Stella kennt sich aus in der High Society. Als Gesellschaftsfotografin lichtet sie die Reichen und Schönen ab. Sie geht auf ihre Feste und sucht sehnsüchtig ihre Nähe. Als sie einer Gruppe von Obdachlosen begegnet, die wie aus dem Nichts auf einer Party aufkreuzen, glaubt sie, den wahren Glamour entdeckt zu haben. Mit dem Finger auf dem Auslöser ihrer Kamera folgt sie ihnen - und verliert sich in ihrer Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2013Schenkt uns Erlösung vom faden Glamour
Schmiddel und sein Schmuddelpack, Hochglanz und Elend der Obdachlosen: Jörg Uwe Albig kürt in "Ueberdog" neue Stilikonen
Punk- und Grunge-Look, Prada-Meinhof- und Heroin Chic und überhaupt die ganze Benetton-Ästhetik der Junkies, Freaks und Hungerleider-Beauties sind nicht mehr ganz der letzte Schrei. Relativ neu ist dagegen der Penner als Fashion victim: Die "Bag Lady" trägt Aldi-Plastiktüten zum Chanel-Kostüm, der Homeless- oder Hobo-Hipster Zauselbart zu speckigen Cordhosen. Die deutsche "Vogue" inszenierte kürzlich Gucci- und Prada-Models im Obdachlosenmilieu; Patrick Mohr schickte sogar schon echte Obdachlose auf den Laufsteg. Wenn Paparazzi Britney Spears mit ausgelatschten Turnschuhen und Schlabberpulli ertappen, wird gleich ein neuer Trend ausgerufen: Designerklamotten sind nur noch bei den ärmeren Schönen und Reichen in; der wahre Hipster trägt Lumpen aus dem Container. "Eigentlich ist der Pennerlook schon an sich ein Statussymbol."
Aus solchen Lifestyleblüten saugt Jörg-Uwe Albig den gallenbitteren Honig seiner Satire "Ueberdog". Als ehemaliger "Stern"-Redakteur und Kunstjournalist kennt Albig Luxus und Moden des Zeitgeists; in seinem letzten Roman "Berlin Palace" etwa recycelten smarte Chinesen Hakenkreuze, Rotkäppchen-Dirndl und andere Mythen deutscher Populärkultur als Stil-Accessoires. In "Ueberdog" treibt Albig jetzt den Bag Style auf die Spitze: Berber sind Trendsetter. Sie sind jung und wild, hässlich und böse und haben kein Geld, aber dafür wohnt in ihnen der "Geist der Sinnlichkeit und der Rohheit, der Geist des Leckmichamarsch". Der Supermarkttrolley ist ihr Über-Porsche, der Platz unter der Brücke cooler als jedes Loft. Urinflecken auf der Hose sind "classy", Frotteenickis aus der Mülltonne sexy. Klauen, Schnorren und Zechprellen ist ihr ultimativer Kick und ihre Revolte. Gabba, ihr Fuselmix aus Gatorade und Bacardi, schlägt jeden Cocktail, ihr herber Körpergeruch überstinkt Luxusparfums wie "Je sais bien quoi" von Badajol, "Electra" von Création Critique und selbst Chloé Sarrazins "Arrogance".
Stella ist Mode- und Gesellschaftsfotografin, aber sie will nicht mehr länger mit dem Fahrrad zu Events wie dem After Sales Sale der Art Altona, der Premiere eines Queer-Westerns oder der Adipositas-Gala im Kunstmuseum fahren. Erlösung vom faden Glamour findet sie ganz unten, bei einer Bande von Obdachlosen, die sich hoch oben in der Bauruine der Hamburger Elbphilharmonie einquartiert hat. Ihr Anführer nennt sich Schmiddel, Wotan, Beriberi, Bang-Cock oder auch Sebastian Stern, trägt einen abgewetzten Kamelhaarmantel und hört gern Schlager wie "Schatzi, schenk mir ein Abendbrot" oder "Sexy Schlauch", aber er ist der angesagteste It-Boy Hamburgs. Seine Partys sind legendär, seine Sprüche großes Tennis. Wenn Schmiddel und seine Schmuddelkinder auf Vernissagen auftauchen, um Wachtelbrüstchen an ihre Hunde zu verfüttern und Designermöbel vollzukotzen, ersterben die "Follower" aus der Kreativszene - Galeristen, Kampnagel-Schauspieler, Werbetexter, digitale Bohemiens, "Cicero"-Feuilletonisten - in Ehrfurcht vor so viel lässiger Frechheit und authentischem Stilgefühl.
