Aufzeichnungen und Beobachtungen, Gemeinplätze entlarvend. Unterhaltsam und bisweilen ätzend sind diese brillanten Fragmente und Gedankensplitter Variationen über unsere Zeit im Spiegel der Ewigkeit, über Niedertracht, Verlogenheit, Plattheit, Feigheit, Gier.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Burkhard Müller lässt kein gutes Haar an den Notaten des DDR-Dissidenten, Theologen und früheren Weggefährten Joachim Gaucks, Ulrich Schacht. Müller missfallen die unvermittelte Abwechselung von Privatem, Poetischem und Politischem, die immer wieder durch die Ironie durchscheinende Bitternis des Autors, seinen ethischen, jegliches politische und historische Denken negierenden Rigorismus sowie seine den Kapitalismus als Teufelswerk verdammenden Wut. Dass im Buch mitunter gar eine Sympathie für totalitäre Gewalt spürbar wird, erscheint Müller geradezu absurd, schließlich habe Schacht gerade letzterer grundsätzliche Feindschaft geschworen. Im Ganzen jedoch scheint Müller beruhigt. Solange der Rechtskonservatismus inkohärent wie in diesem Buch auftritt, meint er, muss uns nicht bange sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2012Joachim Gauck, der leicht zu rührende Freund
Die „Notate“ von Ulrich Schacht belegen, wie schwach der konservative Gedanke in Deutschland heute ist
Über einen Zeitraum von 28 Jahren erstrecken sich die „Notate“, die Ulrich Schacht jetzt gesammelt bei Matthes & Seitz herausgebracht hat. Sie beginnen 1983, als die weltpolitischen Verhältnisse zugleich versteinert und brandgefährlich schienen und der Gegensatz von Ost und West mehr denn je nur durch Krieg auflösbar – da lebte Schacht, der in der DDR als Dissident im Gefängnis gesessen hatte, schon seit sechs Jahren in der Bundesrepublik. Und sie enden in der Gegenwart, am Jahreswechsel 2011/12, kurz bevor sein alter Mentor und Weggefährte Joachim Gauck, wie Schacht selbst aus dem pastoralen Milieu Mecklenburgs stammend, mit großer Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt wird.
„Über Schnee und Geschichte“ hätte also ein Buch der Genugtuung und des Sieges werden können. Dass es dies am Ende nicht geworden ist, sondern vielmehr bei einer durch Naturbetrachtung gemilderten Klage herauskommt; dass es zudem mit der Form der „Notate“ zum wenig glücklichen Mixtum compositum aus Tagebuch, Aphorismus und Essay geriet (jeder Eintrag ist datiert, die Länge schwankt zwischen einer Zeile und acht Seiten) – das verrät einiges über den Zustand des christlich-konservativen Denkens im deutschen Sprachraum.
Ein hohes Gut ist die Freiheit; ein hohes und leeres. Oder, um es weniger enttäuschend zu formulieren, ein inhaltlich nicht bestimmtes Gut (anders als zum Beispiel die Gleichheit). Darum eignet sie sich wie kaum eine andere Idee, die Kämpfer gegen Unterdrückung zu beflügeln und zu einen. Sobald man sie aber errungen glaubt, erweist sich, dass sie sehr wohl auch zum Schlagwort taugt, bei dessen Erwähnung alle andächtig nicken und jeder sich das Seine denkt. Dies war das Ticket, mit dem Gauck, von der gemäßigten Linken ins Spiel gebracht, von den Liberalen forciert und letztlich von der Rechten durchgesetzt, ins Amt segelte, Galions- und Integrationsfigur einer Gesellschaft, die nach langem Übergang zur Normalität gefunden hat.
