Das mit der Normalität ist so eine Sache. Die meisten Dinge kann man nämlich von mehreren Seiten betrachten. Den Film "Herz ist Trumpf" zum Beispiel: Für den einen ist er der pure Kitsch, für den 19jährigen Ich-Erzähler dieses Buches bedeuten die Filmheldin Linda und ihre Geschichte mehr als alles andere. Eines Tages erfährt er, dass Linda von Ulla Vilstrup gespielt wurde und dass Ulla in seiner Stadt wohnt. Mit seinem Freund zusammen macht er sich auf die Suche nach ihr. Ein Jugendroman mit einer ungewöhnlichen Weltsicht, der an das Buch "Einer flog über das Kuckucksnest" erinnert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2000Traumfrau
Das Glück eines Gestrandeten
Das ist schon eine merkwürdige Welt. Es gibt Augenblicke, da möchte man alle gescheiten Bücher in die Ecke werfen und nur noch eines lesen. Es gibt Tage, da möchte man seine Helden durch Dick und Dünn begleiten bis zum bittersüßen Ende, durch ein Leben mit Bösewichten, mit ein paar guten Menschen. Mit Leuten, die Honig auf der Zunge haben und Stroh im Kopf,
Jetzt, zum Beispiel, ist so ein Augenblick. Da möchte ich den Stapel Bücher hinter mir wegzaubern, bis auf eines. Nein, nicht Robinson Crusoe – das einzige Buch, das Rousseau seinem fiktiven Zögling Emile zugestand, um ihn den rechten Begriff von Lebensnähe zu lehren. Obwohl – wenn man einen gewagten Bogen von Robinson zum 19-jährigen Ich-Erzähler in Kim Fupz Aakesons Geschichte Ulla und alles schlägt, dann haben beide etwas gemeinsam: Sie sind gestrandet. Der eine auf einer öden Insel, der andere in einer psychiatrischen Abteilung. Jeder ist auf seine Weise gescheitert. Der eine an gutbürgerlichen Erwartungen, der andere, weil ihm seine versoffene Mutter beizeiten zu verstehen gab, er sei eine Missgeburt, die am besten gar nicht zur Welt gekommen wäre. Deshalb schlug er mit der Bratpfanne auf Mutters Kopf, deshalb geschah die Einweisung in die geschlossene Anstalt, deshalb der Kampf ums Überleben. Öde Insel. Wenn da nicht Freund Willy wäre – Typ Häuptling Bromden aus dem Film Kuckucksnest – und wenn da nicht die junge Linda wäre, Hauptfigur im Kitschfilm Herz ist Trumpf. Linda, die alle Brücken in Jütland hinter sich abbrach, nach Kopenhagen zog, dort aber die Hölle durchleben musste, bevor sich ein Sonnenstrahl am Horizont zeigte. Gestrandete Heldin - Vorbild und Trost für den namenlosen Erzähler. Unser Held – Typ dänischer Forrest Gump – hat den Film als Sonderangebot im Videokorb einer Tankstelle entdeckt, vor fünf Jahren. Zuhause guckte er ihn täglich mindestens ein Dutzend mal an. Jetzt darf er das nur einmal pro Tag. Aber immerhin: Ohne Lindas aus Schmerz geborenen Erkenntnisse hätte er die unendliche Tragik seines jungen Lebens nicht verkraftet. Deshalb kommt für ihn der Augenblick einem Pfingstwunder gleich, in dem ihm bewusst wird: Linda gibt’s ja wirklich. Die Schauspielerin Ulla Vilstrup! – Keine Frage: Er muss aus der Anstalt. Er muss zu Ulla. – Zu erfahren, wie das geschieht und ob er Ulla findet, gehört zu den Leseereignissen, weswegen man alle anderen Bücher zeitweise verschwinden lassen möchte. Am Schluss will man den Helden nur noch umarmen und mit ihm die praktische Erkenntnis teilen, dass man frieren muss, um zu überleben. Dass man Würstchen ohne Ketchup essen muss, kalte noch dazu, dass man manchmal sogar nicht umhin kommt Stühle zu werfen oder Bratpfannen. Und außerdem braucht man Freunde wie Willy und Linda. Eine Lektion Lebensnähe zur Jahrtausendwende. Vergesst Robinson! Wie Aakeson die Geschichte des jungen Mannes erzählt, wie er ihn durch sein mieses Leben schleppt und dabei Lindas Filmgeschichte ins Geschehen montiert – das ist einfach große Klasse. Aakeson ist präziser Chronist der Banalitäten des Alltags. Er nutzt die naive Weltsicht des Antihelden, er nutzt die Potenzen des Kitsches, um den Wahnsinn der Normalität mit lakonischem Witz und Situationskomik zu entlarven. Kein Wort zu viel, keins zu wenig.
Und das wichtigste: Aakeson liebt seine gebrochenen Helden und lässt sie lieben. Auf eine Weise, die einen zu Tränen rührt. – Ein außergewöhnlich gutes Buch, nicht nur in der Landschaft der Jugendliteratur. (ab 13 und Erwachsene)
SIGGI SEUSS
KIM FUPZ AAKESON: Ulla und alles. Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt. Aare Verlag 2000. 144 Seiten, 24,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Das Glück eines Gestrandeten
Das ist schon eine merkwürdige Welt. Es gibt Augenblicke, da möchte man alle gescheiten Bücher in die Ecke werfen und nur noch eines lesen. Es gibt Tage, da möchte man seine Helden durch Dick und Dünn begleiten bis zum bittersüßen Ende, durch ein Leben mit Bösewichten, mit ein paar guten Menschen. Mit Leuten, die Honig auf der Zunge haben und Stroh im Kopf,
Jetzt, zum Beispiel, ist so ein Augenblick. Da möchte ich den Stapel Bücher hinter mir wegzaubern, bis auf eines. Nein, nicht Robinson Crusoe – das einzige Buch, das Rousseau seinem fiktiven Zögling Emile zugestand, um ihn den rechten Begriff von Lebensnähe zu lehren. Obwohl – wenn man einen gewagten Bogen von Robinson zum 19-jährigen Ich-Erzähler in Kim Fupz Aakesons Geschichte Ulla und alles schlägt, dann haben beide etwas gemeinsam: Sie sind gestrandet. Der eine auf einer öden Insel, der andere in einer psychiatrischen Abteilung. Jeder ist auf seine Weise gescheitert. Der eine an gutbürgerlichen Erwartungen, der andere, weil ihm seine versoffene Mutter beizeiten zu verstehen gab, er sei eine Missgeburt, die am besten gar nicht zur Welt gekommen wäre. Deshalb schlug er mit der Bratpfanne auf Mutters Kopf, deshalb geschah die Einweisung in die geschlossene Anstalt, deshalb der Kampf ums Überleben. Öde Insel. Wenn da nicht Freund Willy wäre – Typ Häuptling Bromden aus dem Film Kuckucksnest – und wenn da nicht die junge Linda wäre, Hauptfigur im Kitschfilm Herz ist Trumpf. Linda, die alle Brücken in Jütland hinter sich abbrach, nach Kopenhagen zog, dort aber die Hölle durchleben musste, bevor sich ein Sonnenstrahl am Horizont zeigte. Gestrandete Heldin - Vorbild und Trost für den namenlosen Erzähler. Unser Held – Typ dänischer Forrest Gump – hat den Film als Sonderangebot im Videokorb einer Tankstelle entdeckt, vor fünf Jahren. Zuhause guckte er ihn täglich mindestens ein Dutzend mal an. Jetzt darf er das nur einmal pro Tag. Aber immerhin: Ohne Lindas aus Schmerz geborenen Erkenntnisse hätte er die unendliche Tragik seines jungen Lebens nicht verkraftet. Deshalb kommt für ihn der Augenblick einem Pfingstwunder gleich, in dem ihm bewusst wird: Linda gibt’s ja wirklich. Die Schauspielerin Ulla Vilstrup! – Keine Frage: Er muss aus der Anstalt. Er muss zu Ulla. – Zu erfahren, wie das geschieht und ob er Ulla findet, gehört zu den Leseereignissen, weswegen man alle anderen Bücher zeitweise verschwinden lassen möchte. Am Schluss will man den Helden nur noch umarmen und mit ihm die praktische Erkenntnis teilen, dass man frieren muss, um zu überleben. Dass man Würstchen ohne Ketchup essen muss, kalte noch dazu, dass man manchmal sogar nicht umhin kommt Stühle zu werfen oder Bratpfannen. Und außerdem braucht man Freunde wie Willy und Linda. Eine Lektion Lebensnähe zur Jahrtausendwende. Vergesst Robinson! Wie Aakeson die Geschichte des jungen Mannes erzählt, wie er ihn durch sein mieses Leben schleppt und dabei Lindas Filmgeschichte ins Geschehen montiert – das ist einfach große Klasse. Aakeson ist präziser Chronist der Banalitäten des Alltags. Er nutzt die naive Weltsicht des Antihelden, er nutzt die Potenzen des Kitsches, um den Wahnsinn der Normalität mit lakonischem Witz und Situationskomik zu entlarven. Kein Wort zu viel, keins zu wenig.
Und das wichtigste: Aakeson liebt seine gebrochenen Helden und lässt sie lieben. Auf eine Weise, die einen zu Tränen rührt. – Ein außergewöhnlich gutes Buch, nicht nur in der Landschaft der Jugendliteratur. (ab 13 und Erwachsene)
SIGGI SEUSS
KIM FUPZ AAKESON: Ulla und alles. Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt. Aare Verlag 2000. 144 Seiten, 24,80 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für diese Geschichte von einem "dänischen Forrest Gump" würde Siggi Seuss alle anderen Bücher beiseite legen. Restlos begeistert erzählt der Rezensent in Kurzform die Geschichte von einem Jungen, der seiner grausamen Mutter mit einer Bratpfanne auf den Kopf gehauen hat und nun - in einer psychiatrischen Anstalt - mit einem Kitschfilm über eine im Leben gescheiterte Frau Trost sucht. Schließlich will er die Darstellerin der Filmheldin "Linda" kennen lernen, und wie er das bewerkstelligt und wozu dieses Ansinnen führt, gehört für Seuss zu den "Leseereignissen" schlechthin. Seuss betont dabei die liebevolle, "zu Tränen" rührende Behandlung der Figuren durch den Autor und lobt den "lakonischen Witz und Situationskomik", mit der Aakeson dem ganz normalen Wahnsinn auf die Schliche kommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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