Walter Fantl ist vierzehn, als Hitler in Österreich einmarschiert, mit 18 wird er nach Theresienstadt, mit 20 nach Auschwitz deportiert. Gemeinsam mit seinem Vater geht er am 29. September 1944 über die Rampe von Birkenau, ahnungslos, was geschehen wird. Als der 21-Jährige im Juli 1945 nach Wien zurückkommt, ist ihm nichts von seinem Leben geblieben als ein breiter Ledergürtel: das Einzige, was er nach der Selektion behalten durfte. Bis zur Befreiung ist der Gürtel für ihn ein Überlebenssymbol, an das er sich jeden Tag klammert. Und bis heute ein Stück Erinnerung an die dunkelste Zeit seines Lebens: als er seine gesamte Familie verlor.
Heute ist Walter Fantl einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen in Österreich. Basierend auf jahrelangen Gesprächen und zahlreichen Originaldokumenten zeichnet der Historiker und Journalist Gerhard Zeillinger den bewegenden Lebensweg nach, der von der behüteten Kindheit in Bischofstetten in Niederösterreich direkt in den Horror der NS-Zeit undin die Stunde null nach der Befreiung mündet. Zeillingers dokumentarischerzählender Stil macht diese berührende Geschichte achtzig Jahre später noch einmal lebendig und schildert sehr eindringlich das Bild einer Zeit, die uns bis heute beschäftigt.
Heute ist Walter Fantl einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen in Österreich. Basierend auf jahrelangen Gesprächen und zahlreichen Originaldokumenten zeichnet der Historiker und Journalist Gerhard Zeillinger den bewegenden Lebensweg nach, der von der behüteten Kindheit in Bischofstetten in Niederösterreich direkt in den Horror der NS-Zeit undin die Stunde null nach der Befreiung mündet. Zeillingers dokumentarischerzählender Stil macht diese berührende Geschichte achtzig Jahre später noch einmal lebendig und schildert sehr eindringlich das Bild einer Zeit, die uns bis heute beschäftigt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.01.2019Fremd im Haus der Eltern
„Der Gürtel des Walter Fantl“: Der österreichische Historiker und Literaturkritiker Gerhard Zeillinger
erzählt die Geschichte eines Auschwitz-Überlebenden und seiner Rückkehr nach Wien
VON KARL-MARKUS GAUSS
Die Marktgemeinde Bischofstetten liegt im niederösterreichischen Mostviertel und wird in kaum einem Reiseführer erwähnt. Die Gemischtwarenhandlung im Zentrum betrieb bis 1938 die jüdische Familie Fantl, deren Einvernehmen mit den katholischen Bauern der Gegend so gut war, dass das Familienoberhaupt bei der Freiwilligen Feuerwehr als Kassier amtierte und am Sonntagnachmittag mit dem Pfarrer und den Honoratioren im Wirtshaus Tarock spielte. Kaum war die Wehrmacht in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 in Österreich einmarschiert, paradierten die guten Nachbarn von gestern schon in Uniform durch den Ort und erhoben, wie in schamlosen Ansuchen an die Parteistellen nachzulesen ist, als illegale Parteigenossen der ersten Stunde Anspruch auf das „Judengeschäft“, auf Haus und Eigentum der einzigen Juden von Bischofstetten.
Nur langsam scheint der Kaufmann Arthur Fantl begriffen zu haben, dass die Heimat ihm und den Seinen zur Falle wurde, und so sehr er sich dann auch bemühte, irgendwo auf Erden ein Land zu finden, das sie aufnehmen würde, wurden ihm doch alle Pläne zunichte. 1940 musste das Ehepaar mit der 19-jährigen Gertrude und dem 16-jährigen Walter nach Wien übersiedeln, wo die Jüdische Gemeinde verzweifelt trachtete, ihren Mitgliedern noch zu befristeter Sicherheit und bescheidenem Auskommen zu verhelfen.
Was alle Juden in Wien erlebten, das waren die jeden Tag schlimmer werdenden Schikanen, denen sie ausgesetzt wurden. Bald gab es nur mehr ein Krankenhaus, in dem sie behandelt wurden, das Rothschild-Spital, in der Stadt durften sie viele Straßenbahnlinien nicht mehr benutzen, sodass sie stundenlang zu Fuß unterwegs waren, um zu den wenigen Firmen zu gelangen, bei denen sie noch arbeiten konnten; und den Kindern Fantl wurde ihr Hund erschossen, notabene ein Deutscher Schäfer namens Jux, weil Juden keine Haustiere mehr besitzen durften.