Damit will Schacht sich nicht zufrieden geben; hier ist der Punkt, wo der Weg der beiden sich trennt. „In diesen Tagen der Feiern zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls sehe ich im Fernsehen“, heißt es unter dem 11. November 2009, „wie Joachim Gauck, mein leicht zu rührender Freund, und andere Revolutionäre von einst auf den offiziellen Tribünen die Helden-Impresarios geben dürfen. Heroische Zeugen überwundener Unfreiheit und erreichter Befreiung in einem. Da fühlen sich gleich zwei Subjekte bestätigt: der neue Staat und die späten alten Kämpfer.“ Zweifellos hat Schacht da etwas Richtiges erkannt; aber die Ironie, mit der er den Vorgang begleitet, ist – wie man verwundert auf den zweiten Blick begreift – von Bitternis getränkt. Was anderen als eine kleine eitle Mauschelei vorkommen könnte, erlebt er als Verrat an der Nation.
Es ist gewiss schwer, wenn man einige Jahre in den Gefängnissen einer Diktatur verloren hat, den gelassenen Überblick zu wahren. Wofür man selbst ein so schmerzliches Opfer brachte, das will man nicht dadurch relativiert sehen, dass andere es sich mit demselben Tatbestand offenkundig viel leichter machen. Bei Schacht führt dies zu einer Haltung des ethischen Rigorismus, der jegliches politische und historische Denken negiert. In den Schuldspruch über das Unrechtsregime will er die westdeutschen Politiker einschließen, weil sie die „DDR“ (Schacht setzt sie konsequent in Anführungszeichen wie einst die Bild-Zeitung) als Faktum mehr oder weniger anerkannt hatten.
Sein Zorn gilt nicht nur aufs Prinzipiellste jenem Fortschrittsglauben, der die ideologische Grundlage des anderen deutschen Staats abgab, sondern auch dem charakterlosen „Realismus“ der Entspannungspolitik. Dass vielleicht zur Zeit des Kalten Kriegs mehr Handlungsspielraum für die westdeutschen Politiker einfach nicht drin war, und ob nicht möglicherweise gerade die halb informelle Akzeptanz des zweiten Staats die neuerliche Vereinigung doch auf Umwegen begünstigt, ja bedingt haben könnte: Solche Überlegungen lässt Schachts unbeirrbarer Idealismus nicht einmal als Frage zu.
Die sich schlechterdings im Recht fühlende Geradlinigkeit führt jedoch zum Verlust des Maßstabs. Zwar behauptet Schacht von sich: „Ich kann nicht im Recht-Haben schwelgen.“ Aber da erliegt er einer Selbsttäuschung. Man beachte den Bogen, den er in folgendem Notat schlägt:
„Seit diesem Montag (18. September) kann man in den Supermärkten Weihnachtsgebäck und -süßigkeiten kaufen. Die das veran- und zulassen, sind Menschen-, vor allem Kinderschänder. Sie gehen über Seelenleichen, um Geschäfte zu machen. Die Barbarei beginnt wahrlich nicht erst in Auschwitz. Dort endet sie immer wieder nur, und das ist kein unzulässiges Linienziehen. Das ist vielmehr das Sichtbarmachen eines unaufhebbaren Zusammenhanges, den man den Terror des Rationalen nennen könnte und der eine böse Frucht des diabolischen Liebespaares Materialismus und Moderne ist.“ Diesen Kurzschluss vom verfrühten Butterplätzchen zu Auschwitz darf man wohl mehr als abenteuerlich nennen; er ist frivoler und abgeschmackter als alles, was ein professioneller Holocaust-Leugner hinbekäme. Warum tut Schacht so etwas? Dazu gehört natürlich zuerst einmal die Überzeugung, sich aufgrund seines richtigen Standpunkts alles leisten zu können. Aber ebenso dürfte hier die Wut hereinspielen, dass er ihm missliebige Phänomene nicht auf den Begriff zu bringen vermag, weshalb er sich den Weg in den Ausdruck sozusagen freisprengt.
