Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 14,60 €
  • Broschiertes Buch

Den Gegenstand der Beiträge bilden die Kindheitsautobiographien Überlebender aus den 1980er und 90er Jahren. Ausgehend von dem Paradoxon, daß das Verbot der Repräsentation, Kern der wissenschaftlichen Reflexion über die Shoah, in den autobiographischen Erzählungen Überlebender notwendig übertreten wird, sollen die Erzählformen analysiert werden, die die Provokation des Äußersten zum Gegenstand haben. Scheitern und Gelingen markieren in den Texten eine Grenze, deren Verlauf in verschiedenen Annäherungen erkundet wird.

Produktbeschreibung
Den Gegenstand der Beiträge bilden die Kindheitsautobiographien Überlebender aus den 1980er und 90er Jahren. Ausgehend von dem Paradoxon, daß das Verbot der Repräsentation, Kern der wissenschaftlichen Reflexion über die Shoah, in den autobiographischen Erzählungen Überlebender notwendig übertreten wird, sollen die Erzählformen analysiert werden, die die Provokation des Äußersten zum Gegenstand haben. Scheitern und Gelingen markieren in den Texten eine Grenze, deren Verlauf in verschiedenen Annäherungen erkundet wird.
Autorenporträt
PD Dr. phil. Manuela Günter lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Medien, Autobiographie des 18.-20. Jahrhunderts, Gender/Cultural Studies sowie Shoah-Literatur
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2003

Folter des Wartens
Niemandsland: Studien über literarische Zeugnisse der Shoah

Mit der Befreiung aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ist die Gefangenschaft nicht zu Ende - diese Erkenntnis spricht aus den Zeugnissen vieler jüdischer Shoah-Opfer. "Ich bin eine Überlebende", stellt etwa Cordelia Edvardson in ihrem Roman "Gebranntes Kind sucht das Feuer" fest, "jemand, der im grauen Nebel des Niemandslandes zurückgeblieben ist."

In den Versuchen, das Überleben durch eine schriftliche Fixierung der Vergangenheit zu überleben, wird diese unmögliche Position im "Niemandsland" ausgelotet. Welche Schwierigkeiten - aber auch Chancen - dieses Schreibprojekt über ein Leben auszeichnet, das den Tod bereits hinter sich hat, zeigt eindrücklich der literaturwissenschaftliche Sammelband "Überleben Schreiben. Zur Autobiographik der Shoah". Neben den bereits kanonisierten Texten Primo Levis und Jean Amérys stehen literarische Zeugnisse der letzten beiden Jahrzehnte von Edvardson, Ruth Klüger, Louis Begley und Roman Frister im Vordergrund, die den Holocaust als Kinder oder Jugendliche überlebten. Vor allem aber bildet die Prosa von Imre Kertész ein spannendes und in vielerlei Hinsicht aufschlußreiches Zentrum der hier versammelten Aufsätze.

Die Einsicht der Autorinnen und Autoren, ihrer Vergangenheit in die Augen sehen zu müssen, gewinnt, so der gemeinsame Tenor der Sammlung, durch zwei Aspekte eine eigenwillige Dramatik. Zum einen greifen nämlich die Erinnerungen bewußt die den Auschwitz-Diskurs jahrzehntelang kanalisierenden Normen auf. Sie reichen vom Problem des Bilderverbots und von dem Topos der Undarstellbarkeit bis hin zum rigiden Postulat einer Authentizität, dem zufolge die Erinnerung möglichst ungefiltert und historisch exakt benennbar in ein schriftliches Zeugnis einmünden soll.

Zum anderen reflektieren sie die beträchtliche Anzahl von Stimmen, die Auschwitz entweder ins Vergessen oder in den Kommerz abzudrängen suchen. Die Autoren der fünfziger und sechziger Jahre wie Levi oder Améry widersetzten sich primär der aggressiven Verurteilung jedweder Rede gegen das Vergessen: "Als die wirklich Unbelehrbaren", bemerkte Jean Améry, "werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten." Der Widerstand von Kertész, Edvardson oder Ruth Klüger gilt weniger der Auslöschung als vielmehr der unbändigen und zum Teil höchst fragwürdigen Produktion von Vergangenheit in Büchern, Fernsehserien, Kinofilmen oder kommerziell arbeitenden Shoah-Archiven. "Die jüngere autobiographische Holocaust-Literatur", heißt es in einem Aufsatz, "bildet eine Literatur zweiten Grades: Ihren Gegenstand stellt nicht die eigene Erfahrung dar, sondern die Erfahrung im Lichte bereits literarisierter anderer Erfahrung."

Auf Bilderverbot und Authentizitätsverpflichtung einerseits, "Shoah-Business" andererseits reagieren die Schreibenden offensiv. Hat die Literaturkritik bereits nach dem Erscheinen von Klügers "weiter leben", Kertész' "Roman eines Schicksallosen" oder Louis Begleys "Lügen in Zeiten des Krieges" die "Entmystifizierung" von Auschwitz im Sinne einer politischen Entlastung gefeiert, so geht die Literaturwissenschaft in diesem Fall einen Schritt weiter. In der für Autobiographien konstitutiven Pendelbewegung zwischen Dichtung und Wahrheit schielten die Rezensenten doch zumeist auf den Ausschlag, der das Faktische anzeigte, während in den Aufsätzen der Blick auf den entgegengesetzten Ausschlag gerichtet wird: Alle am Band Beteiligten heben an den Texten der Überlebenden weniger das Autobiographische als vielmehr das Literarische hervor. Dadurch rücken Fragen nach den literarischen Strategien, den Erzählweisen, dem Umgang mit tradierten Gattungen beziehungsweise literarischen Vorbildern in den Mittelpunkt der Reflexion. Dieser Blick ist freilich kein Selbstzweck. "Die Texte der Überlebenden pointieren vielmehr das spezifische kritische Potential der literarischen Darstellung", schreibt die Herausgeberin Manuela Günter, oder mit Kertész gesprochen: "Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht."

