Welche Veränderungen vollzogen sich für die Brandenburgerinnen und Brandenburger nach dem Ende der SED-Herrschaft und der Einführung von parlamentarischer Demokratie und sozialer Marktwirtschaft? Mit welchen Herausforderungen und Problemlagen hatten es Politik und Gesellschaft ab 1990 zu tun, und wie wurde öffentlich darüber diskutiert? Gab es Strukturen und Diktaturerfahrungen aus DDR-Zeiten, die nachwirkten und den Umgang mit der Vergangenheit mitprägten? Mit diesen und weiteren Fragen setzen sich vierzehn Beiträge in diesem Band auseinander. Das Spektrum der Themen reicht vom Wandel politischer Kultur und sozialer Ungleichheiten in der Bevölkerung, Rechtsextremismus und Rechtsrock über Umstrukturierungen der Medien-, Hochschul- sowie Sportlandschaft bis hin zum Wirken der Treuhand. Diskutiert wird auch, was sich in Museen und Gedenkstätten veränderte und wie Ausstellungen die Transformation darstellen. Auf der Grundlage aktueller Forschung präsentieren die Autorinnen und Autoren neue Perspektiven und ungewohnte Sichtweisen auf einen ebenso bewegten wie umstrittenen Zeitabschnitt, der uns bis heute nachhaltig beschäftigt. Mehr als 40 Abbildungen illustrieren das Buch.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Ole Kaiser ist gemischter Meinung über den von Peter Ulrich Weiß, Irmgard Zündorf und Florentine Schmidtmann herausgegebenen Sammelband über Wendeerfahrungen in der DDR und besonders in Brandenburg. Einerseits beglücken ihn die Autoren mit einer Vielzahl von interessanten wie detailreichen Einblicken in Veränderungsprozesse und Konflikte in Ostdeutschland während und nach 1989 und er erfährt viel über die Arbeit der Treuhand, das Wirken von Kirche, Sport und Jugendkultur im Zuge der "friedlichen Revolution". Andererseits vermisst er ein die einzelnen Beiträge verbindendes Element bzw. ein übergeordnetes Konzept oder eine Schwerpunktsetzung sowie einen "theoretischen Überbau". Auch ein Fazit bietet der Band nicht an, bemängelt Kaiser. Dass der Leser mit Zahlen und Prozentangaben mitunter "erschlagen" wird, erscheint ihm der Lektürefreude wenig förderlich. Lesenswert findet er vor allem die Abschnitte über das als Folge der Wende entstandene "Vakuum der Ordnungs- und Sicherheitspolitik" im Osten Deutschlands.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2024Facettenreich, aber ohne Leitfrage
Vorkenntnisse beim Leser dringend erwünscht: Ein Sammelband über die Wendezeit im Bundesland Brandenburg.
Es ist nicht der Teil Deutschlands, dem man intuitiv die größte Beachtung schenkt. Brandenburg steht für "Peripherie"; viel Fläche für wenig Menschen, außer Potsdam, Cottbus und Frankfurt (Oder), das geographisch fast schon zu Polen gehört, ist Brandenburg für das bekannt, was eben nicht von Menschen bewohnt wird: seine Natur. Ökonomisch zählen seine Landkreise, etwa die Uckermark, zu den ärmsten Deutschlands. In ihnen wohnen wenige Ausländer und viele Nazis. Das wäre es dann bei vielen wohl auch mit den abrufbaren Einfällen und Vorurteilen.
Doch dieses Bild ist falsch. Der von Peter Ulrich Weiß, Irmgard Zündorf und Florentine Schmidtmann herausgegebene Sammelband tritt an, dessen bewegte Geschichte vor, während und nach 1989 aufzuarbeiten und historische Veränderungsprozesse und Konfliktlinien nachzuzeichnen. Das Buch ist dreigeteilt: Erst geht es um politische und wirtschaftliche, dann um gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen, und zuletzt um die Transformation der Medien-, Museen- und Gedenkstättenarbeit.
Zahlreiche Abbildungen illustrieren das Geschriebene angenehm, dessen Autoren sehr detailreich, fast schon qualitativ-empirisch, ihre Fragen zu beantworten suchen: Welche Veränderungen ergaben sich für die Menschen vor Ort durch die Einführung der parlamentarischen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft als neue Ordnungssysteme, wie stellte sich das Spannungsverhältnis von Zäsur und Kontinuität in der Zeit vor 1989 und danach dar, und wie wurde mit dem DDR-Erbe umgegangen beziehungsweise welche Problemlagen ergaben und ergeben sich daraus? Methodologisch geht es also eher ums Verstehen als ums Erklären.