Auch den Kapitalismus sieht Schacht als Teufelswerk an; da er sich aber die marxistische Analyse verbittet, fällt ihm nichts anderes ein, als den Tanz ums Goldene Kalb anzuprangern. Wie kläglich verunglückt als Deutungsmodell ist dieses diabolische Liebespaar aus Materialismus und Moderne! Also muss stärkerer Tobak her. Die Sache hat neben ihrer absurden auch ihre bedenkliche Seite. Durch die Hintertür gelangt eine Sympathie für die totalitäre Gewalt herein, der Schacht doch die grundsätzlichste Feindschaft geschworen hat. In Treue fest zu Israel zu stehen, heißt für ihn, dass er diesem Staat den atomaren Präventivschlag gegen seine Nachbarn empfiehlt; er tut es zweimal.
So ein Sachverhalt nicht seine weltanschaulichen Positionen berührt, gelingen Schacht manchmal bemerkenswerte Einsichten und Formulierungen. Leider gibt es nur wenige solcher Sachverhalte. Stets und überall sieht er den Untergang des Abendlandes heraufziehen, von der Einführung des Euro über den Amtsantritt einer schwangeren Verteidigungsministerin in Spanien (er nennt so etwas Politpornografie) bis zur Freizügigkeit für osteuropäische Sinti und Roma, die mit „illegalen, slumähnlichen Lagergründungen überfallartig die soziale Symmetrie ihrer Siedlungsorte angegriffen haben“. Es ist die übliche Panik des Kulturkonservativen vor jeder Veränderung, die ihn unfähig zum Beobachten und Nachdenken macht. Schacht, dem Christen und Theologen, fällt noch nicht einmal auf, dass er hier, statt zur Hilfe für die Elenden, zum Krieg gegen die Elendsquartiere aufruft; deren Dasein als solches bezeugt ihm nicht etwa Armut, sondern Aggression.
Wenn man all das liest, wollen einem die poetischen und geschichtsphilosophischen Anwandlungen dieses Autors wie isolierte Ausflüchte erscheinen. Er hängt Spekulationen über Gott als den sich zugleich ent- und verbergenden Herrn der Geschichte nach, und er lauscht der Natur. Die Form des Notats bringt es mit sich, dass das bloß Private sehr unvermittelt neben das Allgemeine tritt und schon von daher eine leicht blasierte Färbung annimmt, was sich so anhört: „(. . .) alleiniger Gast in der Villa ‚La Collina‘. Nachmittags, abends, in der Nacht – paradiesische Ruhe und Eindrücke. Aus dem Gespräch mit dem sympathischen Verwaltungsdirektor Wink ergibt sich die Perspektive eines längeren Sommeraufenthalts“. Seinen Hauptwohnsitz hat der Autor allerdings in Schweden, in einem „Dichterhaus“. Der Hang zum Dichterischen bewirkt zuweilen ein grammatisches Malheur, etwa beim Kirschenessen: „Kopf, Hände und Schultern troffen bald vor Nässe, aber wie ein Durstiger verlangte mich immer wieder nach der süßen Säure der morgenfrischen Früchte (. . .)“. „Troffen“ für „trieften“ ist so weit in Ordnung; aber was passiert, wenn das persönlich konstruierte „ich verlange etwas“ in das unpersönliche „es verlangt mich nach etwas“ transformiert wird? Das hat der Autor nicht komplett im Griff.
Auch lohnt es sich durchaus, Schachts bedeutungsschwer aufgetischten Einzeilern auf den Zahn zu fühlen. „Der Fels ist die Potenz des Sandes.“ Wenn man das nicht rein mathematisch verstehen will und einen Felsen für ein Sandkorn in der zehnten Potenz erklärt, hat der Satz keinerlei Gehalt; denn Sand ist nichts als kleingemahlener Fels und mag dann allenfalls wieder zu Sandstein verbacken werden, wobei jedoch kein substanzieller Wandel greift. Und von einem Unterschied zwischen potenziellem und aktuellen Zustand auch nicht ansatzweise die Rede sein kann. Mehr Sinn hätte es gehabt, zur Potenz des Sandes das Glas zu deklarieren. Das Geheimnisvolle löst sich auf ins Nichtige. Solang der rechtskonservative Flügel der deutschen Geisteslandschaft nichts Kohärenteres vorlegen kann als einen solchen Haufen Sand, dessen Potenzen durchaus unbewiesen bleiben, braucht uns vor ihm wirklich nicht bang zu sein.
