Der Frage nach dem Gut- bzw. Schlechtsein menschlichen Handelns und den Folgen guter oder schlechter Taten hat Thomas von Aquin zentrale Kapitel seines Hauptwerkes "Summa theologiae" gewidmet. Seine Ausführungen über sittliches Handeln beanspruchen mehr als historisches Interesse - sie sind "über die Jahrhunderte hinweg immer im Stande gewesen, in dieses Thema einzuführen" (Robert Spaemann)Sprachen: Deutsch, Latein
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001Darf man das Böse ausrotten wollen?
Thomas von Aquin, Bush und der Terror / Von Mark Siemons
Man könnte meinen, das Verlangen, die Welt sicherer und besser zu machen, indem man das Böse ausrottet, finde Rückhalt in einer traditionellen christlichen Philosophie, die das Gute vom Bösen eindeutig zu unterscheiden können glaubt. Nach der Lektüre eines gerade bei Reclam erschienenen Büchleins des heiligen Thomas von Aquin läßt sich sagen: Dies ist nicht der Fall. Dabei setzen sich die vier ethischen Quaestionen der Summa theologiae (S. th. I-II, q. 18-21), die der Band lateinisch und in wortgetreuer deutscher, mit zahlreichen nützlichen Anmerkungen und Literaturhinweisen versehenen Übersetzung von Rolf Schönberger vorstellt, nicht eben dem Verdacht eines moralischen Relativismus aus. Thomas hat so viel Vertrauen in die Vernunft, daß er sie für fähig hält, das "ewige Gesetz" der göttlichen Sittenordnung zu erkennen. Deshalb sind für ihn Vernunft und Moral im Grunde ein und dasselbe. Und deshalb zögert Thomas auch nicht, von einem "irrenden Gewissen" zu sprechen, das den einzelnen zwar verpflichte, nicht aber entschuldige. Gewissen ist für Thomas nichts anderes als eine Anwendung des allgemeinen moralischen Wissens auf den konkreten Handlungsfall.
Für den Frommen, sollte man meinen, ist der Fall klar. Der Autor zitiert Augustinus: "Ein rechtes Herz hat derjenige, der will, was Gott will." Für Thomas ist es indessen interessanterweise keineswegs eindeutig, was das heißt: Wille Gottes. Etwas wissen könne der Mensch nur von dem, was Gott "in einem allgemeinen Sinn", secundum rationem communem, will: Es ist "das Gute", wie es die Offenbarung und die ethische Reflexion enthüllt. "Im einzelnen wissen wir jedoch nicht, was Gottes Wille ist; daher sind wir mit Bezug darauf auch nicht gehalten, unseren Willen dem göttlichen anzugleichen." (q. 19, a 10, ad 1) Diese unauffällige Bemerkung hat weitreichende Folgen. Die Kategorie "im einzelnen" öffnet die Wahrnehmung für die unterschiedlichen Rechte unterschiedlicher Perspektiven und damit dann doch für eine wohlverstandene Relativität der moralischen Bewertung.
Der Autor zeigt, daß sogar gegensätzliche Handlungen und Intentionen je auf ihre Weise legitim sein können: So wie es für einen Richter gut sei, dem überführten Mörder die Todesstrafe zu wünschen, sei es für die Frau des Mörders gut, sie ihm nicht zu wünschen. Beide wollen ja etwas Gutes, der eine für das Gemeinwohl, die andere für ihren Gatten. Thomas bleibt natürlich bei der Feststellung dieser sich wechselseitig begrenzenden Partikularität nicht stehen; auch seine Ethik hat einen universalistischen Anspruch, insofern er die moralische Qualität einer Handlung noch mit dem eingeschränktesten Gegenstand davon abhängig macht, daß sie sich zumindest implizit auch auf das "allgemein Gute", das bonum commune, bezieht. Dieses Gute hat in seiner umfassendsten Ausprägung für den Gläubigen den Namen "Wille Gottes". Deshalb soll der Mensch wollen, was Gott will - freilich "in formaler Hinsicht", wie Thomas hinzufügt. Denn "materialiter" sei dies unmöglich. Gottes Wille ziele auf das Gut der ganzen Welt; diese Perspektive sei der begrenzten Fassungsweise des Menschen nicht zugänglich. "Deshalb ist es auch möglich, daß ein Wille, der etwas in einer besonderen Hinsicht will, gut ist, was Gott dennoch in umfassender Hinsicht nicht will - und umgekehrt." Nicht was Gott will, sollen wir wollen, sondern das, wovon Gott will, daß wir es wollen.