Für Stella sind ihre neuen Freunde Engel. Von Dionysius Aeropagita und anderen scholastischen Engelskundlern weiß sie, dass die "Botschafter der Schönheit" manchmal zu den Sterblichen herabsteigen und sie zu sich hinaufziehen. Auch wenn sie von Chuck, Zebra, Paul und Zork verhöhnt, gedemütigt und "Uschi" gerufen wird: Allein mit Schmiddel, dem wiedergeborenen Andy Warhol, um die Häuser ziehen zu dürfen, ist Gnade. Mehr noch als ihre Fotos sind die Engel aus der Gosse "Erscheinungen, aus Licht und Glauben geboren", reines Jetzt, Ekstase und Offenbarung. Endlich gehört sie "zu denen, die ihre Geworfenheit annahmen, ihre Unbehaustheit, und auf den billigen Trost verzichteten, den eine Fußbodenheizung und ein paar Knorr--Holm-Stühle versprachen. Am Ende wird die völlig verwahrloste Stella von Zeugen Jehovas auf der Straße aufgelesen und ins Krankenhaus eingeliefert, aber ihr Glauben ist ungebrochen.
Albig zieht sein Stil-Experiment gnadenlos durch. Ironische Distanz wäre ein Stilbruch, psychologischer Realismus ein Brechmittel. Wie in "Berlin Palace" entwirft er mit viel Szenekenntnis, Fantasie und Liebe zum Detail eine in sich geschlossene, durchgestylte Untergrundkultur. Er kennt (und nennt leider auch) all ihre Stars, von Meinhard "Purzel" von Gloeden bis zu Miriam Brockstedt von der Serie "Tierheim Stiefelsbrück" und Eventmanagerin Gesine Speyerling, ihre bevorzugten Treffpunkte, Songs, Zeitschriften und Sneakers-Marken. Das ist nicht ohne perversen Reiz und Insider-Witz, aber auf die Dauer ist die Litanei doch so ermüdend wie Partygästelisten, Klatschkolumnen und Modestrecken.
Stella ist eher transzendental obdachlos, aber auch nur eine Kunstfigur: Ihre Unschuld bleibt engelhaft blass, ihre Oberfläche opak. Ihr bevorzugte Wahrnehmungsform ist das reine Schauen und Staunen, ihre bevorzugte Stilfigur das hymnische "Ich sah". Enttäuschungen und Widersprüche blendet sie souverän aus ihrem Hochglanzweltbild aus; die paar Fäden, die sie anfangs noch mit der Welt der Sterblichen verbinden (etwa die Beziehung mit einem Kulturwissenschaftler, der eher allergisch-dekonstruktiv auf die "Celebreties Culture" reagiert) reißen ab, und so schwebt sie bald völlig losgelöst und selig in sich selbst über dem Erdboden. Der Underdog als Übermensch, der Penner als Stilikone: Albig reizt seinen Einfall so gnadenlos aus, dass er am Ende ganz löchrig und verschlissen ist: ein Fall für die Rotkreuz-Kleidersammlung.
MARTIN HALTER
Jörg-Uwe Albig: "Ueberdog". Roman.
Tropen Verlag, Stuttgart 2013. 223 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schmiddel und sein Schmuddelpack, Hochglanz und Elend der Obdachlosen: Jörg Uwe Albig kürt in "Ueberdog" neue Stilikonen
Punk- und Grunge-Look, Prada-Meinhof- und Heroin Chic und überhaupt die ganze Benetton-Ästhetik der Junkies, Freaks und Hungerleider-Beauties sind nicht mehr ganz der letzte Schrei. Relativ neu ist dagegen der Penner als Fashion victim: Die "Bag Lady" trägt Aldi-Plastiktüten zum Chanel-Kostüm, der Homeless- oder Hobo-Hipster Zauselbart zu speckigen Cordhosen. Die deutsche "Vogue" inszenierte kürzlich Gucci- und Prada-Models im Obdachlosenmilieu; Patrick Mohr schickte sogar schon echte Obdachlose auf den Laufsteg. Wenn Paparazzi Britney Spears mit ausgelatschten Turnschuhen und Schlabberpulli ertappen, wird gleich ein neuer Trend ausgerufen: Designerklamotten sind nur noch bei den ärmeren Schönen und Reichen in; der wahre Hipster trägt Lumpen aus dem Container. "Eigentlich ist der Pennerlook schon an sich ein Statussymbol."