BURKHARD MÜLLER
Schacht fühlt sich stets
im Recht – und verliert darüber
jeden Maßstab
Immer und überall sieht er
den Untergang des Abendlandes
heraufziehen
Ulrich Schacht: Über Schnee und Geschichte. Notate 1983- 2011. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012. 335 Seiten, 22,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die „Notate“ von Ulrich Schacht belegen, wie schwach der konservative Gedanke in Deutschland heute ist
Über einen Zeitraum von 28 Jahren erstrecken sich die „Notate“, die Ulrich Schacht jetzt gesammelt bei Matthes & Seitz herausgebracht hat. Sie beginnen 1983, als die weltpolitischen Verhältnisse zugleich versteinert und brandgefährlich schienen und der Gegensatz von Ost und West mehr denn je nur durch Krieg auflösbar – da lebte Schacht, der in der DDR als Dissident im Gefängnis gesessen hatte, schon seit sechs Jahren in der Bundesrepublik. Und sie enden in der Gegenwart, am Jahreswechsel 2011/12, kurz bevor sein alter Mentor und Weggefährte Joachim Gauck, wie Schacht selbst aus dem pastoralen Milieu Mecklenburgs stammend, mit großer Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt wird.
„Über Schnee und Geschichte“ hätte also ein Buch der Genugtuung und des Sieges werden können. Dass es dies am Ende nicht geworden ist, sondern vielmehr bei einer durch Naturbetrachtung gemilderten Klage herauskommt; dass es zudem mit der Form der „Notate“ zum wenig glücklichen Mixtum compositum aus Tagebuch, Aphorismus und Essay geriet (jeder Eintrag ist datiert, die Länge schwankt zwischen einer Zeile und acht Seiten) – das verrät einiges über den Zustand des christlich-konservativen Denkens im deutschen Sprachraum.
Ein hohes Gut ist die Freiheit; ein hohes und leeres. Oder, um es weniger enttäuschend zu formulieren, ein inhaltlich nicht bestimmtes Gut (anders als zum Beispiel die Gleichheit). Darum eignet sie sich wie kaum eine andere Idee, die Kämpfer gegen Unterdrückung zu beflügeln und zu einen. Sobald man sie aber errungen glaubt, erweist sich, dass sie sehr wohl auch zum Schlagwort taugt, bei dessen Erwähnung alle andächtig nicken und jeder sich das Seine denkt. Dies war das Ticket, mit dem Gauck, von der gemäßigten Linken ins Spiel gebracht, von den Liberalen forciert und letztlich von der Rechten durchgesetzt, ins Amt segelte, Galions- und Integrationsfigur einer Gesellschaft, die nach langem Übergang zur Normalität gefunden hat.
Damit will Schacht sich nicht zufrieden geben; hier ist der Punkt, wo der Weg der beiden sich trennt. „In diesen Tagen der Feiern zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls sehe ich im Fernsehen“, heißt es unter dem 11. November 2009, „wie Joachim Gauck, mein leicht zu rührender Freund, und andere Revolutionäre von einst auf den offiziellen Tribünen die Helden-Impresarios geben dürfen. Heroische Zeugen überwundener Unfreiheit und erreichter Befreiung in einem. Da fühlen sich gleich zwei Subjekte bestätigt: der neue Staat und die späten alten Kämpfer.“ Zweifellos hat Schacht da etwas Richtiges erkannt; aber die Ironie, mit der er den Vorgang begleitet, ist – wie man verwundert auf den zweiten Blick begreift – von Bitternis getränkt. Was anderen als eine kleine eitle Mauschelei vorkommen könnte, erlebt er als Verrat an der Nation.