Mit anderen Worten: Wir können letztlich nicht wissen, worin das Wohl des Universums besteht. Für den politisch Handelnden gibt es eine Pflicht zur möglichst genauen Situationsanalyse und zur möglichst sorgfältigen Abwägung der verschiedenen Optionen. Aber sobald sich eine Handlung auf die Ordnung des Weltganzen als entscheidenden Beweggrund beruft, setzt sie sich selbst ins Unrecht. Sie maßt sich damit ein Wissen an, das ihr nicht zugänglich ist, und wird dadurch irrational, also: schlecht. Um eine alte Unterscheidung aufzugreifen: Je unüberschaubarer und unberechenbarer die langfristigen Konsequenzen und Nebenwirkungen werden, desto vernünftiger wird es selbst im Sinne der Zweckrationalität, nur zu solchen Mitteln zu greifen, die sich auch gesinnungsethisch verantworten lassen.
Erstaunlich genug war, daß vielen Bundestagsabgeordneten kürzlich zur Rechtfertigung eines Bundeswehreinsatzes die pure Intention zu reichen schien, so als käme es auf die Mittel und die Umstände gar nicht an. Aber schon die Intention selbst kann fragwürdig sein, wenn sie vermessen ist. Robert Spaemann interpretiert Thomas von Aquin im Vorwort als Kronzeugen in seinem eigenen Kampf gegen den modernen "Konsequentialismus", der die Moral einer Handlung von der Absicht abhängig mache, den Gesamtprozeß des Weltlaufs zu optimieren. Daß Bushs Rhetorik von der Tilgung "des Bösen" (säkular übersetzt: des internationalen Terrorismus) aus der Welt bisweilen in einer religiösen Sprache daherkommt, sollte einen nicht täuschen; sie hat wohl weniger mit Christentum zu tun als mit einem überspringenden und sich dann in sein Gegenteil verkehrenden Rationalismus.
Thomas von Aquin: "Über sittliches Handeln". Summa theologiae I-II q. 18-21. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Rolf Schönberger. Einleitung von Robert Spaemann. Verlag Philipp Reclam, Stuttgart 2001. 263 S., br., 14,- DM.
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Thomas von Aquin, Bush und der Terror / Von Mark Siemons
Man könnte meinen, das Verlangen, die Welt sicherer und besser zu machen, indem man das Böse ausrottet, finde Rückhalt in einer traditionellen christlichen Philosophie, die das Gute vom Bösen eindeutig zu unterscheiden können glaubt. Nach der Lektüre eines gerade bei Reclam erschienenen Büchleins des heiligen Thomas von Aquin läßt sich sagen: Dies ist nicht der Fall. Dabei setzen sich die vier ethischen Quaestionen der Summa theologiae (S. th. I-II, q. 18-21), die der Band lateinisch und in wortgetreuer deutscher, mit zahlreichen nützlichen Anmerkungen und Literaturhinweisen versehenen Übersetzung von Rolf Schönberger vorstellt, nicht eben dem Verdacht eines moralischen Relativismus aus. Thomas hat so viel Vertrauen in die Vernunft, daß er sie für fähig hält, das "ewige Gesetz" der göttlichen Sittenordnung zu erkennen. Deshalb sind für ihn Vernunft und Moral im Grunde ein und dasselbe. Und deshalb zögert Thomas auch nicht, von einem "irrenden Gewissen" zu sprechen, das den einzelnen zwar verpflichte, nicht aber entschuldige. Gewissen ist für Thomas nichts anderes als eine Anwendung des allgemeinen moralischen Wissens auf den konkreten Handlungsfall.
Für den Frommen, sollte man meinen, ist der Fall klar. Der Autor zitiert Augustinus: "Ein rechtes Herz hat derjenige, der will, was Gott will." Für Thomas ist es indessen interessanterweise keineswegs eindeutig, was das heißt: Wille Gottes. Etwas wissen könne der Mensch nur von dem, was Gott "in einem allgemeinen Sinn", secundum rationem communem, will: Es ist "das Gute", wie es die Offenbarung und die ethische Reflexion enthüllt. "Im einzelnen wissen wir jedoch nicht, was Gottes Wille ist; daher sind wir mit Bezug darauf auch nicht gehalten, unseren Willen dem göttlichen anzugleichen." (q. 19, a 10, ad 1) Diese unauffällige Bemerkung hat weitreichende Folgen. Die Kategorie "im einzelnen" öffnet die Wahrnehmung für die unterschiedlichen Rechte unterschiedlicher Perspektiven und damit dann doch für eine wohlverstandene Relativität der moralischen Bewertung.
