Um das Unerhörte der Lagererfahrung vermitteln zu können, entwickelte Warlam Schalamow eine einzigartige literarische Sprache. Er wollte den Leser hineinziehen in den Lageralltag und die Differenz zwischen Erlebtem und Erzähltem so gering wie möglich halten, um so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben: "Er wollte einzig authentische Literatur schaffen, eine paradoxe nicht-literarische Literatur, eine Anti-Literatur. Für das Unsagbare der Lager-Erfahrung sollte eine neue, unerhörte Schreibart entstehen." (Ralf Dutli, Literaturen)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.08.2009Aus den Innereien des Lebens
Warlam Schalamow als Theoretiker: „Über Prosa”
„Ein Leben, an das man sich mit dem ganzen Körper erinnert.” Wem das ein Ideal ist, der, hätte Warlam Schalamow wohl gesagt, hat wenig vom Leben mitbekommen. Wie der „schriftstellernde Tourist” Ernest Hemingway, „so viel er auch in Madrid gekämpft hat”. Er war, so Schalamow, trotz seines „aktiven Lebens” immer als Beobachter dabei, „draußen”, habe diese Position nie überwunden. Nicht wie Orpheus, nur wie Pluto, der dem Hades entsteigt, aus den Innereien des Lebens, könne wahrhaft moderne Prosa geschrieben werden, meinte Schalamow, der zwei Jahrzehnte in Stalins Lagern zugebracht hatte, worauf seine „Erzählungen aus Kolyma” basieren, die auf atemberaubende Weise aus der Perspektive kaum mehr wahrnehmungsfähiger Lagerhäftlinge erzählen.
Jetzt hat der Matthes & Seitz Verlag, der Warlam Schalamow in Deutschland wieder entdeckt hat, ein Büchlein herausgegeben, das einige wichtige theoretische Texte umfasst, die der Autor zurückließ, bevor er 1982 starb, geistig und körperlich völlig zerrüttet: „Über Prosa”. Wobei viele Aspekte seiner „Theorie” nur in Briefen, dort allerdings besonders anschaulich, ausgesprochen sind.
Bekannt ist etwa das lobend-vernichtende, zwanzigseitige Schreiben, das Schalamow an Solschenyzin richtete, um ihm zu „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch” zu gratulieren, dabei aber dutzendfach vor den Kopf zu stoßen: Keine Läuse gebe es in Solschenizyns Lager. Katzen, die in Wirklichkeit gegessen worden wären, liefen in diesem Phantasiereich herum, schreibt Schalamow mit dem Hohn des Kenners. Auch die von ihm hochgeschätzte Nadeshda Mandelstam muss Schalamow korrigieren. Sie schreibe von der schrecklichen und „erniedrigenden Tätigkeit des Latrinenfuhrmanns”. Dabei war das eine Arbeit „mit märchenhaften Möglichkeiten, die sehr schwer, fast unmöglich zu bekommen war, verbunden mit sehr sehr viel Geld. Warum? Weil die Stacheldrahtzone des Gefängnisses von Tausenden, Zehntausenden Gefangenen ein einziger verlassen darf: der Latrinenfuhrmann mit dem Kübel.” Er ist zum Händler prädestiniert.
Nicht jeder hat das gleiche Leben, und es wäre sinnlos, von Angestellten Abenteuer- oder Latrinenfuhrmannsprosa zu fordern. Aber Schalamows kleinteilige Kritik hat ihren Sinn. Nur wenn die Details stimmen, kann der Versuch gelingen, „die Wahrheit” zu schreiben, was für Schalamow „individuell schreiben” heißt. Wer nicht hinschaut und sich nichts zu seinen Beobachtungen überlegt, fällt in die Tradition des 19. Jahrhunderts zurück, die selbst bei der Schilderung von Schrecklichkeiten harmlose Wahrnehmungsmuster bestätigt. Aber muss man wissen, wie menschenunwürdiges Leben aussieht? Schalamow meint: Nein. Vom Lager möglichst wenig zu wissen tut gut. Wissen, Kunst verbessern niemanden.Aber wer nichts von Auschwitz oder Kolyma weiß, solle nicht mehr davon schwadronieren, wie das Leben sei.
Als eine der letzten Arbeiten vor seinem Tod hat Jörg Drews zu diesem Band ein Nachwort geschrieben, das durch Hingabe an den Gegenstand und Aufrechterhaltung der Distanz beeindruckt. Das Gute – Schalamow sagt, wenn er das Wort höre, „nehme ich meinen Mütze und gehe" – wandere in Schalamows theoretische Aufzeichnungen dann doch immer wieder ein, konstatiert Drews. „Es wäre auch das erste Mal, dass eine Autorenpoetik das Tun ihres Autors genau beschreibt, dass er ihr und seinen eigenen Anweisungen folgt.”