Es ist gewiss schwer, wenn man einige Jahre in den Gefängnissen einer Diktatur verloren hat, den gelassenen Überblick zu wahren. Wofür man selbst ein so schmerzliches Opfer brachte, das will man nicht dadurch relativiert sehen, dass andere es sich mit demselben Tatbestand offenkundig viel leichter machen. Bei Schacht führt dies zu einer Haltung des ethischen Rigorismus, der jegliches politische und historische Denken negiert. In den Schuldspruch über das Unrechtsregime will er die westdeutschen Politiker einschließen, weil sie die „DDR“ (Schacht setzt sie konsequent in Anführungszeichen wie einst die Bild-Zeitung) als Faktum mehr oder weniger anerkannt hatten.
Sein Zorn gilt nicht nur aufs Prinzipiellste jenem Fortschrittsglauben, der die ideologische Grundlage des anderen deutschen Staats abgab, sondern auch dem charakterlosen „Realismus“ der Entspannungspolitik. Dass vielleicht zur Zeit des Kalten Kriegs mehr Handlungsspielraum für die westdeutschen Politiker einfach nicht drin war, und ob nicht möglicherweise gerade die halb informelle Akzeptanz des zweiten Staats die neuerliche Vereinigung doch auf Umwegen begünstigt, ja bedingt haben könnte: Solche Überlegungen lässt Schachts unbeirrbarer Idealismus nicht einmal als Frage zu.
Die sich schlechterdings im Recht fühlende Geradlinigkeit führt jedoch zum Verlust des Maßstabs. Zwar behauptet Schacht von sich: „Ich kann nicht im Recht-Haben schwelgen.“ Aber da erliegt er einer Selbsttäuschung. Man beachte den Bogen, den er in folgendem Notat schlägt:
„Seit diesem Montag (18. September) kann man in den Supermärkten Weihnachtsgebäck und -süßigkeiten kaufen. Die das veran- und zulassen, sind Menschen-, vor allem Kinderschänder. Sie gehen über Seelenleichen, um Geschäfte zu machen. Die Barbarei beginnt wahrlich nicht erst in Auschwitz. Dort endet sie immer wieder nur, und das ist kein unzulässiges Linienziehen. Das ist vielmehr das Sichtbarmachen eines unaufhebbaren Zusammenhanges, den man den Terror des Rationalen nennen könnte und der eine böse Frucht des diabolischen Liebespaares Materialismus und Moderne ist.“ Diesen Kurzschluss vom verfrühten Butterplätzchen zu Auschwitz darf man wohl mehr als abenteuerlich nennen; er ist frivoler und abgeschmackter als alles, was ein professioneller Holocaust-Leugner hinbekäme. Warum tut Schacht so etwas? Dazu gehört natürlich zuerst einmal die Überzeugung, sich aufgrund seines richtigen Standpunkts alles leisten zu können. Aber ebenso dürfte hier die Wut hereinspielen, dass er ihm missliebige Phänomene nicht auf den Begriff zu bringen vermag, weshalb er sich den Weg in den Ausdruck sozusagen freisprengt.
Auch den Kapitalismus sieht Schacht als Teufelswerk an; da er sich aber die marxistische Analyse verbittet, fällt ihm nichts anderes ein, als den Tanz ums Goldene Kalb anzuprangern. Wie kläglich verunglückt als Deutungsmodell ist dieses diabolische Liebespaar aus Materialismus und Moderne! Also muss stärkerer Tobak her. Die Sache hat neben ihrer absurden auch ihre bedenkliche Seite. Durch die Hintertür gelangt eine Sympathie für die totalitäre Gewalt herein, der Schacht doch die grundsätzlichste Feindschaft geschworen hat. In Treue fest zu Israel zu stehen, heißt für ihn, dass er diesem Staat den atomaren Präventivschlag gegen seine Nachbarn empfiehlt; er tut es zweimal.