Nicht nur sind diese drei Fragestellungen nur schwerlich umfassend zu beantworten, die vierzehn einzelnen Beiträge, deren Autoren sich allesamt wissenschaftlich oder in der Gedenkstättenarbeit mit der Transformationszeit im Osten allgemein oder in Brandenburg befassen, beleuchten jeweils unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft vor, während und nach der "friedlichen Revolution": die Treuhandanstalt, das Handwerk, den Sport, rechtsextreme Jugendkultur und Rechtsrock, Hochschule, linksradikale Hausbesetzungen, die evangelische Kirche und schließlich die Transformation des Fernsehens, der Museen und Gedenkstätten.
Dieser Facettenreichtum - die Herausgeber weisen in ihrer Einleitung lediglich auf den ländlichen Wandel, die Migrationsentwicklung, die Rolle des Militärs und die Baugeschichte als "mögliche Anschlussprojekte" hin - führt zu einem scheinbar umfassenden Blick auf die Wendegeschichte in Brandenburg. Viele Beiträge stellen ihre Argumentation auf ganz konkrete historische Beispiele ab. Der Leser wird also in nahezu jedem Beitrag auf der einen Seite mit Kleinstveränderungen historischer Mikrokosmen konfrontiert, auf der anderen Seite aber vermisst er ein die Beiträge verbindendes Element, das die einzelnen Fallstudien als Teile eines kohärenten Ganzen konzeptualisieren würde.
Die einzelnen Themen sind für sich genommen interessant, jedoch scheinen sie, wie auch in den einleitenden Bemerkungen der Herausgeber formuliert, eher deshalb den Weg in den vorliegenden Sammelband gefunden zu haben, weil dafür Expertentum vorlag und weil den entsprechenden Autoren eine Mitarbeit möglich war, als dass sich bewusst für die thematischen Schwerpunkte entschieden worden wäre. Jedenfalls wird die Schwerpunktsetzung kaum begründet.
Auch fehlt vielen Beiträgen wie dem Werk insgesamt, abgesehen von einzelnen Minibezügen zu Habermas' Argumentationsfigur der "nachholenden Revolution" im ersten Beitrag, ein theoretischer Überbau, der offenlegt, aus welcher wissenschaftstheoretischen Brille der Untersuchungsgegenstand betrachtet wird. Dies ist besonders deshalb bemerkenswert, weil überwiegend wissenschaftlich argumentiert wird, also eigene Problemstellungen zu Beginn benannt werden, zu deren Beantwortung man sich unter Zuhilfenahme vorhandener Literatur anschickt. Weiterhin werden in der Einleitung zwar die benannten drei Grundfragen formuliert. Ein übergreifendes Fazit der Gesamtargumentation am Ende fehlt jedoch.
Auf der Ebene der Einzelbeiträge setzt deren Detailreichtum entweder eine biographische Vorprägung des Lesers oder ein vorhandenes individuelles Interesse und damit Kenntnisse zu Details der Brandenburger Geschichte voraus. Andernfalls fällt es schwer, gerade aufgrund des fehlenden übergeordneten Arguments, den Überblick zu behalten, der stets von neuen historischen Vorkommnissen ertränkt zu werden droht.
Im Beitrag "Umkämpfte Wege in die Marktwirtschaft", der sich vor allem mit der schwierigen Aufgabe der Treuhandanstalt befasst, die marode DDR-Wirtschaft zu stabilisieren, schreibt der Autor, dass die Großbetriebe vom Sommer 1990 an infolge der Währungsunion und der wegbrechenden Nachfrage aus den Staaten des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) massiv ums Überleben kämpften. Interessanter Fakt. Im nächsten Satz folgt dann jedoch als Beispiel, dass das "Nutzkraftwerk Ludwigsfelde" im Juli 1990 nur noch 72 Lkw der Marke "W50" verkaufte, nachdem es im ersten Halbjahr 1990 noch mehr als 5000 gewesen waren. Außerdem verzeichnete der "Kranbau Eberswalde" einen Exportrückgang von 99 Prozent.
