Irgendwo im Mittleren Westen der USA. Henry lebt mit seinem Sohn Junior in einem Pick-up. Er setzt alles daran, Junior ein besseres Leben zu bieten. Aber es bleiben ihm nur noch ein paar Dollar, die sie von einem Leben auf der Straße trennen.Da keimt Hoffnung auf: Heute ist Juniors achter Geburtstag, und Henry hat morgen ein Vorstellungsgespräch. Zur Feier des Tages lädt Henry seinen Sohn zum Essen bei McDonald's ein, gefolgt von einer Nacht in einem Motel, in einem richtigen Bett. Während Junior fernsieht und Henry in der Badewanne für sein Vorstellungsgespräch übt, scheint einen Moment lang alles in Ordnung. Doch als Henry auf dem Parkplatz in eine fatale Auseinandersetzung gerät und Junior an Fieber erkrankt, werden Vater und Sohn in die Nacht hinausgetrieben, wo sie darum kämpfen, ihr Leben und ihre Würde zusammenzuhalten.Voller Dramatik und Spannung ist diese Reise ins Niemandsland der endlosen Parkplätze zwischen Walmart und Trailerpark, prekären Rückzugsorten und blendend hellen Shopping Malls, zwischen Überfluss und Mangel. Mit dem Geldbetrag in Henrys Tasche, der jedem Kapitel als Titel übersteht, kann sich auch das Schicksal von Vater und Sohn buchstäblich im Handumdrehen wenden. Voller Wärme und Empathie erzählt Jakob Guanzon in Rückblenden auch vom früheren Familienleben, und wir verlieben uns mit Henry in Michelle, das toughe Mädchen mit dem schiefen Lächeln, Juniors Mutter.Eine mitreißende Liebesgeschichte und ein großer amerikanischer Familienroman in einer Zeit, in der soziale Mobilität zunehmend abnimmt..
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensentin Helena Schäfer ist Jakob Guanzons Debütroman über einen Vater und seinen Sohn und das Leben an der Armutsgrenze in den USA von heute große Literatur. Das liegt für sie weniger an der Sprache, die sie mitunter allzu metaphernselig findet, und auch nicht an der Handlungsentwicklung, die ihr immer wieder holzschnittartig erscheint, sondern vor allem daran, dass sie ich in die Figuren und ihre Probleme hineinversetzen zu vermag. Guanzons Verdienst sieht sie darin, dass der Autor seine Figuren und ihr Ringen um ein halbwegs würdevolles Dasein in widrigen Verhältnissen glaubwürdig und plastisch darstellt und nichts und niemand romantisiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2023Im Griff des Geldes
Jakob Guanzons Roman "Überfluss" erzählt vom Überleben am Rande der Gesellschaft
Seit einem halben Jahr leben Henry und sein achtjähriger Sohn Junior im Pick-up-Truck. Während der Junge in die Grundschule geht, verdient der Vater als Tagelöhner ein paar Dollar, die kaum bis zum nächsten Tag reichen. Ihr Leben passt in eine Kiste auf der Ladefläche des Trucks: Geburtsurkunden, Werkzeuge, Spielsachen, die Urne mit der Asche von Henrys Vater. Sie leben im mittleren Westen der USA, Tausende Meilen von beiden Ozeanen entfernt, in einer Welt der Walmart-Parkplätze, Outlet Malls und Trailer-Parks mit regenverwaschenen Sofas und farblosen Flamingos. Zum Geburtstag des Sohnes mietet Henry ein Motelzimmer, das Sicherheit und Wärme verspricht, wenigstens für eine Nacht. Doch dann laufen die Dinge aus dem Ruder.
"Überfluss" ist eine Geschichte des Scheiterns, vom Ende her erzählt. Jakob Guanzon zeigt in seinem Debütroman, wie brutal es ist, in Amerika arm zu sein. An den amerikanischen Traum, der jedem Bürger ohnehin nur das Streben nach Glück verspricht, nicht das Glück selbst, ist gar nicht erst zu denken.
