Oskar Negt hat Glück gehabt. Sein Leben könnte als Erfolgsgeschichte erzählt werden: Als jüngstes von sieben Kindern auf einem Kleinbauernhof ohne Bildungsgüter im ostpreußischen Kapkeim aufgewachsen, wurde er zum Repräsentanten der Frankfurter Schule, zum anerkannten, in der ganzen Welt geehrten Philosophen und Soziologieprofessor. Doch Negts Kindheit und Jugend war von schmerzhaften Erfahrungen und Erlebnissen geprägt, von der Flucht mit zwei halbwüchsigen Schwestern in die "Totenstadt" Königsberg und über die Ostsee nach Dänemark, wo er jahrelang in Internierungslagern lebte bis die Familie nahe Ostberlin wieder zusammengeführt wurde. Und dann erneut flüchtete, diesmal Richtung Westen. Erst 1955, zehn Jahre nach dem Aufbruch aus Ostpreußen, fühlt er sich angekommen.
Negt nimmt seine individuelle Geschichte zum Anlass, grundsätzliche Fragen zu stellen: über das autobiographische Schreiben, über gesellschaftliche Orientierung und persönliche Identität. Er will ergründen, was nötig ist, damit ungünstige Ausgangsbedingungen und traumatische Erfahrungen keinen lebenslangen Opferstatus fixieren. Seine autobiographische Spurensuche weist weit über das eigene Schicksal hinaus.
Negt nimmt seine individuelle Geschichte zum Anlass, grundsätzliche Fragen zu stellen: über das autobiographische Schreiben, über gesellschaftliche Orientierung und persönliche Identität. Er will ergründen, was nötig ist, damit ungünstige Ausgangsbedingungen und traumatische Erfahrungen keinen lebenslangen Opferstatus fixieren. Seine autobiographische Spurensuche weist weit über das eigene Schicksal hinaus.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.12.2016LITERATUR
Die Davongekommenen
Der Soziologe Oskar Negt erzählt von zehn Jahren Flüchtlingsdasein und fragt,
wie es dennoch gelingen konnte, nicht lebenslang Opfer zu sein – „Überlebensglück“
VON JENS BISKY
Königsberg lag nur noch wenige Kilometer entfernt, als eine Lokomotive in den Zug voller Flüchtlinge raste, Wagen entgleisten, viele starben, die Gleise sich bogen. Der zehnjährige Oskar Negt und zwei seiner älteren Schwestern, Ursel und Margot, sechzehn und siebzehn Jahre alt, wurden aus dem Waggon hinaus in den meterhohen Schnee geschleudert.
Januar 1945. Wie es weitergehen sollte, wusste niemand zu sagen. Die Eltern waren mit vier Kindern auf einem überdachten Wagen gen Westen gezogen, in Berlin, so der Plan der Mutter, sollte die Familie sich wieder vereinen. Mit vier Tagen Verspätung kamen Ursel, Margot und Oskar Negt dann doch in Königsberg an, traten hoffnungsfroh auf einen Bahnbeamten zu: „Auf welchem Gleis fährt der nächste Zug nach Berlin? – Berlin? Es fährt kein Zug mehr nach Berlin.“ Die Drei, die nur einen Koffer aus dem Zugunglück gerettet hatten, machten sich zu Fuß auf den Weg, müde, hungrig, frierend, bis einer sie mitnahm auf seinem Schlitten, voll bepackt mit Leichen.
Die Kindheit war zu Ende, die Geschwister bildeten fortan eine „Rettungsgemeinschaft“. Sie würden aus der zur Festung erklärten, von der Roten Armee eingeschlossenen „Totenstadt“ Königsberg auf einem Schiff nach Dänemark entkommen, dort fast drei Jahre in einem Flüchtlingslager leben, bis die Familie in der Nähe von Ostberlin wieder zusammenkam und 1951 bei Nacht und Nebel die DDR verließ. Erst 1955, als er in Oldenburg das Abiturzeugnis in der Hand hielt, fühlte Oskar Negt wieder festen Boden unter den Füßen. Damit habe, schreibt der 82-jährige, nach zehn Jahren sein Flüchtlingsdasein geendet.
