Es gibt kaum einen Dramatiker, dessen Bedeutung im vergangenen Jahrhundert bis heute so gewachsen ist wie die Anton Cechovs, es gibt kaum einen Dichter in der Vergangenheit, der in unserer Gegenwart so lebendig ist wie Anton Cechov, - so erfüllt dieser Band den Wunsch, seine Gedanken über das Theater, seine oft kurzen und über das gesamte Werk verstreuten Texte zum Theater - das eigene wie das seiner Zeit - in einer Art Handbuch versammelt zu sehen.Bevor Anton Cechov sein 'Engagement' mit dem Petersburger Satire- und Humorjournal Oskolki ("Splitter") einging, das ihm die Beschränkung auf maximal 100 Zeilen auferlegte, hat sich der angehende 'Journalist' Cechov in den verschiedensten Genres versucht, auch in der Theaterkritik, z.B. anlässlich des Russlandgastspiels von Sarah Bernhardt 1881, das er als 'gesellschaftliches Ereignis' bespöttelte, dem er zugleich aber auch eine seriöse Besprechung widmete, die in nuce bereits seine Vorstellungen von Theater und Ensemblespiel enthalten. Weiter spielte das Moskauer Theaterleben eine zentrale Rolle in der 14-tägigen, zwischen 1883 und 1885 publizierten Glossensammlung "Splitter des Moskauer Theaterlebens". Diese bisher auf deutsch unveröffentlichten "Splitter" zeigen einen so kaum bekannten Cechov: ironisch, sarkastisch bisweilen, und 'moralisch' in der Schilderung des kommerziellen Theaterbetriebs, die den Hintergrund abgibt, wovon sich Cechov als Bühnenautor später entschieden abgesetzt hat.Einen zweiten - zentralen - Teil bilden die knappen, ungemein präzisen Anmerkungen zu den eigenen Stücken, beginnend mit ausführlichen Erläuterungen zum "Ivanov" bis hin zu den immer knapperen Anweisungen zu den späten Stücken, "Drei Schwestern" etwa, mit denen sich Cechov 1901 aus dem fernen Nizza in die Regiearbeit der Moskauer Künstlertheater-Direktoren einzuschalten versuchte - ganz im Sinne seiner stereotypen Antwort auf Fragen von Schauspielern und Regisseuren: 'Es ist alles aufgeschrieben.' Entdeckungen zu machen sindauch in dem Kapitel, in dem Cechov auftritt als kritischer Korrespondent zeitgenössischer Dramatiker, wo er den Betreffenden klarzumachen sucht, was seines Erachtens falsch ist, was 'aufgeschrieben' gehörte, und wie er die kritisierte Szene selbst aufbauen würde. So ginge es z.B. nicht, dass eine Bühnenfigur nach dem Satz 'Ich habe mich vergiftet' noch mit einem langen, diesen Entschluss begründenden Monolog über die Bühne flattere.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2004Es ist die Krätze!
Blitzend: Anton Tschechows Gedanken "Über Theater"
Daß Anton Tschechow - als Erzähler, als Dramatiker - zu den größten Autoren russischer Sprache gehört, wird niemand bezweifeln. Schon in quantitativer Hinsicht ist seine Größe durch zahlreiche Werkausgaben dokumentiert, von denen die letzte dreißig voluminöse Bände umfaßt. Als Großschriftsteller möchte man ihn gleichwohl nicht bezeichnen, und er selbst, der sich als "Künstler" nie wirklich ernst nehmen mochte, hätte sich dieses Label gewiß verbeten. Niemals hätte er, wie Puschkin, zur "Sonne Rußlands" avancieren wollen, und das patriotisch verbrämte "Prophetentum" eines Dostojewski war ihm ebenso suspekt wie Tolstois globaler Ruhm als moralische "Instanz".