Aus solchen Lifestyleblüten saugt Jörg-Uwe Albig den gallenbitteren Honig seiner Satire "Ueberdog". Als ehemaliger "Stern"-Redakteur und Kunstjournalist kennt Albig Luxus und Moden des Zeitgeists; in seinem letzten Roman "Berlin Palace" etwa recycelten smarte Chinesen Hakenkreuze, Rotkäppchen-Dirndl und andere Mythen deutscher Populärkultur als Stil-Accessoires. In "Ueberdog" treibt Albig jetzt den Bag Style auf die Spitze: Berber sind Trendsetter. Sie sind jung und wild, hässlich und böse und haben kein Geld, aber dafür wohnt in ihnen der "Geist der Sinnlichkeit und der Rohheit, der Geist des Leckmichamarsch". Der Supermarkttrolley ist ihr Über-Porsche, der Platz unter der Brücke cooler als jedes Loft. Urinflecken auf der Hose sind "classy", Frotteenickis aus der Mülltonne sexy. Klauen, Schnorren und Zechprellen ist ihr ultimativer Kick und ihre Revolte. Gabba, ihr Fuselmix aus Gatorade und Bacardi, schlägt jeden Cocktail, ihr herber Körpergeruch überstinkt Luxusparfums wie "Je sais bien quoi" von Badajol, "Electra" von Création Critique und selbst Chloé Sarrazins "Arrogance".
Stella ist Mode- und Gesellschaftsfotografin, aber sie will nicht mehr länger mit dem Fahrrad zu Events wie dem After Sales Sale der Art Altona, der Premiere eines Queer-Westerns oder der Adipositas-Gala im Kunstmuseum fahren. Erlösung vom faden Glamour findet sie ganz unten, bei einer Bande von Obdachlosen, die sich hoch oben in der Bauruine der Hamburger Elbphilharmonie einquartiert hat. Ihr Anführer nennt sich Schmiddel, Wotan, Beriberi, Bang-Cock oder auch Sebastian Stern, trägt einen abgewetzten Kamelhaarmantel und hört gern Schlager wie "Schatzi, schenk mir ein Abendbrot" oder "Sexy Schlauch", aber er ist der angesagteste It-Boy Hamburgs. Seine Partys sind legendär, seine Sprüche großes Tennis. Wenn Schmiddel und seine Schmuddelkinder auf Vernissagen auftauchen, um Wachtelbrüstchen an ihre Hunde zu verfüttern und Designermöbel vollzukotzen, ersterben die "Follower" aus der Kreativszene - Galeristen, Kampnagel-Schauspieler, Werbetexter, digitale Bohemiens, "Cicero"-Feuilletonisten - in Ehrfurcht vor so viel lässiger Frechheit und authentischem Stilgefühl.
Für Stella sind ihre neuen Freunde Engel. Von Dionysius Aeropagita und anderen scholastischen Engelskundlern weiß sie, dass die "Botschafter der Schönheit" manchmal zu den Sterblichen herabsteigen und sie zu sich hinaufziehen. Auch wenn sie von Chuck, Zebra, Paul und Zork verhöhnt, gedemütigt und "Uschi" gerufen wird: Allein mit Schmiddel, dem wiedergeborenen Andy Warhol, um die Häuser ziehen zu dürfen, ist Gnade. Mehr noch als ihre Fotos sind die Engel aus der Gosse "Erscheinungen, aus Licht und Glauben geboren", reines Jetzt, Ekstase und Offenbarung. Endlich gehört sie "zu denen, die ihre Geworfenheit annahmen, ihre Unbehaustheit, und auf den billigen Trost verzichteten, den eine Fußbodenheizung und ein paar Knorr--Holm-Stühle versprachen. Am Ende wird die völlig verwahrloste Stella von Zeugen Jehovas auf der Straße aufgelesen und ins Krankenhaus eingeliefert, aber ihr Glauben ist ungebrochen.