Oskar Negt ist ein kluger, gewinnender Erzähler auch dadurch, dass er die Erwartungen an Kindheitserzählungen mit Bedacht enttäuscht. Er meidet die breiten Straßen des autobiografischen Erzählens. Es gäbe Gründe, eine Erfolgsgeschichte vom unwahrscheinlichen Aufstieg nach unvorstellbar schwierigen Anfängen auszubreiten. Schließlich wurde der Bauernsohn aus Ostpreußen nach dem Studium bei Max Horkheimer und der Promotion bei Theodor W. Adorno zu einem Stichwortgeber der Außerparlamentarischen Opposition. Als Soziologieprofessor in Hannover hat er gezeigt, wie Sozialwissenschaftler in der Praxis, in Gewerkschaften beispielsweise, wirken können. Seine gemeinsam mit Alexander Kluge verfassten Bücher „Öffentlichkeit und Erfahrung“, „Geschichte und Eigensinn“ gehörten bis vor kurzem zur Grundausstattung intellektuell interessierter Bundesrepublikaner.
Doch „Überlebensglück“ ist keine Triumphgeschichte eines Arrivierten, auch keine Aufrechnung von Leid im Gestus der Anklage. Oskar Negt hat eine Frage, die seine Spurensuche vorantreibt und bewundernswert unaufdringlich Aktuelles und Erinnertes verbindet. Er will wissen, was im Spiel, was in Rechnung zu stellen ist, „wenn aus schmerzhaften Erfahrungen und schrecklichen Erlebnissen, die im Gedächtnis haften bleiben, nicht zwangsläufig Beschädigungen der Person erfolgen, die dazu beitragen, den Opferstatus lebenslang zu fixieren.“ Wie konnte es ihm als einem aus der „Generation der Davongekommenen“ glücken, eine zuversichtliche Einstellung zur Welt und zum Leben zu erlangen, sich als autonomes Subjekt zu empfinden? Und, etwas abstrakter gefasst, was heißt: sich im Leben orientieren?
Der Antwort nähert sich „Überlebensglück“ in einer Fülle von Anekdoten, Alltagsbeobachtungen, in berührenden Gesprächen mit den Schwestern Ruth, Margot und Ursel. Immer wieder greift Negt auf Überlegungen des 1994 verstorbenen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück, der die Gesundheit von Holocaustüberlebenden untersucht hatte und nach Gründen suchte, warum einige von ihnen trotz des unvergleichlichen Leids und schwerster Traumatisierungen „nahezu vollständig genesen konnten“. Wesentliche Gesundheitsressource sei, so Antonovsky, ein Kohärenzgefühl, das sich der Erfahrung guter Beziehungen verdanke. Zum Kohärenzgefühl gehört, das Verstehen der eigenen Lage, die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können und der Glaube, dass dieses einen Sinn habe. Dem folgend vergegenwärtigt Oskar Negt Kindheitsmuster nicht als Schicksalsbahnen, sondern als Gegebenes, das es zu bearbeiten gilt.
Auch der Zufall behält sein Recht. Der Vater war zwar spät aus pragmatischen Gründen der NSDAP beigetreten, im Grunde aber immer ein ostpreußischer Sozialdemokrat geblieben. Oskar Negt, das jüngste der sieben Kinder, wuchs umsorgt, behütet auf. Im Internierungslager in Dänemark blieben ihm grausame Erfahrungen weitgehend erspart. In der SBZ/DDR konnte der Bildungsgierige von einem Schulkameraden gegen Lebensmittel nach und nach die mehr als vierzig Bände einer Goethe-Ausgabe ausleihen, deren Kenntnis ihn, der mit dem Schulsystem fremdelte, schließlich durch das Abitur trug.
Negt bleibt als autobiografischer Erzähler der neugierige Sozialwissenschaftler, der mit Hegel und Adorno gegen die Vergötzung der Unmittelbarkeit wie der Ursprünge argumentiert, mit Kant den Phänomenen zu Leibe rückt, um sich vor ihnen nicht fürchten zu müssen. Heranwachsen und intellektuelle Biografie sind nicht geschieden, gerade deshalb versteht man beides besser. Theorie, philosophische Fragen haben in „Überlebensglück“ einen konkreten Ort, sollen konkrete Situationen erhellen.