Demgegenüber war Tschechow auf bisweilen irritierende Weise darauf bedacht, sich kleinzumachen, sein Werk für "geringfügig" oder gar "verächtlich" zu halten, den öffentlichen Diskurs zu meiden, in der Annahme, er habe ohnehin nichts Nennenswertes - keine "Wahrheiten" - beizutragen über Gott und die Welt, das Leben und den Tod. Statt sich selber, als Autor, zu all dem vernehmen zu lassen, was gemeinhin für "wesentlich" oder auch bloß für "aktuell" gehalten wird, hat er nur einfach beobachtet und wiedergegeben, wie der zeitgenössische russische Normalverbraucher - gleich welcher sozialen Herkunft - in Wort und Tat sich kundtat. Objektiv "wie ein Chemiker" hat er die tausenderlei Verbindungen und Reaktionen analysiert, aus denen sich das Leben jedes einzelnen und das der Gesellschaft insgesamt aufbauen, und früh kam er zur Einsicht, daß das Alltagsgeschehen jegliche literarische Gestaltung "in puncto Zynismus" so klar übertrifft, daß der Schriftsteller eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, sondern nur noch festzuhalten habe, "wie es in Wirklichkeit ist".
Tschechows grundsätzlicher, oft abgründiger Skeptizismus machte auch vor dem Schreiben, vor der "künstlerisch genannten Literatur" und deren Wirkungsmöglichkeiten zur Verbesserung des Menschengeschlechts nicht halt. Von sich selbst konnte Tschechow sagen, er sei eigentlich "kein Künstler" und jedenfalls "ein schlechter Kritiker", er "verstehe von Theater wenig" und sei kaum in der Lage, zusammenhängend, bündig, wertend über Literatur sich auszusprechen.
Obwohl es von Tschechow keine literaturkritischen und poetologischen Aufsätze oder Traktate gibt, hat man immer wieder versucht, seine "Gedanken" zur Schriftstellerei, zum Theater und nicht zuletzt zur eigenen Schreibarbeit kompilativ zusammenzuführen. Das Ergebnis solcher Unternehmungen ist in jedem Fall ernüchternd, wenn nicht enttäuschend. Das gilt auch für eine unlängst in deutscher Sprache erschienene einschlägige Textsammlung, die auf über dreihundert Druckseiten Tschechows Beobachtungen zur Moskauer Theaterszene der Jahre 1881 bis 1885 dokumentiert, dazu seine Überlegungen zum klassischen und zeitgenössischen Drama, zum Stückeschreiben, zur Schauspielerei und zur Aufführungspraxis. Als Quelle für die vorliegende Auswahl diente im wesentlichen Tschechows Briefwerk, das in der russischen Gesamtausgabe zwölf, in der deutschen Teilübersetzung (1979) fünf Bände umfaßt. Lediglich bei den frühen Theaterglossen, die hier erstmals auf deutsch erscheinen, handelt es sich um eigenständige (wenn auch nicht ganz ernst gemeinte) publizistische Arbeiten.
Ob eigenständig oder beiläufig: Tschechows Notate erbringen nur spärlichen Erkenntnisgewinn. Mehrheitlich beziehen sie sich auf längst vergessene Schriftstellerkollegen, Schauspielerinnen oder Feuilletonisten, auf halbwegs amüsante faits divers wie Affären oder Skandale aus dem Theaterbetrieb, auf Querelen um die Besetzung oder Ausstattung neuer Stücke. Kaum ein Problemzusammenhang wird vertieft und kritisch ausgeleuchtet, kaum etwas Relevantes ist zu erfahren aus dem "schöpferischen Labor" des Autors, kaum eine Frage wird argumentativ auf den Punkt gebracht und für weiterführende Überlegungen genutzt, und selbst in der aphoristischen Verdichtung - oft zitiertes Beispiel: "Kürze ist die Schwester des Talents" - bleibt der jäh einleuchtende Gedankenblitz zumeist aus. Gewiß ist zu berücksichtigen, daß die knappen Textauszüge nicht druckfertig ausformuliert wurden und auch gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, aber man ist doch verwundert darüber, daß ein erfahrener Schriftsteller wie Tschechow fast durchweg in Trivialitäten befangen bleibt, wo Kompetenz und Autorität gefragt wären und auch erwartet werden dürften.