So wird die Nützlichkeit von Literatur denn doch ab und zu erwogen, aber die Überlegungen Schalamows sind am interessantesten, wenn sie knapp an den Dauerthemen vorbei formuliert sind: „Ein Schriftsteller, ein Dichter eröffnet keine Wege. Den Weg, den er genommen hat, kann schon niemand mehr gehen”, schreibt er in seinen „Notizheften”. Und geheimnisvoll lapidar liest man dort: „Meine Erzählungen sind im Grunde Ratschläge an den Menschen, wie er sich in der Menge verhalten soll.”
Naturgemäß hat es ein Schriftsteller, der keine Lesererwartungen befriedigen will, schwieriger mit dem großen Publikum. Aber spielt das eine Rolle? In einem Brief an Aleksander Kreminskij äußert sich Schalamow so entschieden wie gelassen. „Der Schriftsteller braucht keinerlei Überprüfung am Massenpublikum. Wenn es diese Überprüfung gibt - gut. Wenn nicht, geht es auch ohne sie. Das Massenpublikum wird ihm keinen einzigen Gedanken und nicht mal eine Zeile eingeben, und er sollte das nicht erwarten.”
Überraschend, dass Schalamow, der zu oft auf das Lagerthema reduziert wird, seine Ideen von einer „neuen Prosa”, einem „kargen”, der „Reinheit des Tons” und dem „Abwerfen jeglicher Verzierungen” verpflichteten Schreiben von der Malerei herleitet, aus Gauguins „Noa, Noa”. Immer wieder zeigt er sich als begnadeter Aphoristiker: „Ich schreibe über das Lager nicht mehr, als St. Exupéry über den Himmel oder Melville über das Meer.” HANS-PETER KUNISCH
WARLAM SCHALAMOW: Über Prosa. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hrsg. u. mit Anmerkungen v. Franziska Thun-Hohenstein. Mit e. Nachwort von Jörg Drews. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009. 144 Seiten, 12,80 Euro
Die Wahrheit schreiben heißt individuell schreiben
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Warlam Schalamow als Theoretiker: „Über Prosa”
„Ein Leben, an das man sich mit dem ganzen Körper erinnert.” Wem das ein Ideal ist, der, hätte Warlam Schalamow wohl gesagt, hat wenig vom Leben mitbekommen. Wie der „schriftstellernde Tourist” Ernest Hemingway, „so viel er auch in Madrid gekämpft hat”. Er war, so Schalamow, trotz seines „aktiven Lebens” immer als Beobachter dabei, „draußen”, habe diese Position nie überwunden. Nicht wie Orpheus, nur wie Pluto, der dem Hades entsteigt, aus den Innereien des Lebens, könne wahrhaft moderne Prosa geschrieben werden, meinte Schalamow, der zwei Jahrzehnte in Stalins Lagern zugebracht hatte, worauf seine „Erzählungen aus Kolyma” basieren, die auf atemberaubende Weise aus der Perspektive kaum mehr wahrnehmungsfähiger Lagerhäftlinge erzählen.
Jetzt hat der Matthes & Seitz Verlag, der Warlam Schalamow in Deutschland wieder entdeckt hat, ein Büchlein herausgegeben, das einige wichtige theoretische Texte umfasst, die der Autor zurückließ, bevor er 1982 starb, geistig und körperlich völlig zerrüttet: „Über Prosa”. Wobei viele Aspekte seiner „Theorie” nur in Briefen, dort allerdings besonders anschaulich, ausgesprochen sind.
Bekannt ist etwa das lobend-vernichtende, zwanzigseitige Schreiben, das Schalamow an Solschenyzin richtete, um ihm zu „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch” zu gratulieren, dabei aber dutzendfach vor den Kopf zu stoßen: Keine Läuse gebe es in Solschenizyns Lager. Katzen, die in Wirklichkeit gegessen worden wären, liefen in diesem Phantasiereich herum, schreibt Schalamow mit dem Hohn des Kenners. Auch die von ihm hochgeschätzte Nadeshda Mandelstam muss Schalamow korrigieren. Sie schreibe von der schrecklichen und „erniedrigenden Tätigkeit des Latrinenfuhrmanns”. Dabei war das eine Arbeit „mit märchenhaften Möglichkeiten, die sehr schwer, fast unmöglich zu bekommen war, verbunden mit sehr sehr viel Geld. Warum? Weil die Stacheldrahtzone des Gefängnisses von Tausenden, Zehntausenden Gefangenen ein einziger verlassen darf: der Latrinenfuhrmann mit dem Kübel.” Er ist zum Händler prädestiniert.