In seinem nach langjähriger Recherche verfassten Buch „Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl“ erzählt der österreichische Historiker, Literaturkritiker und Publizist Gerhard Zeillinger vom Untergang dieser einen jüdischen Familie, und er hält sich dabei eng an die Biografie des 1924 geborenen Sohnes, der die Schoah als Einziger überlebte. Von dem, was er erlitten hat, schwieg dieser sich über Jahrzehnte aus, erst das Interesse des nachgeborenen Landsmannes hat ihn im Alter doch noch zum Reden gebracht.
Zeillinger hat zahllose Gespräche mit dem jetzt 94-jährigen Walter Fantl geführt, in Archiven geforscht und ein Buch vorgelegt, das durch zweierlei besticht: durch die Behutsamkeit, mit der es das Wissen um die historischen Ereignisse und die persönliche Kenntnis dieses einen Menschen miteinander verbindet; und durch die sprachliche Disziplin, mit der es schnörkellos und präzise vom Leben und Überleben Walter Fantls erzählt. Das ist umso mehr zu rühmen, als der Autor in seinen Literaturkritiken und politischen Kommentaren sein Talent zur Polemik und eleganten Volte durchaus nicht zu verbergen pflegt. Hier hat er sich stilistisch so weit zurückgenommen, dass er gleichsam hinter dem Dargestellten verschwindet.
Zeillinger zeichnet die Stufen, die zuerst in die Entrechtung, und die Stationen, die schließlich zur Vernichtung der Juden führten, penibel nach. Aus Wien wird Walter in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo noch am Bahnhof der österreichische Lagerkommandant Seidl, „ein gutaussehender, schlanker junger Mann“, einem alten blinden Juden „mit seiner Reitpeitsche übers Gesicht“ schlägt; das hat auf die neu Angekommenen „eine ungeheuerliche Wirkung gehabt, denn einen Blinden zu schlagen ... Da war klar, dass etwas Grauenhaftes auf uns zukommt“.
Als sein Vater zum Transport nach Auschwitz eingeteilt wird, bleibt Walter bei ihm, doch werden die beiden schon an der Rampe getrennt. Der Vater muss nach links gehen, zum unverzüglichen Tod im Gas bestimmt, der Sohn nach rechts, zur Hungerarbeit verdammt. In Auschwitz wird für Walter der Gürtel, den er noch aus Bischofstetten bei sich hat, zum überlebenswichtigen Symbol, ist er doch der einzige Besitz, der ihn noch daran erinnert, dass es ein anderes Leben gegeben hat und wieder geben könnte. Als er 1945 mit 21 Jahren nach Wien zurückkehrt, hat das Lederstück acht zusätzliche Löcher und der junge Mann wiegt gerade noch 38 Kilo.
Kaum zu ertragen sind die Schilderungen jener Monate, die Walter in dem „Krepierlager Gleiwitz“, einem wenig bekannten Nebenlager von Auschwitz, zubringen musste, als Arbeitssklave in der kriegswichtigen Schwerindustrie eingesetzt. Und dann sind die Mannschaften der SS nach einem überraschenden Vorstoß der Roten Armee eines Tages verschwunden, die befreiten Häftlinge schleppen sich wochenlang durch das Frontgebiet, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden und wie sie sich nach Hause durchschlagen sollten. In der Zeitschrift „Die Aula“, herausgegeben vom Akademikerverband der heutigen Regierungspartei FPÖ, sind die entlassenen KZ-Häftlinge 2015 als „Landplage“ und „Massenmörder“ bezeichnet worden, die plündernd durch das Land zogen und die Bevölkerung drangsalierten.
Während seine Jugendfreunde, die das Lager überlebten, in die USA auswanderten, kehrte Walter Fantl nach Österreich zurück. Dort hatte der Präsident der neu erstandenen Republik, der Sozialist Karl Renner, erklärt, dass die Rückkehr der Juden nach Österreich unter allen Umständen verhindert werden solle. Dass er in Wien nicht willkommen war, bekam Fantl oft zu spüren. Er aber wollte bleiben und das arisierte Haus der Eltern zurückhaben. 1948 wurde es ihm zugesprochen, doch hat er selbst es nie mehr betreten.