"Ich teile alle Werke in zwei Sorten ein", schreibt Tschechow: "Die, die mir gefallen, und die, die mir nicht gefallen. Ein anderes Kriterium habe ich nicht . . ." Oder: "Schriftsteller sind Kinder ihrer Zeit, und darum müssen sie sich, wie das übrige Publikum auch, den äußeren Bedingungen des allgemeinen Zusammenlebens unterordnen." Und noch: "Das Theater heute ist die Krätze, eine üble Krankheit der Städte." Von solchen Pauschalisierungen und Simplifizierungen wimmelt es in dem schön gestalteten (von allzu zahlreichen Druckfehlern leider verunzierten) Band, und es bleibt zu bedauern, daß das insgesamt eher negative Fazit nur vereinzelt ausgeglichen wird durch präzise Einzelbeobachtungen, produktive Thesen oder erhellende Selbstkommentare.
Anton Tschechow: "Über Theater". Herausgegeben von Jutta Hercher und Peter Urban. Übersetzt von Peter Urban. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2004. 338 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Blitzend: Anton Tschechows Gedanken "Über Theater"
Daß Anton Tschechow - als Erzähler, als Dramatiker - zu den größten Autoren russischer Sprache gehört, wird niemand bezweifeln. Schon in quantitativer Hinsicht ist seine Größe durch zahlreiche Werkausgaben dokumentiert, von denen die letzte dreißig voluminöse Bände umfaßt. Als Großschriftsteller möchte man ihn gleichwohl nicht bezeichnen, und er selbst, der sich als "Künstler" nie wirklich ernst nehmen mochte, hätte sich dieses Label gewiß verbeten. Niemals hätte er, wie Puschkin, zur "Sonne Rußlands" avancieren wollen, und das patriotisch verbrämte "Prophetentum" eines Dostojewski war ihm ebenso suspekt wie Tolstois globaler Ruhm als moralische "Instanz".
Demgegenüber war Tschechow auf bisweilen irritierende Weise darauf bedacht, sich kleinzumachen, sein Werk für "geringfügig" oder gar "verächtlich" zu halten, den öffentlichen Diskurs zu meiden, in der Annahme, er habe ohnehin nichts Nennenswertes - keine "Wahrheiten" - beizutragen über Gott und die Welt, das Leben und den Tod. Statt sich selber, als Autor, zu all dem vernehmen zu lassen, was gemeinhin für "wesentlich" oder auch bloß für "aktuell" gehalten wird, hat er nur einfach beobachtet und wiedergegeben, wie der zeitgenössische russische Normalverbraucher - gleich welcher sozialen Herkunft - in Wort und Tat sich kundtat. Objektiv "wie ein Chemiker" hat er die tausenderlei Verbindungen und Reaktionen analysiert, aus denen sich das Leben jedes einzelnen und das der Gesellschaft insgesamt aufbauen, und früh kam er zur Einsicht, daß das Alltagsgeschehen jegliche literarische Gestaltung "in puncto Zynismus" so klar übertrifft, daß der Schriftsteller eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, sondern nur noch festzuhalten habe, "wie es in Wirklichkeit ist".
Tschechows grundsätzlicher, oft abgründiger Skeptizismus machte auch vor dem Schreiben, vor der "künstlerisch genannten Literatur" und deren Wirkungsmöglichkeiten zur Verbesserung des Menschengeschlechts nicht halt. Von sich selbst konnte Tschechow sagen, er sei eigentlich "kein Künstler" und jedenfalls "ein schlechter Kritiker", er "verstehe von Theater wenig" und sei kaum in der Lage, zusammenhängend, bündig, wertend über Literatur sich auszusprechen.
Obwohl es von Tschechow keine literaturkritischen und poetologischen Aufsätze oder Traktate gibt, hat man immer wieder versucht, seine "Gedanken" zur Schriftstellerei, zum Theater und nicht zuletzt zur eigenen Schreibarbeit kompilativ zusammenzuführen. Das Ergebnis solcher Unternehmungen ist in jedem Fall ernüchternd, wenn nicht enttäuschend. Das gilt auch für eine unlängst in deutscher Sprache erschienene einschlägige Textsammlung, die auf über dreihundert Druckseiten Tschechows Beobachtungen zur Moskauer Theaterszene der Jahre 1881 bis 1885 dokumentiert, dazu seine Überlegungen zum klassischen und zeitgenössischen Drama, zum Stückeschreiben, zur Schauspielerei und zur Aufführungspraxis. Als Quelle für die vorliegende Auswahl diente im wesentlichen Tschechows Briefwerk, das in der russischen Gesamtausgabe zwölf, in der deutschen Teilübersetzung (1979) fünf Bände umfaßt. Lediglich bei den frühen Theaterglossen, die hier erstmals auf deutsch erscheinen, handelt es sich um eigenständige (wenn auch nicht ganz ernst gemeinte) publizistische Arbeiten.