Albig zieht sein Stil-Experiment gnadenlos durch. Ironische Distanz wäre ein Stilbruch, psychologischer Realismus ein Brechmittel. Wie in "Berlin Palace" entwirft er mit viel Szenekenntnis, Fantasie und Liebe zum Detail eine in sich geschlossene, durchgestylte Untergrundkultur. Er kennt (und nennt leider auch) all ihre Stars, von Meinhard "Purzel" von Gloeden bis zu Miriam Brockstedt von der Serie "Tierheim Stiefelsbrück" und Eventmanagerin Gesine Speyerling, ihre bevorzugten Treffpunkte, Songs, Zeitschriften und Sneakers-Marken. Das ist nicht ohne perversen Reiz und Insider-Witz, aber auf die Dauer ist die Litanei doch so ermüdend wie Partygästelisten, Klatschkolumnen und Modestrecken.
Stella ist eher transzendental obdachlos, aber auch nur eine Kunstfigur: Ihre Unschuld bleibt engelhaft blass, ihre Oberfläche opak. Ihr bevorzugte Wahrnehmungsform ist das reine Schauen und Staunen, ihre bevorzugte Stilfigur das hymnische "Ich sah". Enttäuschungen und Widersprüche blendet sie souverän aus ihrem Hochglanzweltbild aus; die paar Fäden, die sie anfangs noch mit der Welt der Sterblichen verbinden (etwa die Beziehung mit einem Kulturwissenschaftler, der eher allergisch-dekonstruktiv auf die "Celebreties Culture" reagiert) reißen ab, und so schwebt sie bald völlig losgelöst und selig in sich selbst über dem Erdboden. Der Underdog als Übermensch, der Penner als Stilikone: Albig reizt seinen Einfall so gnadenlos aus, dass er am Ende ganz löchrig und verschlissen ist: ein Fall für die Rotkreuz-Kleidersammlung.
MARTIN HALTER
Jörg-Uwe Albig: "Ueberdog". Roman.
Tropen Verlag, Stuttgart 2013. 223 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Den im Text enthaltenen Protest gegen den Lustkapitalismus findet Felix Stephan politisch okay. Leider muss der Autor dafür seine Heldin über die Klinge springen lassen, und das sieht der Rezensent nur ungern mit an. Wenn der Promi-Fotografin Stella Sachs die gewinnbringende Einheit von Armut und Schönheit aufgeht, ist ihm Jörg-Uwe Albigs Figur, die "brachial affirmative" Endverbraucherin mit einem Faible fürs Glamouröse, nämlich längst ans Herz gewachsen. Albigs verheißungsvoll einfache Geschichte entpuppt sich für Stephan als verhängnisvoll einfacher Roman.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2013Die Ökonomie des Glamours
Jörg-Uwe Albig erfindet in seinem Roman „Ueberdog“ die Promi-Fotografin Stella, um über sie zu Gericht zu sitzen
Große Romane erzählen oft sehr simple Geschichten. Ein Mann geht in die Stadt oder aufs Land, eine Ehe beginnt oder endet. Allerdings bergen Romane, die einfache Geschichten erzählen, immer auch das Risiko, sich als einfache Romane herauszustellen. Jörg Uwe Albigs Roman „Ueberdog“ spielt eine denkbar einfache Geschichte durch: Die Hamburger Celebrity-Fotografin Stella Sachs gerät an eine Gruppe Obdachloser und erfährt, dass die mittellosen Außenseiter über mehr Stolz, Würde und damit Glamour verfügen als die gesamte Hamburger Glitzerwelt zusammen. Dass sich Armut und Schönheit nicht ausschließen müssen, scheint für Albigs Erzählerin eine verwirrende Überraschung zu sein, die ihr ganzes Leben aus den Angeln hebt.
Zwar gehört es zum Wesen von Ich-Erzählern, dass sie naiv, sogar simpel sein dürfen. Allerdings ist in diesem Fall Stellas Weltanschauung kein phänomenologisches, sondern ein politisches Horrorszenario. Stella ist der Prototyp jener postskeptischen Menschenschablone, von der die Linken denken, dass die Neoliberalen denken, dass sie der ideale Mensch wäre: ein brachial affirmierender Endverbraucher, der die industriell gefertigte Glorie nicht mehr von ihren Produktionsbedingungen unterscheiden möchte. Als Romanstimme taugt diese politische Projektion eher nicht. Weil sie als reines Negativum entworfen ist, bleibt sie zwangsläufig schematisch.
