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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2005

Sein und Spätzeit
Leuchtzeichen: Aufsätze und Gedichte von Albert von Schirnding

In Albert von Schirndings Autobiographie "Alphabet meines Lebens" (2000) findet sich der bei einem Lyriker und Erzähler außergewöhnliche Satz, die Schule sei ihm wichtiger gewesen als das Schreiben. Es war allerdings für ihn kein gewöhnliches Fach, das er mehr als drei Jahrzehnte lang am Münchner Ludwigsgymnasium vertrat, sondern das "Schulfach par excellence". "Kinder, lernt Griechisch!" heißt einer seiner Essays. Wer Griechisch lerne, habe die Chance, von der ersten Stunde an geistige Orientierung zu erwerben, nicht dem "Nur-Spezialistenwissen" ausgeliefert zu sein, sich selbst verstehen zu lernen. Solche Worte sind Leuchtturmzeichen in Zeiten zunehmenden Schrumpfens humanistischer Bildung. Zu einer Art Motto wird das Wort des ägyptischen Priesters über die Griechen im Platonischen Dialog "Timaios": "Jung in der Seele seid ihr alle." "Menschwerdung. Aufsätze zur griechischen Literatur" lautet der Titel des jetzt vorliegenden Sammelbandes.

Im Mittelpunkt dreier Essays stehen die klassischen Philologen, die von Schirnding die Türen zur griechischen Literatur und Philosophie weit aufgestoßen haben: sein (aus dem englischen Exil zurückgekehrter) Lehrer Rudolf Pfeiffer, der Autor des Bandes "Hellas und Hesperien" und Begründer des Goethe-Handbuchs Wolfgang Schadewaldt, der meisterliche und behutsame Interpret der "Odyssee" Uvo Hölscher. In "Dionysos und seine Widersacher" weitet sich die Studie zur Novelle "Der Tod in Venedig" zu einer kleinen Geschichte von Thomas Manns "Rezeption der Antike". Hier bewährt sich von Schirndings vielfach erprobte Wahrnehmungsfähigkeit für das Echo der griechischen in der deutschen Literatur.

Aber zum Leiter der Abteilung Literatur in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1991 bis 2004) wurde er als zeitgenössischer Schriftsteller gewählt. Gewiß schlägt der Erzählband "Hamlet auf der Akropolis" noch einmal eine Brücke zwischen Beruf und schöpferischer Berufung. Aber schon 1958 war von Schirnding erstmals als Lyriker hervorgetreten. Im neuen Lyrikband "Übergabe" zeichnet sich ein Grundthema ab: das Bewußtsein, Glied in einer Kette zu sein, in einer Generationenfolge zu stehen. Unmittelbar anschaulich wird es im Gedicht, das auch dem Band den Titel geliehen hat. Der von der Mutter ererbte große Wald mit seinen Seen und Tieren, für das Kind bevölkert mit Märchenwesen, wird dem Sohn übergeben. Fast in jedes Gedicht sickert Spätzeitstimmung ein: Auch die Liebe steht unter dem Gesetz des Vergehens oder doch der Prüfung. Bild geworden ist beides im Gedicht "Villa d'Este", das einen Moment des Aufenthalts im italienischen Tivoli festhält: "Hinter dem Wasserfall / im Park des Kardinals / sind wir ungetrennt / steht die Zeit still / die uns entzweien wird / Wasserkünste / eines fernen Jahrhunderts / zerstäuben im Licht / des Augenblicks ..."

Assoziationen zur Lyrik von den Romantikern bis Stefan George und Hofmannsthal verlieren sich in manche Gedichte hinein. Und es ist die Spätzeitstimmung, die uns reizt, diese Lyrik eine Fin-de-siècle-Dichtung zu nennen, aber eine Lyrik eben der Wende vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten, nicht vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Wofür Lyrik so offen ist: Erinnerung, das wird hier in vielfachen Facetten eingefangen. Der Gang durch die Stadt der Kindheit, Regensburg, wird zur Begegnung mit jenem Schwebezustand des Daseins, in dem sich noch nichts verfestigt hat, mit dem "Glück des Noch-Nicht". Aber das Gewesene kann auch als Bedrohung empfunden werden: "Vergangenheit wird uns verschlingen."

Diese Lyrik schreitet nicht triumphal einher. "Eingestürzt ist / der Mauerbau meiner Sätze." Aber sie übt sich auch nicht in Unterwürfigkeit oder Wehleidigkeit. Wo sie den Bereich des Religiösen berührt, ruft sie nicht nach "Gnadenbrot", sondern nach der "Heimsuchung". Ihr ist selbst die Verborgenheit Gottes noch erhaben, ist "den Zweifelnden / Zuflucht". Die beiden Bände kommen zur rechten Zeit als Gabe des Verlages für den Autor und seine Leser: Morgen feiert Albert von Schirnding seinen siebzigsten Geburtstag.

WALTER HINCK

Albert von Schirnding: "Menschwerdung". Aufsätze zur griechischen Literatur. Hrsg. von Franz Peter Waiblinger. 196 S., geb., 22,- [Euro]

Albert von Schirnding: "Übergabe". Achtzig Gedichte. 85 S., br., 10,- [Euro]. Beide Bände erschienen bei Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München 2005.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Walter Hinck bezeichnet Albert von Schirndings neue Lyrik als "Fin-de- Siecle-Dichtung" des Übergangs vom 20. zum 21. Jahrhundert. Grund sei die "Spätzeitstimmung" der Gedichte: das Vergehen, das Weitergehen, die Erinnerung. Der Rezensent muss an die Romantiker denken, auch an George und Hofmannsthal. Weder ein triumphaler Gestus noch wehleidige Religiosität ist dieser Lyrik zueigen, lobt Hinck, sondern wohl balancierte Ambivalenz. 

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