdischer Souveränität opfern, doch recht nahe.

1958 stützte sich die Auffassung des Gremiums, der Widerspruch zwischen dem Recht auf Rückkehr und der Existenz Israels sei "nicht unüberbrückbar", auf die Tatsache, dass damals vier Fünftel der Flüchtlinge im "arabischen Palästina", das heißt im Westjordanland und im Gazastreifen lebten und sich dort dauerhaft ansiedeln könnten. Die 200.000 Flüchtlinge außerhalb des palästinensischen Territoriums könnten vor die Möglichkeit gestellt werden, entweder in ihre alte Heimat in Palästinas "arabischem Teil" zurückzukehren oder in ein drittes arabisches Land zu gehen, in jedem Fall mit einer angemessenen Entschädigung für ihren verlorenen Besitz. Das Gremium fasst dazu die "Einrichtung einer UN-Sonderkommission beziehungsweise Rückführungs- und Umsiedlungsbehörde (RRA)" ins Auge, die die Umsiedlungen organisiert und die vorgeschlagenen Sicherheitsgarantien für Israel und die Flüchtlinge überwacht.

Dieser Lösungsvorschlag ist zweifellos passé, und sei es auch nur, weil sich 66 Jahre später die Anzahl der Flüchtlinge und ihre Ansprüche im Laufe der Generationen geändert haben. Und wie man nicht erst erwähnen muss, hat Israel inzwischen auch das "arabische Palästina" besetzt und besiedelt, also gerade die Gebiete, die der Schlüssel zu seinem Erfolg gewesen wären. Während aber die konkrete Lösung des Gremiums Geschichte ist, sind die hinter ihr stehenden Grundsätze so relevant wie eh und je, da das palästinensische Flüchtlingsproblem und die Umsiedlungspolitik mit voller Wucht zurückkehren: In Gaza ist heute mehr als die doppelte Menge an Flüchtlingen vertrieben als 1948.

"Das Palästinensische Flüchtlingsproblem" erscheint in Deutschland kurz nach der deutschen Ausgabe von Benny Morris' Buch "1948. Der erste arabisch-israelische Krieg". 2004 gab der einflussreiche israelische Historiker der Zeitung "Haaretz" ein Interview. "Natürlich", sagte er, "Ben-Gurion war ein Umsiedlungsanhänger ... [aber] es gibt historische Umstände, die eine ethnische Säuberung rechtfertigen." Für Morris beging Ben-Gurion "1948 einen schwerwiegenden, historischen Fehler". Obwohl er die demographische Frage "und die Notwendigkeit, einen jüdischen Staat ohne große arabische Minderheit zu gründen, verstand, bekam er im Laufe des Krieges kalte Füße". Wenn er schon dabei war, "Vertreibungen zu begehen, dann hätte er die Sache vielleicht zu Ende bringen sollen". Wenn man ihn 2004 fragte, ob er die Umsiedlung von Palästinensern unterstütze, antwortete er: "Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. An dieser Tat möchte ich nicht beteiligt sein. Unter den gegenwärtigen Umständen ist sie weder moralisch noch realistisch."

2024 ist keine Auseinandersetzung mit Morris' Werk vollständig, wenn sie nicht die Frage aufwirft: Ist der Zeitpunkt vielleicht gekommen? Während die Fanatiker in Israels Kabinett dies offensichtlich bejahen, haben auch viele andere mittlerweile gelernt, die Logik der Umsiedlung durch offene Unterstützung oder stillschweigende Duldung als notwendig, moralisch oder realistisch zu akzeptieren. Mit Arendt und den Verfassern von "Das Palästinensische Flüchtlingsproblem" muss heute gesagt werden, dass dies ebenso unmoralisch wie undurchführbar ist.

Das Vertreibungsmodell von 1948 muss endgültig zerschlagen werden, statt es zu zementieren und zu wiederholen. Die Flüchtlinge im Gazastreifen müssen sofort nach Hause zurückkehren können. Dies muss geschehen, um ihr Recht auf Anstand und Würde zu gewährleisten und um zu verhindern, dass eine ethnische Säuberung zum angeblich realistischen Modell für das wird, was im Westjordanland und in Galiläa zu "erreichen" wäre, wenn der Krieg andauert und sich ausweitet. Die Rückkehr der Flüchtlinge sicherzustellen wird nicht von selbst Frieden bringen; im Moment ist es aber die notwendige Minimalbedingung, um seine Möglichkeit aufrechtzuerhalten. Wir sollten nicht akzeptieren, dass es zu spät geworden ist.