Zugleich romantisiert der Roman die Armut an keiner Stelle. Über jedem Kapitel steht die Summe, die Henry zur Verfügung steht. Sie schwebt über ihm wie ein Dämon, der alles Denken und Handeln bestimmt: durch welchen Supermarkteingang man gehen sollte, um sich nicht in Verführung zu bringen, und wie lange man auf den Teller des Sohnes starren darf, ohne der Gier zu erliegen, dessen Pommes frites anzurühren. Wer reich ist, kann von Speisekarten ohne Preisangaben bestellen; wer so arm ist wie Henry, spürt das Kleingeld in der Tasche klimpern "wie winzige Handschellen". Geld hat die Armen viel mehr im Griff als die Reichen.
Der titelgebende Überfluss ist im Supermarkt zum Greifen nahe und doch unerreichbar. Er kann anlässlich Juniors Geburtstag nur simuliert werden: mit einem Besuch bei McDonald's und dem schäbigen Motelzimmer. Das erinnert an die Lektion aus Betty Smiths bekanntem amerikanischen Roman "Ein Baum wächst in Brooklyn" von 1943, in dem es ebenfalls ums Aufwachsen in Armut geht. In dieser Geschichte um ein elfjähriges Mädchen sind es nicht Geburtstags-Pommes-frites, die kalt und matschig werden, sondern es ist der Kaffee, der als einziges Lebensmittel weggeschüttet werden darf, um den Überfluss nachzuahmen, in dem man nicht lebt.
In Rückblenden wird geschildert, wie es zu dazu gekommen ist: Henrys philippinischer Vater erhielt in den USA keine Stelle, die seinem Bildungsstand entsprochen hätte, die Wut und Verbitterung darüber ließ er auch an seinem Sohn aus. Die Mutter erkrankte und starb früh, es blieben ein Berg an Schulden und ein Alltag im Trailerpark, es folgten Drogenhandel und ein Gefängnisaufenthalt. Alle großen Probleme der amerikanischen Gegenwart werden im Roman thematisiert: das nicht vorhandene Sozialsystem, Rassismus, Sucht, Gewalt und die Markierungen, die Täter noch lange nach abgesessener Haft bestrafen. Henry bekommt keine Sozialhilfe, keine Versicherung, kein Stimmrecht, keine Chance auf einen Arbeitsvertrag. Neben alldem geht es auch um die Frage, was es bedeutet, ein guter Vater zu sein - unter diesen Umständen.
Der von Dietlind Falk ins Deutsche übersetzte Roman war 2021 in den USA für den National Book Award nominiert. Seine Schwächen sind die gelegentlich zu metaphernreiche Sprache und die etwas holzschnittartige Handlung. Aber seine Stärke ist es, zu erreichen, was nur großer Literatur gelingt: dass man sich in andere hineinversetzt, in ihre Scham, ihre Wut, ihren Stolz, ihr Ringen mit sich selbst. Das schafft Guanzon derart gut, dass es fast eine Qual ist. Weil man fühlt, was Henry fühlt. HELENA SCHÄFER
Jakob Guanzon: "Überfluss". Roman.
Aus dem Amerikanischen
von Dietlind Falk.
Elster Verlag, Zürich 2023.
384 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jakob Guanzons Roman "Überfluss" erzählt vom Überleben am Rande der Gesellschaft
Seit einem halben Jahr leben Henry und sein achtjähriger Sohn Junior im Pick-up-Truck. Während der Junge in die Grundschule geht, verdient der Vater als Tagelöhner ein paar Dollar, die kaum bis zum nächsten Tag reichen. Ihr Leben passt in eine Kiste auf der Ladefläche des Trucks: Geburtsurkunden, Werkzeuge, Spielsachen, die Urne mit der Asche von Henrys Vater. Sie leben im mittleren Westen der USA, Tausende Meilen von beiden Ozeanen entfernt, in einer Welt der Walmart-Parkplätze, Outlet Malls und Trailer-Parks mit regenverwaschenen Sofas und farblosen Flamingos. Zum Geburtstag des Sohnes mietet Henry ein Motelzimmer, das Sicherheit und Wärme verspricht, wenigstens für eine Nacht. Doch dann laufen die Dinge aus dem Ruder.