In seinen Gesprächen mit Zeillinger, die in kursiver Schrift in den nüchternen Bericht des Autors gesetzt sind, erinnert Walter Fantl auch an jene, die mit kleinen Handlungen und Gesten Menschlichkeit zeigten: an einen Polizisten, der sie ermahnte, alles zu tun, um nur ja nicht nach Polen verschickt zu werden, weil dort auf die Juden der Tod warte; an einen schlesischen Arbeiter in Gleiwitz, der dem ausgehungerten jungen Mann Brot zusteckte; und erst recht an das katholische Dienstmädchen aus besseren Zeiten, eine junge Frau, die den Heimkehrer suchte, um ihm jenen Koffer mit Dokumenten, Briefen, Fotografien der Familie zu übergeben, den ihr einst der Vater vor der Deportation anvertraut und den sie durch die Wirren des Krieges gerettet hatte. Ihr Name war Josefa Thür, und er soll hier genannt werden.
Gerhard Zeillinger: Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2018. 239 Seiten, 22 Euro.
Die Zeitschrift „Aula“
bezeichnete 2015 die entlassenen
KZ-Häftlinge als „Landplage“
Dem Lager entkommen, im Wien der Nachkriegszeit nicht willkommen: Walter Fantl während eines Interviews im Jahre 2015.
Foto: picture alliance / GEORG HOCHMUT
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Der Gürtel des Walter Fantl“: Der österreichische Historiker und Literaturkritiker Gerhard Zeillinger
erzählt die Geschichte eines Auschwitz-Überlebenden und seiner Rückkehr nach Wien
VON KARL-MARKUS GAUSS
Die Marktgemeinde Bischofstetten liegt im niederösterreichischen Mostviertel und wird in kaum einem Reiseführer erwähnt. Die Gemischtwarenhandlung im Zentrum betrieb bis 1938 die jüdische Familie Fantl, deren Einvernehmen mit den katholischen Bauern der Gegend so gut war, dass das Familienoberhaupt bei der Freiwilligen Feuerwehr als Kassier amtierte und am Sonntagnachmittag mit dem Pfarrer und den Honoratioren im Wirtshaus Tarock spielte. Kaum war die Wehrmacht in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 in Österreich einmarschiert, paradierten die guten Nachbarn von gestern schon in Uniform durch den Ort und erhoben, wie in schamlosen Ansuchen an die Parteistellen nachzulesen ist, als illegale Parteigenossen der ersten Stunde Anspruch auf das „Judengeschäft“, auf Haus und Eigentum der einzigen Juden von Bischofstetten.
Nur langsam scheint der Kaufmann Arthur Fantl begriffen zu haben, dass die Heimat ihm und den Seinen zur Falle wurde, und so sehr er sich dann auch bemühte, irgendwo auf Erden ein Land zu finden, das sie aufnehmen würde, wurden ihm doch alle Pläne zunichte. 1940 musste das Ehepaar mit der 19-jährigen Gertrude und dem 16-jährigen Walter nach Wien übersiedeln, wo die Jüdische Gemeinde verzweifelt trachtete, ihren Mitgliedern noch zu befristeter Sicherheit und bescheidenem Auskommen zu verhelfen.
Was alle Juden in Wien erlebten, das waren die jeden Tag schlimmer werdenden Schikanen, denen sie ausgesetzt wurden. Bald gab es nur mehr ein Krankenhaus, in dem sie behandelt wurden, das Rothschild-Spital, in der Stadt durften sie viele Straßenbahnlinien nicht mehr benutzen, sodass sie stundenlang zu Fuß unterwegs waren, um zu den wenigen Firmen zu gelangen, bei denen sie noch arbeiten konnten; und den Kindern Fantl wurde ihr Hund erschossen, notabene ein Deutscher Schäfer namens Jux, weil Juden keine Haustiere mehr besitzen durften.
In seinem nach langjähriger Recherche verfassten Buch „Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl“ erzählt der österreichische Historiker, Literaturkritiker und Publizist Gerhard Zeillinger vom Untergang dieser einen jüdischen Familie, und er hält sich dabei eng an die Biografie des 1924 geborenen Sohnes, der die Schoah als Einziger überlebte. Von dem, was er erlitten hat, schwieg dieser sich über Jahrzehnte aus, erst das Interesse des nachgeborenen Landsmannes hat ihn im Alter doch noch zum Reden gebracht.
Zeillinger hat zahllose Gespräche mit dem jetzt 94-jährigen Walter Fantl geführt, in Archiven geforscht und ein Buch vorgelegt, das durch zweierlei besticht: durch die Behutsamkeit, mit der es das Wissen um die historischen Ereignisse und die persönliche Kenntnis dieses einen Menschen miteinander verbindet; und durch die sprachliche Disziplin, mit der es schnörkellos und präzise vom Leben und Überleben Walter Fantls erzählt. Das ist umso mehr zu rühmen, als der Autor in seinen Literaturkritiken und politischen Kommentaren sein Talent zur Polemik und eleganten Volte durchaus nicht zu verbergen pflegt. Hier hat er sich stilistisch so weit zurückgenommen, dass er gleichsam hinter dem Dargestellten verschwindet.