Aus dem Englischen von Michael Adrian

Hannah Arendt: "Über Palästina". Herausgegeben von Thomas Meyer, aus dem Englischen von Mike Hiegemann, 272 Seiten, 22 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
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»Die beiden Texte lesen sich mit Gewinn. Sie sind mehr als Zeugen ihrer Zeit und Dokumente von Arendts politischer Publizistik.« Konstantin Sakkas (CH) Neue Zürcher Zeitung 20240706

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2024

Hannah Arendt, extended version
Rund fünfzig Jahre nach ihrem Tod erscheint ein Buch erstmals auf Deutsch,
in dem die große Publizistin das palästinensische Flüchtlingsproblem löst. Im Ernst? Na ja.
Das Problem mit dem Totsein ist, dass man sich nicht wehren kann. Normalerweise ist das Trauerspiel nach ein paar Jahren beendet – die Kinder verscherbeln das Erbe, die Erstausgaben-Sammlung landet im Altpapier, der Partner heiratet eine, die so gar nicht zu ihm passt. Und dann hat man endlich seine Ruhe.
Wenn man aber zu den wichtigsten Denkern des 20. Jahrhunderts gehört, wenn man sich maßgeblich mit einem Land beschäftigte, das sich, sagen wir, seit dem 7. Oktober 2023 erhöhter internationaler Aufmerksamkeit erfreut, wenn man jüdisch ist, Hunderte jüdische Jugendliche vor dem Verderben rettete und Israel schon kritisierte, bevor es Staat war, wenn man dazu noch so dermaßen hanseatisch rauchte, wie es sonst nur Helmut Schmidt vermochte, und schon zu Lebzeiten jedes charakteristische „Wissen Sie“ ikonisch klang, dann lassen sie einen auch fünfzig Jahre nach dem Tod noch nicht in Frieden.
Dann denken Verlage wie Piper, dass, wo „Hannah Arendt“ draufsteht, Verkäufe drin sind. Und Herausgeber wie der Politikwissenschaftler Thomas Meyer, dass „historisches Wissen zum Verständnis der Gegenwart beitragen kann“ und daran erinnert, dass „Menschliches nicht verloren“ gehen darf – womit er ja recht hat. Und dann liegt da plötzlich ein Buch, auf dessen leuchtend orangefarbenem Cover so groß ARENDT steht, dass jeweils nur drei Buchstaben in eine Zeile passen (aus dem Augenwinkel kann man meinen, es stünde: „ARE NOT“ drauf). Das Buch hat 265 Seiten, von denen 16 von Arendt geschrieben worden sind. Der Rest, wissen Sie, are not.
Die 16 Seiten – ein Artikel, den Arendt 1944 über die amerikanische Palästina-Politik geschrieben hatte, der in letzter Sekunde nicht veröffentlicht wurde – sind insofern eine Bereicherung, als dass sie, wie Meyer im Nachwort feststellt, den Kern Arendts späterer Argumentation zur „jüdischen Heimstätte“ enthalten. Nicht rasend überraschend, aber wirklich Arendt und nicht irgendeine Dachboden-Apokryphe, die ihr selber peinlich wäre.
Arendt reagiert in dem Text auf die Wagner-Taft-Resolution, die ein „National Home for Jewish People“ forderte und Anfang 1944 wiederholt vertagt wurde. Ein „schwerer Schlag“ für das jüdische Volk, das zu diesem Zeitpunkt eine Heimstätte wirklich gut hätte gebrauchen könnte. Und, so Arendt, ein Schlag für das amerikanische Volk. Denn es gibt 1944 fünf Millionen jüdische Amerikaner, die sich um ihre Verwandten in Europa sorgen. Einer der vielen guten, weil aus heutiger Perspektive ungewöhnlichen Gedanken des Textes: Da die amerikanische Bevölkerung sich aus Einwanderern aus der ganzen Welt zusammensetzt, ist Amerika das einzige Land der Erde, „welches wirklich, ohne utopisch oder imperialistisch zu werden, Weltpolitik treiben kann“. Denn wenn Amerika sich einmischt, zum Beispiel für die Juden, tut es das im Interesse der eigenen (jüdischen) Bevölkerung. Dass es das jetzt nicht tut (trotz allem, was 1944 in Europa geschieht), erklärt Arendt mit einem einzigen Wort: „Öl“.