"Überfluss" ist eine Geschichte des Scheiterns, vom Ende her erzählt. Jakob Guanzon zeigt in seinem Debütroman, wie brutal es ist, in Amerika arm zu sein. An den amerikanischen Traum, der jedem Bürger ohnehin nur das Streben nach Glück verspricht, nicht das Glück selbst, ist gar nicht erst zu denken.
Zugleich romantisiert der Roman die Armut an keiner Stelle. Über jedem Kapitel steht die Summe, die Henry zur Verfügung steht. Sie schwebt über ihm wie ein Dämon, der alles Denken und Handeln bestimmt: durch welchen Supermarkteingang man gehen sollte, um sich nicht in Verführung zu bringen, und wie lange man auf den Teller des Sohnes starren darf, ohne der Gier zu erliegen, dessen Pommes frites anzurühren. Wer reich ist, kann von Speisekarten ohne Preisangaben bestellen; wer so arm ist wie Henry, spürt das Kleingeld in der Tasche klimpern "wie winzige Handschellen". Geld hat die Armen viel mehr im Griff als die Reichen.
Der titelgebende Überfluss ist im Supermarkt zum Greifen nahe und doch unerreichbar. Er kann anlässlich Juniors Geburtstag nur simuliert werden: mit einem Besuch bei McDonald's und dem schäbigen Motelzimmer. Das erinnert an die Lektion aus Betty Smiths bekanntem amerikanischen Roman "Ein Baum wächst in Brooklyn" von 1943, in dem es ebenfalls ums Aufwachsen in Armut geht. In dieser Geschichte um ein elfjähriges Mädchen sind es nicht Geburtstags-Pommes-frites, die kalt und matschig werden, sondern es ist der Kaffee, der als einziges Lebensmittel weggeschüttet werden darf, um den Überfluss nachzuahmen, in dem man nicht lebt.
In Rückblenden wird geschildert, wie es zu dazu gekommen ist: Henrys philippinischer Vater erhielt in den USA keine Stelle, die seinem Bildungsstand entsprochen hätte, die Wut und Verbitterung darüber ließ er auch an seinem Sohn aus. Die Mutter erkrankte und starb früh, es blieben ein Berg an Schulden und ein Alltag im Trailerpark, es folgten Drogenhandel und ein Gefängnisaufenthalt. Alle großen Probleme der amerikanischen Gegenwart werden im Roman thematisiert: das nicht vorhandene Sozialsystem, Rassismus, Sucht, Gewalt und die Markierungen, die Täter noch lange nach abgesessener Haft bestrafen. Henry bekommt keine Sozialhilfe, keine Versicherung, kein Stimmrecht, keine Chance auf einen Arbeitsvertrag. Neben alldem geht es auch um die Frage, was es bedeutet, ein guter Vater zu sein - unter diesen Umständen.
Der von Dietlind Falk ins Deutsche übersetzte Roman war 2021 in den USA für den National Book Award nominiert. Seine Schwächen sind die gelegentlich zu metaphernreiche Sprache und die etwas holzschnittartige Handlung. Aber seine Stärke ist es, zu erreichen, was nur großer Literatur gelingt: dass man sich in andere hineinversetzt, in ihre Scham, ihre Wut, ihren Stolz, ihr Ringen mit sich selbst. Das schafft Guanzon derart gut, dass es fast eine Qual ist. Weil man fühlt, was Henry fühlt. HELENA SCHÄFER
Jakob Guanzon: "Überfluss". Roman.
Aus dem Amerikanischen
von Dietlind Falk.
Elster Verlag, Zürich 2023.
384 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Jakob Guanzon beschreibt in seinem sehr lesenswerten Roman, was passiert, wenn sich individuelle Verhaltensmuster, unglückliche Umstände, verpasste Chancen und das Gefühl von Verlorenheit zu einem unkontrollierbaren Orkan auftürmen. 'Überfluss' überzeugt durch Jakob Guanzons psychologisches Feingefühl für seine Figuren. (...) Dadurch gelingt es dem literarisch herausragend komponierten Roman auch, nicht zu einer abgeschmackten Erzählung über Armut zu verkommen.« Claudia Cosmo, NDR Kultur, Buch der Woche