Dieses erkenntniskritische Potential wird von den Aufsätzen auf eine für einen Sammelband erstaunliche Weise rekapituliert. Nicht zuletzt die Beschränkung auf einen kleinen Bestand von Texten sorgt für eine Stringenz, die zu der herkömmlichen Kraut-und-Rüben-Ordnung von Publikationen dieser Art wohltuend quer steht. Zugleich ergibt sich eine anregende, teils sich ergänzende, teils sich widersprechende Kommunikation zwischen den Artikeln, die zeigt, daß die Diskussion auf dieser Ebene gerade erst angefangen hat.

So stehe - einem Aufsatz zufolge - dem Überlebenden Kertész Erzählen nicht länger für die Herstellung und Versicherung von Identität zur Verfügung. Vielmehr diene es ihm als Nachweis einer "unwiderruflichen Identifizierung": derjenigen, von den Nazis zu einem "Juden" gemacht worden zu sein, der ausschließlich für die Vernichtung bestimmt ist. In Korrespondenz dazu besticht ein anderer Artikel durch die Analyse der Momente des Wartens und der Langeweile im Roman eines Schicksallosen, auf die bereits in Rezensionen hingewiesen wurde. Die "Folter des Wartens" annulliere die Möglichkeit einer erzählend auf Selbstverwirklichung sich hinbewegenden Subjektivität.

So stimmen die meisten Beiträge darin überein, daß Klüger, Kertész oder Begley mit fiktionalen Mitteln Authentizität herstellen, um diese dadurch bloßzustellen. Diese Erkenntnis wird dann in unterschiedliche Richtungen konkretisiert: im Sinne einer Begutachtung von Steven Spielbergs Archiv "Survivors of the Shoah - Visual History Foundation" oder einer Kritik der poetischen Qualitäten von Binjamin Wilkomirskis "gefälschter" Autobiographie "Bruchstücke" oder zugunsten eines Vergleichs der textuellen beziehungsweise filmischen Strategien in Kertész' KZ-Roman und Roberto Benignis Film "Das Leben ist schön".

Gerade also durch das Literarische in den Texten der Überlebenden entsteht somit eine spezifische, von herkömmlichen Topisierungen und massenmedialen Aufbereitungen abweichende Form des Umgangs mit der Shoah, dank der vieles zur Sprache kommt, was bislang ungesagt blieb. "Die verstehbaren Ausmaße des Verbrechens", so die Herausgeberin, "sind umfangreicher, als die meisten wahrhaben wollen, und es sind vor allem die Überlebenden, die uns diese Ausmaße vor Augen stellen." Der Band "Überleben Schreiben" trägt mit seinen Überlegungen dazu bei, den Blick für das von diesen Holocaust-Texten bereitgestellte Verstehen zu schärfen.

CHRISTOF HAMANN

Manuela Günter (Hrsg.): "Überleben Schreiben". Zur Autobiographik der Shoah. Unter Mitarbeit von Holger Kluge. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002. 218 S., br., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der von Manuela Günter herausgegebene Sammelband "Überleben Schreiben. Zur Autobiographik der Shoah" zeigt nach Ansicht von Rezensent Christof Hamann eindrücklich, welche Schwierigkeiten - aber auch Chancen - ein Schreibprojekt über ein Leben auszeichnet, "das den Tod bereits hinter sich hat". Neben Texten von Primo Levi und Jean Améry stehen literarische Zeugnisse der letzten beiden Jahrzehnte von Edvardson, Ruth Klüger, Louis Begley und Roman Frister und vor allem Imre Kertész im Vordergrund, berichtet Hamann. Die Einsicht der Autorinnen und Autoren, ihrer Vergangenheit in die Augen sehen zu müssen, gewinnt durch zwei Aspekte eine eigenwillige Dramatik, referiert Hamann den gemeinsamen Nenner der Sammlung: Zum einen griffen die Erinnerungen bewusst die den Auschwitz-Diskurs jahrzehntelang kanalisierenden Normen - etwa das Problem des Bilderverbots oder der Topos der Undarstellbarkeit - auf. Zum anderen reflektierten sie die beträchtliche Anzahl von Stimmen, die Auschwitz entweder ins Vergessen oder in den Kommerz abzudrängen suchen. Der Band zeichnet sich zur Freude Hamanns durch eine Stringenz aus, "die zu der herkömmlichen Kraut-und-Rüben-Ordnung von Publikationen dieser Art wohltuend quer steht". Hamann hebt lobend hervor, dass sich zwischen den Artikeln eine anregende, teils sich ergänzende, teils sich widersprechende Kommunikation ergebe, die zeige, dass die Diskussion auf dieser Ebene gerade erst angefangen habe. Insgesamt, so der Rezensent abschließend, trägt der Band mit seinen Überlegungen dazu bei, "den Blick für das von diesen Holocaust-Texten bereitgestellte Verstehen zu schärfen".

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr