Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar: Ulitzkajas Familiensaga
Ein Verfahren, das in der russischen Gegenwartsliteratur derzeit oft angewendet wird, ist die Affirmation. Historische Entwicklungen oder literarische Traditionen werden verfremdet, indem man sie bestätigt. In Pelewins "Generation P" sind es der Jargon der Werbung und die Sprache der sowjetischen Propaganda, die konsequent bis zur Selbstparodie beschworen werden. Sorokin ahmt in "Der himmelblaue Speck" die russischen Klassiker so vortrefflich nach, daß am Ende des Romans auch der gesamte literarische Kanon in Frage gestellt ist.
Auch bei der 1943 geborenen Ljudmila Ulitzkaja spielt das Prinzip Affirmation eine Rolle, wenn sie auch auf traditionellere und dezentere Art und Weise damit umgeht als ihre männlichen Schriftstellerkollegen. Denn nicht um zu parodieren knüpft Ulitzkaja an die Form der alten russischen Romanepen an, sondern um jene Monumentalität zu erzielen, in der das moderne Individuum in all seinen gesellschaftlichen Verstrickungen erst deutlich sichtbar wird. Mit ihren Büchern ist es, als blicke man durch ein Mikroskop auf eine Zellkultur. Zwar potenziert sich mit jeder Bewegung der Linse die Zahl der Details, die man wahrnimmt, dafür ist jeder noch so kleine Ausschnitt gestochen scharf.
Und wie erst Unmengen an menschlichem Erbmaterial entschlüsselt werden müssen, um darin ein kleines Gen zu entdecken, so muß man auch in den Büchern von Ulitzkaja die Lebensläufe und Konflikte zahlreicher Generationen verfolgen, um die Tragik eines einzelnen Menschen begreifen zu können.
"Reise in den siebenten Himmel" erzählt von der Großfamilie des angesehenen Frauenarztes und Wissenschaftlers Pawel Kukotzki. Bis zum Urenkelkind werden fast alle Familienmitglieder vom ersten Moment ihres Lebens an beschrieben: Pawels Frau Jelena, eine technische Zeichnerin, die allmählich das Gedächtnis verliert, Pawels Haushälterin Wassilissa, die nach einer Operation an den Augen ihre Sehkraft wiedererhält, Pawels Adoptivtöchter Tanja und Toma, die eine unfähig, mit ihrer Begabung umzugehen, die andere zu bodenständig für ihren Wissensdurst. Mit der Geburt von Pawels Urenkelkind ist schließlich nicht nur die Familiensaga, sondern auch der Kommunismus zu Ende.
Virtuos verknüpft Ulitzkaja die politischen Entwicklungen mit der Anatomie des weiblichen Körpers. Im Stalinismus macht sich Pawel für die Legalisierung der Abtreibung stark, später setzt er sich mit dem menschlichen Genom und der Vererbungslehre auseinander. Jelenas Verfall ist genauso unaufhaltsam wie der Niedergang der Sowjetunion, und aufgrund der mangelhaften sanitären Verhältnisse stirbt Tanja an einer Fehlgeburt.
Auch wenn Ulitzkaja - die Autorin ist selbst Genetikerin von Beruf - ihre Figuren bisweilen benutzt, um medizinisch-ethische Debatten auszutragen, bleibt das Hauptaugenmerk dennoch stets auf die privaten Wirrnisse der Protagonisten gerichtet. In dieser Familiensaga bedingt mit tragischer Konsequenz jedes Leben den Verlauf eines anderen. Pawels ungestümer Wissensdurst ist schuld am Scheitern der Ehe und an Jelenas Dahinvegetieren, Jelenas Sterben antizipiert das ihrer Tochter. Am Ende scheint alles so klar und entschlüsselt, aber auch so unabänderlich zu sein wie ein genetischer Code.
VERENA MAYER
Heute abend, 20.15 Uhr, Buchhandlung Kiepert, Hardenbergstraße 4-5, Charlottenburg.
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