Warum Negt sein Denken nicht von der Drittmittelantragslogik leiten lässt, sondern seine Fragen aus der Praxis, dem Lebensvollzug gewinnt, kann man in diesem Buch erfahren. Es gipfelt in einem besorgten Plädoyer gegen die „Entwertung des Lebens“, gegen ein gesellschaftliches Klima ohne Mitleid für Schwache, Verfolgte, Ohnmächtige, gegen ein Denken, das mit der Wirklichkeit nur mitläuft, statt sie zu überschreiten. Während so viele Zeitgenossen sich in ihrer Identität häuslich einrichten, diese gern auch zur Festung erklären und dem Leben vorrechnen, was es ihnen schuldig blieb, demonstrieren diese Erinnerungen eines 82-Jährigen einen erfrischenden Geist des Aufbruchs ins Angstfreie.
Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiographische Spurensuche. Steidl Verlag, Göttingen 2016. 320 Seiten, 24 Euro.
Die Grundfrage dieser
Lebenserinnerungen: Was heißt
sich im Leben orientieren?
Die von einem Schulkameraden
geliehenen Goethe-Bände
halfen ihm durch das Abitur
Berlin, Willy-Brandt-Haus, 21. März 2011: Oskar Negt nach der Verleihung des August-Bebel-Preises.
Foto: Regina Schmeken
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Die Davongekommenen
Der Soziologe Oskar Negt erzählt von zehn Jahren Flüchtlingsdasein und fragt,
wie es dennoch gelingen konnte, nicht lebenslang Opfer zu sein – „Überlebensglück“
VON JENS BISKY
Königsberg lag nur noch wenige Kilometer entfernt, als eine Lokomotive in den Zug voller Flüchtlinge raste, Wagen entgleisten, viele starben, die Gleise sich bogen. Der zehnjährige Oskar Negt und zwei seiner älteren Schwestern, Ursel und Margot, sechzehn und siebzehn Jahre alt, wurden aus dem Waggon hinaus in den meterhohen Schnee geschleudert.
Januar 1945. Wie es weitergehen sollte, wusste niemand zu sagen. Die Eltern waren mit vier Kindern auf einem überdachten Wagen gen Westen gezogen, in Berlin, so der Plan der Mutter, sollte die Familie sich wieder vereinen. Mit vier Tagen Verspätung kamen Ursel, Margot und Oskar Negt dann doch in Königsberg an, traten hoffnungsfroh auf einen Bahnbeamten zu: „Auf welchem Gleis fährt der nächste Zug nach Berlin? – Berlin? Es fährt kein Zug mehr nach Berlin.“ Die Drei, die nur einen Koffer aus dem Zugunglück gerettet hatten, machten sich zu Fuß auf den Weg, müde, hungrig, frierend, bis einer sie mitnahm auf seinem Schlitten, voll bepackt mit Leichen.
Die Kindheit war zu Ende, die Geschwister bildeten fortan eine „Rettungsgemeinschaft“. Sie würden aus der zur Festung erklärten, von der Roten Armee eingeschlossenen „Totenstadt“ Königsberg auf einem Schiff nach Dänemark entkommen, dort fast drei Jahre in einem Flüchtlingslager leben, bis die Familie in der Nähe von Ostberlin wieder zusammenkam und 1951 bei Nacht und Nebel die DDR verließ. Erst 1955, als er in Oldenburg das Abiturzeugnis in der Hand hielt, fühlte Oskar Negt wieder festen Boden unter den Füßen. Damit habe, schreibt der 82-jährige, nach zehn Jahren sein Flüchtlingsdasein geendet.
Oskar Negt ist ein kluger, gewinnender Erzähler auch dadurch, dass er die Erwartungen an Kindheitserzählungen mit Bedacht enttäuscht. Er meidet die breiten Straßen des autobiografischen Erzählens. Es gäbe Gründe, eine Erfolgsgeschichte vom unwahrscheinlichen Aufstieg nach unvorstellbar schwierigen Anfängen auszubreiten. Schließlich wurde der Bauernsohn aus Ostpreußen nach dem Studium bei Max Horkheimer und der Promotion bei Theodor W. Adorno zu einem Stichwortgeber der Außerparlamentarischen Opposition. Als Soziologieprofessor in Hannover hat er gezeigt, wie Sozialwissenschaftler in der Praxis, in Gewerkschaften beispielsweise, wirken können. Seine gemeinsam mit Alexander Kluge verfassten Bücher „Öffentlichkeit und Erfahrung“, „Geschichte und Eigensinn“ gehörten bis vor kurzem zur Grundausstattung intellektuell interessierter Bundesrepublikaner.