Das sind nur sechs der dreizehn Zahlen- und Prozentangaben auf Seite 66. Wenig später geht es knapp zehn Seiten lang um das Chemiefaserwerk Premnitz, wie ausgelastet es war, von wem es wann für wie viel gekauft wurde und vieles mehr. Kurzum: Schon nach kurzer Zeit erschlagen einen Zahlen, Prozentangaben und einzelne Namen, die an einigen Stellen als Stütze des Arguments auch jeweils in einer Fußnote hätten verhandelt werden können.
Lesenswert sind vor allem die Beiträge, die die Folgen eines im Zuge der Wende aufgetretenen Vakuums der Ordnungs- und Sicherheitspolitik aufzeigen: auf der einen Seite vermehrt linke Hausbesetzer, auf der anderen Seite rechte Schlägerbanden, die Mitbürger terrorisierten. "Erst gegen Ende der 1990er-Jahre begannen die gesellschaftlichen und staatlichen Gegenmaßnahmen besser zu greifen." So bleibt am Ende ein gemischter Gesamteindruck eines Werkes, das sich dem lohnenswerten Ziel einer Aufarbeitung der Folgen der DDR-Diktatur für Brandenburg und Ostdeutschland verschrieben hat. OLE KAISER
Peter Ulrich Weiß / Irmgard Zündorf / Florentine Schmidtmann (Hrsg.): Umstrittene Umbrüche. Das Ende der SED-Diktatur und die Transformationszeit in Brandenburg.
Metropol Verlag, Berlin 2024. 320 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vorkenntnisse beim Leser dringend erwünscht: Ein Sammelband über die Wendezeit im Bundesland Brandenburg.
Es ist nicht der Teil Deutschlands, dem man intuitiv die größte Beachtung schenkt. Brandenburg steht für "Peripherie"; viel Fläche für wenig Menschen, außer Potsdam, Cottbus und Frankfurt (Oder), das geographisch fast schon zu Polen gehört, ist Brandenburg für das bekannt, was eben nicht von Menschen bewohnt wird: seine Natur. Ökonomisch zählen seine Landkreise, etwa die Uckermark, zu den ärmsten Deutschlands. In ihnen wohnen wenige Ausländer und viele Nazis. Das wäre es dann bei vielen wohl auch mit den abrufbaren Einfällen und Vorurteilen.
Doch dieses Bild ist falsch. Der von Peter Ulrich Weiß, Irmgard Zündorf und Florentine Schmidtmann herausgegebene Sammelband tritt an, dessen bewegte Geschichte vor, während und nach 1989 aufzuarbeiten und historische Veränderungsprozesse und Konfliktlinien nachzuzeichnen. Das Buch ist dreigeteilt: Erst geht es um politische und wirtschaftliche, dann um gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen, und zuletzt um die Transformation der Medien-, Museen- und Gedenkstättenarbeit.
Zahlreiche Abbildungen illustrieren das Geschriebene angenehm, dessen Autoren sehr detailreich, fast schon qualitativ-empirisch, ihre Fragen zu beantworten suchen: Welche Veränderungen ergaben sich für die Menschen vor Ort durch die Einführung der parlamentarischen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft als neue Ordnungssysteme, wie stellte sich das Spannungsverhältnis von Zäsur und Kontinuität in der Zeit vor 1989 und danach dar, und wie wurde mit dem DDR-Erbe umgegangen beziehungsweise welche Problemlagen ergaben und ergeben sich daraus? Methodologisch geht es also eher ums Verstehen als ums Erklären.
Nicht nur sind diese drei Fragestellungen nur schwerlich umfassend zu beantworten, die vierzehn einzelnen Beiträge, deren Autoren sich allesamt wissenschaftlich oder in der Gedenkstättenarbeit mit der Transformationszeit im Osten allgemein oder in Brandenburg befassen, beleuchten jeweils unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft vor, während und nach der "friedlichen Revolution": die Treuhandanstalt, das Handwerk, den Sport, rechtsextreme Jugendkultur und Rechtsrock, Hochschule, linksradikale Hausbesetzungen, die evangelische Kirche und schließlich die Transformation des Fernsehens, der Museen und Gedenkstätten.
Dieser Facettenreichtum - die Herausgeber weisen in ihrer Einleitung lediglich auf den ländlichen Wandel, die Migrationsentwicklung, die Rolle des Militärs und die Baugeschichte als "mögliche Anschlussprojekte" hin - führt zu einem scheinbar umfassenden Blick auf die Wendegeschichte in Brandenburg. Viele Beiträge stellen ihre Argumentation auf ganz konkrete historische Beispiele ab. Der Leser wird also in nahezu jedem Beitrag auf der einen Seite mit Kleinstveränderungen historischer Mikrokosmen konfrontiert, auf der anderen Seite aber vermisst er ein die Beiträge verbindendes Element, das die einzelnen Fallstudien als Teile eines kohärenten Ganzen konzeptualisieren würde.