Nicht jeder hat das gleiche Leben, und es wäre sinnlos, von Angestellten Abenteuer- oder Latrinenfuhrmannsprosa zu fordern. Aber Schalamows kleinteilige Kritik hat ihren Sinn. Nur wenn die Details stimmen, kann der Versuch gelingen, „die Wahrheit” zu schreiben, was für Schalamow „individuell schreiben” heißt. Wer nicht hinschaut und sich nichts zu seinen Beobachtungen überlegt, fällt in die Tradition des 19. Jahrhunderts zurück, die selbst bei der Schilderung von Schrecklichkeiten harmlose Wahrnehmungsmuster bestätigt. Aber muss man wissen, wie menschenunwürdiges Leben aussieht? Schalamow meint: Nein. Vom Lager möglichst wenig zu wissen tut gut. Wissen, Kunst verbessern niemanden.Aber wer nichts von Auschwitz oder Kolyma weiß, solle nicht mehr davon schwadronieren, wie das Leben sei.
Als eine der letzten Arbeiten vor seinem Tod hat Jörg Drews zu diesem Band ein Nachwort geschrieben, das durch Hingabe an den Gegenstand und Aufrechterhaltung der Distanz beeindruckt. Das Gute – Schalamow sagt, wenn er das Wort höre, „nehme ich meinen Mütze und gehe" – wandere in Schalamows theoretische Aufzeichnungen dann doch immer wieder ein, konstatiert Drews. „Es wäre auch das erste Mal, dass eine Autorenpoetik das Tun ihres Autors genau beschreibt, dass er ihr und seinen eigenen Anweisungen folgt.”
So wird die Nützlichkeit von Literatur denn doch ab und zu erwogen, aber die Überlegungen Schalamows sind am interessantesten, wenn sie knapp an den Dauerthemen vorbei formuliert sind: „Ein Schriftsteller, ein Dichter eröffnet keine Wege. Den Weg, den er genommen hat, kann schon niemand mehr gehen”, schreibt er in seinen „Notizheften”. Und geheimnisvoll lapidar liest man dort: „Meine Erzählungen sind im Grunde Ratschläge an den Menschen, wie er sich in der Menge verhalten soll.”
Naturgemäß hat es ein Schriftsteller, der keine Lesererwartungen befriedigen will, schwieriger mit dem großen Publikum. Aber spielt das eine Rolle? In einem Brief an Aleksander Kreminskij äußert sich Schalamow so entschieden wie gelassen. „Der Schriftsteller braucht keinerlei Überprüfung am Massenpublikum. Wenn es diese Überprüfung gibt - gut. Wenn nicht, geht es auch ohne sie. Das Massenpublikum wird ihm keinen einzigen Gedanken und nicht mal eine Zeile eingeben, und er sollte das nicht erwarten.”
Überraschend, dass Schalamow, der zu oft auf das Lagerthema reduziert wird, seine Ideen von einer „neuen Prosa”, einem „kargen”, der „Reinheit des Tons” und dem „Abwerfen jeglicher Verzierungen” verpflichteten Schreiben von der Malerei herleitet, aus Gauguins „Noa, Noa”. Immer wieder zeigt er sich als begnadeter Aphoristiker: „Ich schreibe über das Lager nicht mehr, als St. Exupéry über den Himmel oder Melville über das Meer.” HANS-PETER KUNISCH
WARLAM SCHALAMOW: Über Prosa. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hrsg. u. mit Anmerkungen v. Franziska Thun-Hohenstein. Mit e. Nachwort von Jörg Drews. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009. 144 Seiten, 12,80 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Dieser Autor hat in den Abgrund geblickt, meint Jürgen Verdofsky. Dass ein stalinistisches Lager zu überleben das eine ist, darüber zu schreiben jedoch ein ganz andere Sache, kann sich der Rezensent vorstellen. Wie den Verfall aller Werte und die Auflösung des Ichs beschreiben? Wie, wenn die Wahrheit der Form überlegen ist? Auf Verdofskys Fragen hat der noch kaum bekannte Warlam Schalamow in seinen Essays und Briefen "rigorose" Antworten parat, die dem Rezensenten die Grenzen der humanistischen russischen (Tolstoi-)Tradition und Moral aufzeigen. Als Brücke zu Schalamows lakonisch gefassten, schonungslos berichtenden Erzählungen erscheint der Band dem Rezensenten unentbehrlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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