Bevor Stella in die Obdachlosen-Halbwelt hinabsteigt, fotografiert sie eine Präsentation der Fantasiemarke „Greystoke“ in der Bauruine der Elbphilharmonie, bei der sich die Promi-Halbwelt der Hansestadt tummelt. Die Leute dort heißen Mireille Dombass, Walt Gerringer oder Betty Arnheim und tragen Düfte mit zotigen Namen, „Théorie“ von Aline Badiou zum Beispiel. Stella findet diese Marketing-Einöde ungebrochen super. Dass sie sich in ihrer Nähe aufhalten darf, empfindet sie als finalen Glückszustand, dahinter ist nichts mehr: „Ich roch ihr Parfum, ,Je sais bien quoi’ von Badajol. Und plötzlich spürte ich, wie ich zurückfand zum alten Einverstandensein, zum Geheimnis der Zustimmung, zum Ja. Ich spürte, wie es in mir den Mund aufriss, das große, verdammt noch mal lebenswichtige Ja.“
Zuhause belästigt sie ihr neo-marxistischer Freund Patrick unterdessen mit seinen ewigen Theorien: „Die Ökonomie des Glamours, hatte mir einmal Patrick erklärt, beruht auf der Verschleierung dieser Ökonomie.“ Wer allerdings wie Stella Sachs lediglich den Glanz sieht, interessiert sich für die Verschleierungstaktik des Glamours eher nicht. Die Erzählerin sieht die Welt im Kamera-Modus, selbst wenn sie gerade nicht knipst, und für die Kamera gibt es keine Armut, nur Schönheit: „Ich verschlang das Leben und überließ die Verdauung der Kamera, die es einspeichelte, mit Enzymen versetzte und aufspaltete in Nahrhaftes und Auszuscheidendes.“ Weil sie die Ökonomie ignoriert, schwebt Stella Sachs durch die Milieus, als wäre die soziale Trennung eine Erfindung paranoider SPD-Kreisverbände.
Der stärkste, unabhängigste Geist im Buch heißt Schmiddel und ist so etwas wie der informelle Anführer der Obdachlosen, eine Art Marlon Brando des Straßendschungels. Er ist das magische Zentrum und Stella zirkuliert lustvoll auf seiner Umlaufbahn, wobei sie schrittweise ihre alte Existenz zurücklässt: Patrick zieht zu Petra, in ihre Wohnung kehrt Stella kaum mehr zurück und irgendwann fällt ihr auf: „Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal Geld ausgegeben hatte; es fühlte sich an wie ein Regelbruch.“
Spätestens hier wird deutlich, dass „Ueberdog“ wie ein invertiertes Protestschild funktioniert: Anstatt „Nein!“ zu rufen, ruft der Roman „Ja!“, meint damit aber auch „Nein!“, nur kniffliger. Albig protestiert mit diesem Buch gegen einen vom Lustkapitalismus verzerrten Wertekanon. Politisch mag das ein nobles Anliegen sein, allerdings fällt es schwer einen Roman zu lieben, der seine eigene Erzählerin verachtet.
FELIX STEPHAN
Jörg-Uwe Albig: Ueberdog. Roman. Tropen Verlag, Stuttgart 2013. 223 Seiten, 19,95 Euro.
In der Marketing-Einöde fühlt
sich Stella ungebrochen wohl
Dieser Roman sagt ständig „ja“,
meint aber „nein“, nur kniffliger
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Jörg-Uwe Albig erfindet in seinem Roman „Ueberdog“ die Promi-Fotografin Stella, um über sie zu Gericht zu sitzen
Große Romane erzählen oft sehr simple Geschichten. Ein Mann geht in die Stadt oder aufs Land, eine Ehe beginnt oder endet. Allerdings bergen Romane, die einfache Geschichten erzählen, immer auch das Risiko, sich als einfache Romane herauszustellen. Jörg Uwe Albigs Roman „Ueberdog“ spielt eine denkbar einfache Geschichte durch: Die Hamburger Celebrity-Fotografin Stella Sachs gerät an eine Gruppe Obdachloser und erfährt, dass die mittellosen Außenseiter über mehr Stolz, Würde und damit Glamour verfügen als die gesamte Hamburger Glitzerwelt zusammen. Dass sich Armut und Schönheit nicht ausschließen müssen, scheint für Albigs Erzählerin eine verwirrende Überraschung zu sein, die ihr ganzes Leben aus den Angeln hebt.