Der Autor zeigt, daß sogar gegensätzliche Handlungen und Intentionen je auf ihre Weise legitim sein können: So wie es für einen Richter gut sei, dem überführten Mörder die Todesstrafe zu wünschen, sei es für die Frau des Mörders gut, sie ihm nicht zu wünschen. Beide wollen ja etwas Gutes, der eine für das Gemeinwohl, die andere für ihren Gatten. Thomas bleibt natürlich bei der Feststellung dieser sich wechselseitig begrenzenden Partikularität nicht stehen; auch seine Ethik hat einen universalistischen Anspruch, insofern er die moralische Qualität einer Handlung noch mit dem eingeschränktesten Gegenstand davon abhängig macht, daß sie sich zumindest implizit auch auf das "allgemein Gute", das bonum commune, bezieht. Dieses Gute hat in seiner umfassendsten Ausprägung für den Gläubigen den Namen "Wille Gottes". Deshalb soll der Mensch wollen, was Gott will - freilich "in formaler Hinsicht", wie Thomas hinzufügt. Denn "materialiter" sei dies unmöglich. Gottes Wille ziele auf das Gut der ganzen Welt; diese Perspektive sei der begrenzten Fassungsweise des Menschen nicht zugänglich. "Deshalb ist es auch möglich, daß ein Wille, der etwas in einer besonderen Hinsicht will, gut ist, was Gott dennoch in umfassender Hinsicht nicht will - und umgekehrt." Nicht was Gott will, sollen wir wollen, sondern das, wovon Gott will, daß wir es wollen.
Mit anderen Worten: Wir können letztlich nicht wissen, worin das Wohl des Universums besteht. Für den politisch Handelnden gibt es eine Pflicht zur möglichst genauen Situationsanalyse und zur möglichst sorgfältigen Abwägung der verschiedenen Optionen. Aber sobald sich eine Handlung auf die Ordnung des Weltganzen als entscheidenden Beweggrund beruft, setzt sie sich selbst ins Unrecht. Sie maßt sich damit ein Wissen an, das ihr nicht zugänglich ist, und wird dadurch irrational, also: schlecht. Um eine alte Unterscheidung aufzugreifen: Je unüberschaubarer und unberechenbarer die langfristigen Konsequenzen und Nebenwirkungen werden, desto vernünftiger wird es selbst im Sinne der Zweckrationalität, nur zu solchen Mitteln zu greifen, die sich auch gesinnungsethisch verantworten lassen.
Erstaunlich genug war, daß vielen Bundestagsabgeordneten kürzlich zur Rechtfertigung eines Bundeswehreinsatzes die pure Intention zu reichen schien, so als käme es auf die Mittel und die Umstände gar nicht an. Aber schon die Intention selbst kann fragwürdig sein, wenn sie vermessen ist. Robert Spaemann interpretiert Thomas von Aquin im Vorwort als Kronzeugen in seinem eigenen Kampf gegen den modernen "Konsequentialismus", der die Moral einer Handlung von der Absicht abhängig mache, den Gesamtprozeß des Weltlaufs zu optimieren. Daß Bushs Rhetorik von der Tilgung "des Bösen" (säkular übersetzt: des internationalen Terrorismus) aus der Welt bisweilen in einer religiösen Sprache daherkommt, sollte einen nicht täuschen; sie hat wohl weniger mit Christentum zu tun als mit einem überspringenden und sich dann in sein Gegenteil verkehrenden Rationalismus.
Thomas von Aquin: "Über sittliches Handeln". Summa theologiae I-II q. 18-21. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Rolf Schönberger. Einleitung von Robert Spaemann. Verlag Philipp Reclam, Stuttgart 2001. 263 S., br., 14,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Man sollte sich, meint Mark Siemons, nicht vom ersten Anschein von Thomas von Aquins Ethik täuschen lassen. Zwar ist, ganz fraglos, vom "ewigen Gesetz" die Rede, so dass Vernunft und Moral letztlich identisch sind, nämlich verankert im "Willen Gottes". Jedoch ist dieser Wille für den Menschen "im einzelnen" nicht erkennbar. Die Folge ist, so Siemons, eine "wohlverstandene Relativität" des moralischen Urteils. Die Herausforderung besteht daher in einer "möglichst genauen Situationsanalyse", im Abgleichen von Unabsehbarkeit der Handlungskonsequenzen und den eigenen Gesinnungen, auf die im Zweifelsfall zu rekurrieren ist. In einem Schlenker ins Aktuelle versucht Siemons eine Thomassche Beschreibung der Motivationen von George W. Bush und deutet seine Rede von der "Tilgung des 'Bösen'" als einen sich "in sein Gegenteil verkehrenden Rationalismus".
© Perlentaucher Medien GmbH
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