Die arabischen Staaten haben es, Amerika will es (für Arendt verständlicherweise) und trotzdem sollte es sich an seine Ideale erinnern, die sind nämlich in Wahrheit stabiler als der Opportunismus der Ölstaaten. Abgesehen davon kann es durchaus sein, dass die Juden das amerikanische Verlangen nach Öl und, zunehmend entscheidend, nach Landungsorten für die Luftschifffahrt besser wahren, eine Pipeline loyaler bewachen würden, als es die Araber täten. In diesem Fall, wenn der amerikanische Opportunismus die Juden für sich entdeckt, sollten diese es trotzdem dringend vermeiden, sich die jüdische Heimstätte durch amerikanisches Protektorat zu sichern. Denn, „jedes Volk, das, wie heute die Araber, um kurzer Augenblicksvorteile das gute Verhältnis zu seinen Nachbarn aufs Spiel setzt, wird etwaige Privilegien, welche durch weit entfernte Mächte garantiert sind, sehr teuer, vermutlich zu teuer erkaufen“.
Das sind die Hannah-Arendt-Sätze, die aus heutiger Sicht prophetisch wirken, die man bewundert, schon allein deshalb, weil man nicht verstehen kann, wie viel Gleichmut ein Mensch gegenüber der eigenen Verfolgung, der Ermordung der eigenen Angehörigen und Freunde haben muss, um 1944 zu denken: Wenn die Amerikaner sagen, sie wollen uns beschützen, sollten wir das definitiv ablehnen.
Genauso fragt man sich, ob Arendt recht hat, wenn sie die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa als Beweis für die integrationsverhindernde Wirkung von Protektion sieht. Also: Wurden die Juden deshalb so oft verfolgt, weil sie so oft beschützt wurden, oder suchten sie so oft Schutz, weil sie so heftig verfolgt wurden? Als gute Universalistin muss Arendt auf Ersteres setzen – und es wäre schön, wenn es genau so wäre. Wenn der Antisemitismus Resultat jüdischen Verhaltens wäre, und nicht, sagen wir, jahrtausendealte christliche und zu einem gewissen Teil muslimische Tradition, und damit eben nicht eine Bedrohung, mit der man umgehen muss, sondern eine, die man durch eine Verhaltensänderung überwinden kann. Gleichzeitig muss man zugeben, dass auf Protektion zu verzichten in der Hoffnung, dass sich Akzeptanz so (endlich) erkaufen lässt, eine teure Wette ist, für ein Volk, das 1944 im Begriff ist, sechs Millionen Leben zu verlieren, an die Vernichtungsmaschinerie eines Landes, in dem die Protektion jüdischer Bürger eher Gerücht als Realität war.
Aber genau weil sie solche Fragen aufwirft, weil sie gegen die Juden, von denen sie in ihrer Zeit mit der Jugend-Aliyah Hunderte rettete, genauso hart austeilt wie gegen die Araber, die sich auf nichts einigen können „als auf gemeinsame Feindschaft gegen das Jüdische Nationalheim“. Oder eben gegen die Briten, die Araber und Juden gleichermaßen wie Kolonialvölker behandeln und nur an den eigenen Vorteil denken, selbst wenn das bedeutet, den Juden die Einreise ins Mandatsgebiet zu verwehren – und dadurch die Ausreise aus Europa. Genau für diesen eiskalten Humanismus liest man Arendt, also alle sechzehn Seiten!
Und damit wäre man auf Seite 28 (der Text beginnt auf Seite 13), will heißen, hier fängt das Buch ja im Grunde erst an. Und zwar mit etwas, das Meyer „bei aller Skepsis gegenüber dem Begriff – als ‚Sensation‘ bezeichnet“: dem 1958 erschienenen Bericht des Institute for Mediterranean Affairs mit dem Titel „Das palästinensische Flüchtlingsproblem: Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung“, zu deren siebzehn namentlich aufgelisteten Verfassern auch Hannah Arendt gehört. Was das Ganze so sensationell macht, ist, zum einen, dass der Text bislang nicht mit Arendt in Verbindung gebracht wurde (sondern mit dem Arendt verhassten Peter Bergson aka Hillel Kook), zum anderen, dass Arendt für diesen Text, laut Meyer, zum „ersten und einzigen Mal“ mit anderen zusammenarbeitete.
Ob das den Text zum Arendt-Text, sogar zum ARE-NDT-Text macht, muss jeder, der mal in einem Gremium mit 16 anderen Intellektuellen saß und am Ende als einer von 17 Autoren aufgelistet wurde, selbst entscheiden. Wobei sich festhalten lässt (was Meyer im Nachwort gewissenhaft tut), dass Arendt den Text nach seinem Druck ausschließlich und kommentarlos an den Philosophen Karl Jaspers schickte, und auf sein Lob nie antwortete – obwohl sie eigentlich dazu neigte, ihre Texte rege mit ihren Freunden zu teilen und zu diskutieren. Diesen Text wiederum erwähnte sie nie, nirgends. Was einen zu der altehrwürdigen, gerade erfundenen Faustregel bringt: Je höher die Autorenzahl, desto geringer die Autorenschaft. Und: Je apokrypher die Texte, desto größer die „Sensation“ (und die Cover-Typografie).