Zwar gehört es zum Wesen von Ich-Erzählern, dass sie naiv, sogar simpel sein dürfen. Allerdings ist in diesem Fall Stellas Weltanschauung kein phänomenologisches, sondern ein politisches Horrorszenario. Stella ist der Prototyp jener postskeptischen Menschenschablone, von der die Linken denken, dass die Neoliberalen denken, dass sie der ideale Mensch wäre: ein brachial affirmierender Endverbraucher, der die industriell gefertigte Glorie nicht mehr von ihren Produktionsbedingungen unterscheiden möchte. Als Romanstimme taugt diese politische Projektion eher nicht. Weil sie als reines Negativum entworfen ist, bleibt sie zwangsläufig schematisch.
Bevor Stella in die Obdachlosen-Halbwelt hinabsteigt, fotografiert sie eine Präsentation der Fantasiemarke „Greystoke“ in der Bauruine der Elbphilharmonie, bei der sich die Promi-Halbwelt der Hansestadt tummelt. Die Leute dort heißen Mireille Dombass, Walt Gerringer oder Betty Arnheim und tragen Düfte mit zotigen Namen, „Théorie“ von Aline Badiou zum Beispiel. Stella findet diese Marketing-Einöde ungebrochen super. Dass sie sich in ihrer Nähe aufhalten darf, empfindet sie als finalen Glückszustand, dahinter ist nichts mehr: „Ich roch ihr Parfum, ,Je sais bien quoi’ von Badajol. Und plötzlich spürte ich, wie ich zurückfand zum alten Einverstandensein, zum Geheimnis der Zustimmung, zum Ja. Ich spürte, wie es in mir den Mund aufriss, das große, verdammt noch mal lebenswichtige Ja.“
Zuhause belästigt sie ihr neo-marxistischer Freund Patrick unterdessen mit seinen ewigen Theorien: „Die Ökonomie des Glamours, hatte mir einmal Patrick erklärt, beruht auf der Verschleierung dieser Ökonomie.“ Wer allerdings wie Stella Sachs lediglich den Glanz sieht, interessiert sich für die Verschleierungstaktik des Glamours eher nicht. Die Erzählerin sieht die Welt im Kamera-Modus, selbst wenn sie gerade nicht knipst, und für die Kamera gibt es keine Armut, nur Schönheit: „Ich verschlang das Leben und überließ die Verdauung der Kamera, die es einspeichelte, mit Enzymen versetzte und aufspaltete in Nahrhaftes und Auszuscheidendes.“ Weil sie die Ökonomie ignoriert, schwebt Stella Sachs durch die Milieus, als wäre die soziale Trennung eine Erfindung paranoider SPD-Kreisverbände.
Der stärkste, unabhängigste Geist im Buch heißt Schmiddel und ist so etwas wie der informelle Anführer der Obdachlosen, eine Art Marlon Brando des Straßendschungels. Er ist das magische Zentrum und Stella zirkuliert lustvoll auf seiner Umlaufbahn, wobei sie schrittweise ihre alte Existenz zurücklässt: Patrick zieht zu Petra, in ihre Wohnung kehrt Stella kaum mehr zurück und irgendwann fällt ihr auf: „Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal Geld ausgegeben hatte; es fühlte sich an wie ein Regelbruch.“
Spätestens hier wird deutlich, dass „Ueberdog“ wie ein invertiertes Protestschild funktioniert: Anstatt „Nein!“ zu rufen, ruft der Roman „Ja!“, meint damit aber auch „Nein!“, nur kniffliger. Albig protestiert mit diesem Buch gegen einen vom Lustkapitalismus verzerrten Wertekanon. Politisch mag das ein nobles Anliegen sein, allerdings fällt es schwer einen Roman zu lieben, der seine eigene Erzählerin verachtet.
FELIX STEPHAN
Jörg-Uwe Albig: Ueberdog. Roman. Tropen Verlag, Stuttgart 2013. 223 Seiten, 19,95 Euro.
In der Marketing-Einöde fühlt
sich Stella ungebrochen wohl
Dieser Roman sagt ständig „ja“,
meint aber „nein“, nur kniffliger
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