Ob eigenständig oder beiläufig: Tschechows Notate erbringen nur spärlichen Erkenntnisgewinn. Mehrheitlich beziehen sie sich auf längst vergessene Schriftstellerkollegen, Schauspielerinnen oder Feuilletonisten, auf halbwegs amüsante faits divers wie Affären oder Skandale aus dem Theaterbetrieb, auf Querelen um die Besetzung oder Ausstattung neuer Stücke. Kaum ein Problemzusammenhang wird vertieft und kritisch ausgeleuchtet, kaum etwas Relevantes ist zu erfahren aus dem "schöpferischen Labor" des Autors, kaum eine Frage wird argumentativ auf den Punkt gebracht und für weiterführende Überlegungen genutzt, und selbst in der aphoristischen Verdichtung - oft zitiertes Beispiel: "Kürze ist die Schwester des Talents" - bleibt der jäh einleuchtende Gedankenblitz zumeist aus. Gewiß ist zu berücksichtigen, daß die knappen Textauszüge nicht druckfertig ausformuliert wurden und auch gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, aber man ist doch verwundert darüber, daß ein erfahrener Schriftsteller wie Tschechow fast durchweg in Trivialitäten befangen bleibt, wo Kompetenz und Autorität gefragt wären und auch erwartet werden dürften.
"Ich teile alle Werke in zwei Sorten ein", schreibt Tschechow: "Die, die mir gefallen, und die, die mir nicht gefallen. Ein anderes Kriterium habe ich nicht . . ." Oder: "Schriftsteller sind Kinder ihrer Zeit, und darum müssen sie sich, wie das übrige Publikum auch, den äußeren Bedingungen des allgemeinen Zusammenlebens unterordnen." Und noch: "Das Theater heute ist die Krätze, eine üble Krankheit der Städte." Von solchen Pauschalisierungen und Simplifizierungen wimmelt es in dem schön gestalteten (von allzu zahlreichen Druckfehlern leider verunzierten) Band, und es bleibt zu bedauern, daß das insgesamt eher negative Fazit nur vereinzelt ausgeglichen wird durch präzise Einzelbeobachtungen, produktive Thesen oder erhellende Selbstkommentare.
Anton Tschechow: "Über Theater". Herausgegeben von Jutta Hercher und Peter Urban. Übersetzt von Peter Urban. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2004. 338 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Anton Tschechow hat zwar nie theoretisch über das Theater geschrieben, betont Benjamin Henrichs, doch hat er sich in seinen Briefen, Theaterkritiken und Erzählungen wiederholt zum Theater geäußert, was jetzt von den Herausgebern Peter Urban und Jutta Hercher in diesem Buch versammelt wurde. Der Rezensent preist das Ergebnis dieser Sammelaktion in den höchsten Tönen. Es sei das "tollste, vor allem aber nützlichste" Buch über das Theater, nützlich zu jeder "Jahreszeit" und für "jede nur vorstellbare Theaterkrise", schwärmt Henrichs. Schon der den Band eröffnende Text, in dem Tschechow den größten Theaterstar seiner Zeit, Sarah Bernhardt, wegen ihrer Künstlichkeit angreift, ist dem Rezensenten eine "Gründungsschrift für das künftige Tschechowsche Theater". Dem Schriftsteller ging es um ein weniger lautes, weniger dramatisches Bühnengeschehen und er warnte vor "pompösen Effekten", wie sie zu der Zeit üblich waren, erklärt Henrichs. In dieser vom Schriftsteller propagierten Zurückhaltung steckt für den begeisterten Rezensenten eine "Neuverzauberung der Welt", die den Reiz und die Kraft des Tschechowschen Theaters ausmachen. Für ihn stellt sich Tschechow selbst in seinen Texten zum Theater als die "schönste aller Tschechow-Figuren" dar und er rühmt diesen Band als "Medizin", die sowohl gegen den "Kitsch" als auch "gegen die Kälte" wirksam ist und die immer dann gereicht werden sollte, wenn das Theater mal wieder in der Krise steckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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