Und da sind die vielen Anhänge noch gar nicht erwähnt. Obwohl die teilweise wirklich amüsant sind (wenn man es schafft, die realen Folgen kurz auszublenden). Zum Beispiel die schriftliche Debatte zwischen Fayez A. Sayegh, dem wichtigsten Sprecher der arabischen Nationen in den Vereinigten Staaten, und Yekutiel H. Orgel, dem Presseattaché der israelischen Botschaft in Washington, die sich wechselseitig die „eklatantesten Halbwahrheiten“ (Orgel an Fayaz) und „Beweisfälschung“ (Fayaz an Orgel) vorwerfen. Und den Leser mit ihren Darstellungen daran erinnern, dass es Konflikte gibt, in denen beide Seiten ihren Anspruch und die Täterschaft des Gegenübers absolut schlüssig nachweisen können – und zwar mit deutlich weniger Fälschung, als es die andere Seite unterstellt, einfach, indem sie aus einem Meer aus Fakten nur die (für ihre Seite) wichtigen herausgreifen.
Und darin ist das ganze Buch tatsächlich wertvoll. Denn was die Autoren des Berichts tun, wie sie das Flüchtlingsproblem „lösen“, ist inspirierend, nicht weil ihre Lösung (eine Mischung aus Repatriierung und Schadenersatz) heute (und ehrlicherweise nicht mal damals) durchsetzbar wäre, sondern, weil der Lösungsweg der einzig mögliche ist, in einem Konflikt, über den man sich in seinen historischen Dimensionen ewig streiten kann.
Er geht so: Es gibt Menschen, die leben als Flüchtlinge. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind das elf Millionen Menschen. Nur dass die meisten innerhalb weniger Jahre in ihre alte Heimat zurückkehrten oder aber in ihre neue Heimat integriert wurden. Das gilt allerdings nicht für die palästinensischen Flüchtlinge, die 1958 immer noch als Flüchtlinge leben (oder eben 2024). Warum sie das tun – im Bericht wird der Vorwurf zitiert, dass einige der Flüchtlinge gar keine „echten“ Geflüchteten seien, sondern lediglich so täten, da die Versorgung in den Flüchtlingslagern besser sei als in den umliegenden arabischen Ländern – ist egal. Wer schuld hat an diesem spezifischen Problem (die Juden, die sie vertrieben haben, die Araber, die ihnen gesagt haben, sie sollten fliehen, oder die Anrainerstaaten, die sie mutwillig nicht integrierten, um so eine Waffe im diplomatischen Kampf gegen Israel zu bewahren), ist egal. Das Einzige, was zählt, ist, dass Flüchtling zu sein – also nicht die vollen Bürgerrechte zu genießen und meist keine Möglichkeit zu haben, einer Arbeit nachzugehen – ein für Menschen auch bei guter Versorgung schrecklicher Zustand ist, einer, der zu psychischen, sozialen und politischen Schäden führt, den man dringend beheben muss. Und da man ihn 1958 (2024) anscheinend nicht abstrakt beheben kann, muss man ihn pragmatisch angehen, Flüchtling für Flüchtling, Mensch für Mensch: ein Zuhause finden, eine Staatsbürgerschaft, eine Arbeit,und die damit verbundene Sinnhaftigkeit. Lösen, was sich lösen lässt, in der Hoffnung, dass das Große aus dem Kleinen folgen kann.
An dieser Stelle möchte Hannah Arendt daran erinnern, dass in Deutschland etwa 200 000 palästinensischstämmige Menschen leben, die genaue Zahl lässt sich schwer erheben, denn viele von ihnen sind bis heute staatenlos. Einige leben hier seit Generationen, dürfen nicht wählen und nicht arbeiten – sie verfristen ihr Leben, und ab und zu wundert man sich, dass sie sich nicht ganz genauso verhalten, wie man es sich von guten Staatsbürgern wünscht. Hannah Arendt schreibt, dass man diesen Menschen dringend eine deutsche Staatsbürgerschaft anbieten sollte. Zumindest wehrt sie sich nicht gegen diese Behauptung.
NELE POLLATSCHEK
Diesen Text
erwähnte sie nie,
nirgends
Der skizzierte Lösungsweg
ist der einzig mögliche.
Aber ist er durchsetzbar?
Wer schuld hat an
diesem spezifischen
Problem, ist egal
Kann sich gegen die plötzliche Rolle als Nahostkonfliktlöserin nicht mehr wehren: Hannah Arendt.
Foto: dpa
Hannah Arendt: Über Palästina. Hg. von Thomas Meyer, Piper Verlag,
München 2024,
272 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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