Doch „Überlebensglück“ ist keine Triumphgeschichte eines Arrivierten, auch keine Aufrechnung von Leid im Gestus der Anklage. Oskar Negt hat eine Frage, die seine Spurensuche vorantreibt und bewundernswert unaufdringlich Aktuelles und Erinnertes verbindet. Er will wissen, was im Spiel, was in Rechnung zu stellen ist, „wenn aus schmerzhaften Erfahrungen und schrecklichen Erlebnissen, die im Gedächtnis haften bleiben, nicht zwangsläufig Beschädigungen der Person erfolgen, die dazu beitragen, den Opferstatus lebenslang zu fixieren.“ Wie konnte es ihm als einem aus der „Generation der Davongekommenen“ glücken, eine zuversichtliche Einstellung zur Welt und zum Leben zu erlangen, sich als autonomes Subjekt zu empfinden? Und, etwas abstrakter gefasst, was heißt: sich im Leben orientieren?
Der Antwort nähert sich „Überlebensglück“ in einer Fülle von Anekdoten, Alltagsbeobachtungen, in berührenden Gesprächen mit den Schwestern Ruth, Margot und Ursel. Immer wieder greift Negt auf Überlegungen des 1994 verstorbenen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück, der die Gesundheit von Holocaustüberlebenden untersucht hatte und nach Gründen suchte, warum einige von ihnen trotz des unvergleichlichen Leids und schwerster Traumatisierungen „nahezu vollständig genesen konnten“. Wesentliche Gesundheitsressource sei, so Antonovsky, ein Kohärenzgefühl, das sich der Erfahrung guter Beziehungen verdanke. Zum Kohärenzgefühl gehört, das Verstehen der eigenen Lage, die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können und der Glaube, dass dieses einen Sinn habe. Dem folgend vergegenwärtigt Oskar Negt Kindheitsmuster nicht als Schicksalsbahnen, sondern als Gegebenes, das es zu bearbeiten gilt.
Auch der Zufall behält sein Recht. Der Vater war zwar spät aus pragmatischen Gründen der NSDAP beigetreten, im Grunde aber immer ein ostpreußischer Sozialdemokrat geblieben. Oskar Negt, das jüngste der sieben Kinder, wuchs umsorgt, behütet auf. Im Internierungslager in Dänemark blieben ihm grausame Erfahrungen weitgehend erspart. In der SBZ/DDR konnte der Bildungsgierige von einem Schulkameraden gegen Lebensmittel nach und nach die mehr als vierzig Bände einer Goethe-Ausgabe ausleihen, deren Kenntnis ihn, der mit dem Schulsystem fremdelte, schließlich durch das Abitur trug.
Negt bleibt als autobiografischer Erzähler der neugierige Sozialwissenschaftler, der mit Hegel und Adorno gegen die Vergötzung der Unmittelbarkeit wie der Ursprünge argumentiert, mit Kant den Phänomenen zu Leibe rückt, um sich vor ihnen nicht fürchten zu müssen. Heranwachsen und intellektuelle Biografie sind nicht geschieden, gerade deshalb versteht man beides besser. Theorie, philosophische Fragen haben in „Überlebensglück“ einen konkreten Ort, sollen konkrete Situationen erhellen.
Warum Negt sein Denken nicht von der Drittmittelantragslogik leiten lässt, sondern seine Fragen aus der Praxis, dem Lebensvollzug gewinnt, kann man in diesem Buch erfahren. Es gipfelt in einem besorgten Plädoyer gegen die „Entwertung des Lebens“, gegen ein gesellschaftliches Klima ohne Mitleid für Schwache, Verfolgte, Ohnmächtige, gegen ein Denken, das mit der Wirklichkeit nur mitläuft, statt sie zu überschreiten. Während so viele Zeitgenossen sich in ihrer Identität häuslich einrichten, diese gern auch zur Festung erklären und dem Leben vorrechnen, was es ihnen schuldig blieb, demonstrieren diese Erinnerungen eines 82-Jährigen einen erfrischenden Geist des Aufbruchs ins Angstfreie.
Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiographische Spurensuche. Steidl Verlag, Göttingen 2016. 320 Seiten, 24 Euro.
Die Grundfrage dieser
Lebenserinnerungen: Was heißt
sich im Leben orientieren?
Die von einem Schulkameraden
geliehenen Goethe-Bände
halfen ihm durch das Abitur
Berlin, Willy-Brandt-Haus, 21. März 2011: Oskar Negt nach der Verleihung des August-Bebel-Preises.
Foto: Regina Schmeken
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