So ein Sachverhalt nicht seine weltanschaulichen Positionen berührt, gelingen Schacht manchmal bemerkenswerte Einsichten und Formulierungen. Leider gibt es nur wenige solcher Sachverhalte. Stets und überall sieht er den Untergang des Abendlandes heraufziehen, von der Einführung des Euro über den Amtsantritt einer schwangeren Verteidigungsministerin in Spanien (er nennt so etwas Politpornografie) bis zur Freizügigkeit für osteuropäische Sinti und Roma, die mit „illegalen, slumähnlichen Lagergründungen überfallartig die soziale Symmetrie ihrer Siedlungsorte angegriffen haben“. Es ist die übliche Panik des Kulturkonservativen vor jeder Veränderung, die ihn unfähig zum Beobachten und Nachdenken macht. Schacht, dem Christen und Theologen, fällt noch nicht einmal auf, dass er hier, statt zur Hilfe für die Elenden, zum Krieg gegen die Elendsquartiere aufruft; deren Dasein als solches bezeugt ihm nicht etwa Armut, sondern Aggression.
Wenn man all das liest, wollen einem die poetischen und geschichtsphilosophischen Anwandlungen dieses Autors wie isolierte Ausflüchte erscheinen. Er hängt Spekulationen über Gott als den sich zugleich ent- und verbergenden Herrn der Geschichte nach, und er lauscht der Natur. Die Form des Notats bringt es mit sich, dass das bloß Private sehr unvermittelt neben das Allgemeine tritt und schon von daher eine leicht blasierte Färbung annimmt, was sich so anhört: „(. . .) alleiniger Gast in der Villa ‚La Collina‘. Nachmittags, abends, in der Nacht – paradiesische Ruhe und Eindrücke. Aus dem Gespräch mit dem sympathischen Verwaltungsdirektor Wink ergibt sich die Perspektive eines längeren Sommeraufenthalts“. Seinen Hauptwohnsitz hat der Autor allerdings in Schweden, in einem „Dichterhaus“. Der Hang zum Dichterischen bewirkt zuweilen ein grammatisches Malheur, etwa beim Kirschenessen: „Kopf, Hände und Schultern troffen bald vor Nässe, aber wie ein Durstiger verlangte mich immer wieder nach der süßen Säure der morgenfrischen Früchte (. . .)“. „Troffen“ für „trieften“ ist so weit in Ordnung; aber was passiert, wenn das persönlich konstruierte „ich verlange etwas“ in das unpersönliche „es verlangt mich nach etwas“ transformiert wird? Das hat der Autor nicht komplett im Griff.
Auch lohnt es sich durchaus, Schachts bedeutungsschwer aufgetischten Einzeilern auf den Zahn zu fühlen. „Der Fels ist die Potenz des Sandes.“ Wenn man das nicht rein mathematisch verstehen will und einen Felsen für ein Sandkorn in der zehnten Potenz erklärt, hat der Satz keinerlei Gehalt; denn Sand ist nichts als kleingemahlener Fels und mag dann allenfalls wieder zu Sandstein verbacken werden, wobei jedoch kein substanzieller Wandel greift. Und von einem Unterschied zwischen potenziellem und aktuellen Zustand auch nicht ansatzweise die Rede sein kann. Mehr Sinn hätte es gehabt, zur Potenz des Sandes das Glas zu deklarieren. Das Geheimnisvolle löst sich auf ins Nichtige. Solang der rechtskonservative Flügel der deutschen Geisteslandschaft nichts Kohärenteres vorlegen kann als einen solchen Haufen Sand, dessen Potenzen durchaus unbewiesen bleiben, braucht uns vor ihm wirklich nicht bang zu sein.
BURKHARD MÜLLER
Schacht fühlt sich stets
im Recht – und verliert darüber
jeden Maßstab
Immer und überall sieht er
den Untergang des Abendlandes
heraufziehen
Ulrich Schacht: Über Schnee und Geschichte. Notate 1983- 2011. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012. 335 Seiten, 22,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de