Die einzelnen Themen sind für sich genommen interessant, jedoch scheinen sie, wie auch in den einleitenden Bemerkungen der Herausgeber formuliert, eher deshalb den Weg in den vorliegenden Sammelband gefunden zu haben, weil dafür Expertentum vorlag und weil den entsprechenden Autoren eine Mitarbeit möglich war, als dass sich bewusst für die thematischen Schwerpunkte entschieden worden wäre. Jedenfalls wird die Schwerpunktsetzung kaum begründet.
Auch fehlt vielen Beiträgen wie dem Werk insgesamt, abgesehen von einzelnen Minibezügen zu Habermas' Argumentationsfigur der "nachholenden Revolution" im ersten Beitrag, ein theoretischer Überbau, der offenlegt, aus welcher wissenschaftstheoretischen Brille der Untersuchungsgegenstand betrachtet wird. Dies ist besonders deshalb bemerkenswert, weil überwiegend wissenschaftlich argumentiert wird, also eigene Problemstellungen zu Beginn benannt werden, zu deren Beantwortung man sich unter Zuhilfenahme vorhandener Literatur anschickt. Weiterhin werden in der Einleitung zwar die benannten drei Grundfragen formuliert. Ein übergreifendes Fazit der Gesamtargumentation am Ende fehlt jedoch.
Auf der Ebene der Einzelbeiträge setzt deren Detailreichtum entweder eine biographische Vorprägung des Lesers oder ein vorhandenes individuelles Interesse und damit Kenntnisse zu Details der Brandenburger Geschichte voraus. Andernfalls fällt es schwer, gerade aufgrund des fehlenden übergeordneten Arguments, den Überblick zu behalten, der stets von neuen historischen Vorkommnissen ertränkt zu werden droht.
Im Beitrag "Umkämpfte Wege in die Marktwirtschaft", der sich vor allem mit der schwierigen Aufgabe der Treuhandanstalt befasst, die marode DDR-Wirtschaft zu stabilisieren, schreibt der Autor, dass die Großbetriebe vom Sommer 1990 an infolge der Währungsunion und der wegbrechenden Nachfrage aus den Staaten des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) massiv ums Überleben kämpften. Interessanter Fakt. Im nächsten Satz folgt dann jedoch als Beispiel, dass das "Nutzkraftwerk Ludwigsfelde" im Juli 1990 nur noch 72 Lkw der Marke "W50" verkaufte, nachdem es im ersten Halbjahr 1990 noch mehr als 5000 gewesen waren. Außerdem verzeichnete der "Kranbau Eberswalde" einen Exportrückgang von 99 Prozent.
Das sind nur sechs der dreizehn Zahlen- und Prozentangaben auf Seite 66. Wenig später geht es knapp zehn Seiten lang um das Chemiefaserwerk Premnitz, wie ausgelastet es war, von wem es wann für wie viel gekauft wurde und vieles mehr. Kurzum: Schon nach kurzer Zeit erschlagen einen Zahlen, Prozentangaben und einzelne Namen, die an einigen Stellen als Stütze des Arguments auch jeweils in einer Fußnote hätten verhandelt werden können.
Lesenswert sind vor allem die Beiträge, die die Folgen eines im Zuge der Wende aufgetretenen Vakuums der Ordnungs- und Sicherheitspolitik aufzeigen: auf der einen Seite vermehrt linke Hausbesetzer, auf der anderen Seite rechte Schlägerbanden, die Mitbürger terrorisierten. "Erst gegen Ende der 1990er-Jahre begannen die gesellschaftlichen und staatlichen Gegenmaßnahmen besser zu greifen." So bleibt am Ende ein gemischter Gesamteindruck eines Werkes, das sich dem lohnenswerten Ziel einer Aufarbeitung der Folgen der DDR-Diktatur für Brandenburg und Ostdeutschland verschrieben hat. OLE KAISER
Peter Ulrich Weiß / Irmgard Zündorf / Florentine Schmidtmann (Hrsg.): Umstrittene Umbrüche. Das Ende der SED-Diktatur und die Transformationszeit in Brandenburg.
Metropol Verlag, Berlin 2024. 320 S., 24,- Euro.
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