Zeillinger zeichnet die Stufen, die zuerst in die Entrechtung, und die Stationen, die schließlich zur Vernichtung der Juden führten, penibel nach. Aus Wien wird Walter in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo noch am Bahnhof der österreichische Lagerkommandant Seidl, „ein gutaussehender, schlanker junger Mann“, einem alten blinden Juden „mit seiner Reitpeitsche übers Gesicht“ schlägt; das hat auf die neu Angekommenen „eine ungeheuerliche Wirkung gehabt, denn einen Blinden zu schlagen ... Da war klar, dass etwas Grauenhaftes auf uns zukommt“.
Als sein Vater zum Transport nach Auschwitz eingeteilt wird, bleibt Walter bei ihm, doch werden die beiden schon an der Rampe getrennt. Der Vater muss nach links gehen, zum unverzüglichen Tod im Gas bestimmt, der Sohn nach rechts, zur Hungerarbeit verdammt. In Auschwitz wird für Walter der Gürtel, den er noch aus Bischofstetten bei sich hat, zum überlebenswichtigen Symbol, ist er doch der einzige Besitz, der ihn noch daran erinnert, dass es ein anderes Leben gegeben hat und wieder geben könnte. Als er 1945 mit 21 Jahren nach Wien zurückkehrt, hat das Lederstück acht zusätzliche Löcher und der junge Mann wiegt gerade noch 38 Kilo.
Kaum zu ertragen sind die Schilderungen jener Monate, die Walter in dem „Krepierlager Gleiwitz“, einem wenig bekannten Nebenlager von Auschwitz, zubringen musste, als Arbeitssklave in der kriegswichtigen Schwerindustrie eingesetzt. Und dann sind die Mannschaften der SS nach einem überraschenden Vorstoß der Roten Armee eines Tages verschwunden, die befreiten Häftlinge schleppen sich wochenlang durch das Frontgebiet, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden und wie sie sich nach Hause durchschlagen sollten. In der Zeitschrift „Die Aula“, herausgegeben vom Akademikerverband der heutigen Regierungspartei FPÖ, sind die entlassenen KZ-Häftlinge 2015 als „Landplage“ und „Massenmörder“ bezeichnet worden, die plündernd durch das Land zogen und die Bevölkerung drangsalierten.
Während seine Jugendfreunde, die das Lager überlebten, in die USA auswanderten, kehrte Walter Fantl nach Österreich zurück. Dort hatte der Präsident der neu erstandenen Republik, der Sozialist Karl Renner, erklärt, dass die Rückkehr der Juden nach Österreich unter allen Umständen verhindert werden solle. Dass er in Wien nicht willkommen war, bekam Fantl oft zu spüren. Er aber wollte bleiben und das arisierte Haus der Eltern zurückhaben. 1948 wurde es ihm zugesprochen, doch hat er selbst es nie mehr betreten.
In seinen Gesprächen mit Zeillinger, die in kursiver Schrift in den nüchternen Bericht des Autors gesetzt sind, erinnert Walter Fantl auch an jene, die mit kleinen Handlungen und Gesten Menschlichkeit zeigten: an einen Polizisten, der sie ermahnte, alles zu tun, um nur ja nicht nach Polen verschickt zu werden, weil dort auf die Juden der Tod warte; an einen schlesischen Arbeiter in Gleiwitz, der dem ausgehungerten jungen Mann Brot zusteckte; und erst recht an das katholische Dienstmädchen aus besseren Zeiten, eine junge Frau, die den Heimkehrer suchte, um ihm jenen Koffer mit Dokumenten, Briefen, Fotografien der Familie zu übergeben, den ihr einst der Vater vor der Deportation anvertraut und den sie durch die Wirren des Krieges gerettet hatte. Ihr Name war Josefa Thür, und er soll hier genannt werden.
Gerhard Zeillinger: Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2018. 239 Seiten, 22 Euro.
Die Zeitschrift „Aula“
bezeichnete 2015 die entlassenen
KZ-Häftlinge als „Landplage“
Dem Lager entkommen, im Wien der Nachkriegszeit nicht willkommen: Walter Fantl während eines Interviews im Jahre 2015.
Foto: picture alliance / GEORG HOCHMUT
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de