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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2004

Reformtheorien oder Theoriereform
Praktisch umsetzbare Konzepte zur Sanierung Deutschlands

Friedrich Breyer/Wolfgang Franz/Stefan Homburg/Reinhold Schnabel/Eberhard Wille: Reform der sozialen Sicherung. Verlag Springer, Berlin 2004, 169 Seiten, 29,95 Euro.

Michael Schefczyk: Umverteilung als Legitimationsproblem. Verlag Alber, München 2003, 331 Seiten, 42 Euro.

Die derzeit florierende Branche der Reformliteratur hat zwei Abhandlungen hervorgebracht, deren Autoren sich der Krise des Sozialstaats aus verschiedenen Richtungen nähern und dabei ihre Sache gründlich machen wollen. Mit dem Buch "Reform der sozialen Sicherung" legen fünf Volkswirte ein detailliertes, bis ins Jahr 2050 durchgerechnetes Reformmodell für die Sozialversicherungen vor, während das Werk "Umverteilung als Legitimationsproblem" den gerechtigkeitstheoretischen Herausforderungen solcher sozialstaatlichen Sicherungssysteme gewidmet ist. Diese Untersuchung leitet der Philosoph und Volkswirt Michael Schefczyk mit einer Topographie der volkswirtschaftlichen Theorielandschaft seit 1900 ein, die geprägt ist von den Spuren des Kampfes um den Ausschluß normativer Komponenten wie Forderungen nach Gleichheit oder Gerechtigkeit.

Das Ziel der dominierenden utilitaristischen Schule war strikte Wertfreiheit und Konzentration auf den Begriff des Nutzens. Im Zuge dieser Fokussierung hat sich das Fach Volkswirtschaft vollständig von der Fakultät getrennt, in der es begründet wurde - der Philosophie. Der Autor setzt sich ein doppeltes Ziel, eine Wiederannäherung zwischen diesen beiden Fächern und - darauf aufbauend - eine interdisziplinäre Klärung der Frage, wie der Sozialstaat Wohlstand nicht nur ökonomisch rational, sondern zugleich gerecht umverteilen kann und soll. Dazu konfrontiert er die utilitaristische Wirtschaftslehre mit den naturrechtlichen und egalitaristischen Einwänden, die in den sechziger Jahren aufkamen. Ihren Höhepunkt erreichte die Diskussion 1971 mit dem Erscheinen der "Theory of Justice" des amerikanischen Philosophen John Rawls. Mit dem von ihm vorgestellten Verfahren des "Schleiers des Nichtwissens" feiert seine egalitaristische Gerechtigkeitstheorie einen bis heute andauernden Siegeszug. Schefczyk verteidigt diese vorsichtig, weil er sie immer noch für das Beste hält, was wir haben. Das stimmt - und darin liegt das ganze Dilemma von Sozialphilosophie und Wirtschaftstheorie, wenn sie den Sozialstaat zum gemeinsamen Thema machen.

Der Schleier des Nichtwissens beschreibt die Vorstellung eines Zustands, in dem die Menschen wahrhaft unparteilich über die gesellschaftliche Ordnung verhandeln, die ihre eigene sein wird. Es ist eine philosophische Fiktion. Hinter dem Schleier versammeln sich imaginäre Menschen, die nicht einmal ihre eigenen Eigenschaften kennen und doch einen Vertrag aushandeln müssen, der die Gesellschaft regelt. Vor dem Schleier dozieren Philosophen, Theoretiker und Anwender der Theorie darüber, was diese wesenlosen Wesen hinter dem Schleier beschließen müssen, weil sie schließlich über nichts als ihre nackte Vernunft verfügen. Man darf gar nicht daran denken, mit welchem Spott die scharfsinnigen Vertragstheoretiker des achtzehnten Jahrhunderts wie David Hume und Immanuel Kant dieses einfältige Verfahren als Begründung von Gerechtigkeit überzogen hätten.

Es widerspricht schon der Intuition, daß ein weitreichendes Informationsdefizit Gerechtigkeit erzeugen könnte. Das mag für Lotterien reichen, nicht aber für Gesellschaften. Schefczyk löst das wirklichkeitsresistente, idealisierende Theoriedesign normativer Theorien auf, den sogenannten desirability approach, der Wahrheitsansprüche aus der Verknüpfung vorher anerkannter Prinzipien ableitet. Statt dessen schlägt er ein induktives Verfahren vor, mit dem solche Theorien schon im Entwicklungsstadium mehr empirischen Gehalt und somit Realitätsnähe einschließen. So kommt er zu einem neuen Modell zur Legitimation von Umverteilung, das einen normativen Kern in der Form eines Anrechts auf Autonomie hat. Das Ziel des Sozialstaats soll in der Herstellung und Reproduktion der Bedingungen für Autonomie seiner Bürger liegen. Der Autonomieansatz führt direkt zur Forderung nach Eigentumsbildung, denn nur dieses mache einen Bürger mündig und voll urteilsfähig. Das gesellschaftliche Ideal des Autonomie-Paradigmas ist somit die Eigentümerdemokratie.

Dieses Ideal hätte durchaus das Zeug dazu, zum Staatsziel erhoben zu werden - wenn nicht noch einige wichtige Fragen zu beantworten wären. Denn Eigentumstitel können nicht einfach umverteilt werden. Die echte Herausforderung ist vielmehr die Bildung von neuen Eigentumstiteln in der Hand der Bürger. Ist es nun innerhalb des Autonomie-Paradigmas normativ vertretbar, daß Autonomie auch mit Zwang hergestellt wird? Ist es vorstellbar, daß Arbeitnehmer zum privaten Ansparen gezwungen werden, ohne daß die Grundlage der Autonomie-Forderung ad absurdum geführt wird? Wäre es ökonomisch rational, wenn man die Konsumfunktion betrachtet? Und was geschieht, wenn die Bürger die ihnen normativ zugestandene Autonomie als Zumutung empfinden und ablehnen?

Mit Zumutungen haben die Autoren des Buches "Reform der sozialen Sicherung" dagegen keine Schwierigkeiten. Die Autoren der Studie wollen sich über das Tagesgeschäft der Politik erheben, um endlich einen gesamtwirtschaftlich rationalen Diskurs zu führen. Das Ergebnis: Abschaffung von Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenhilfe; gesetzliche Anhebung der Bruttolöhne um 3,25 Prozent zur Bildung von Rücklagen; Renten- und Krankenversicherung werden von allen Bürgern bezahlt, letztere wird vom Einkommen entkoppelt; Anhebung des Kindergelds auf 295 Euro, dafür entfallen die Anrechnungszeiten für Kindererziehung in der Rente und die Gratis-Mitversicherung in der Krankenkasse; die Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfeempfänger wird halbiert, wobei eigenes Arbeitseinkommen zunächst anrechnungsfrei bleibt.

Diese Reformvorschläge von erfrischender Radikalität basieren auf genau 31 Zeilen an theoretischen Voraussetzungen, die nichts anderes beschreiben als den ubiquitären Schleier des Nichtwissens. Es ist auch von Souveränität und Eigenverantwortung die Rede. Könnte das eine Übersetzung von Schefczyks Forderung nach der Schaffung von Bedingungen zur Herstellung von Autonomie sein? Keinesfalls.

Souveränität läßt sich hier auf den Slogan reduzieren "Schau zu, wie du alleine klarkommst". Die streng utilitaristischen Kostenberechnungen haben für Autonomie nur eines übrig: ein Preisschild. Die gerechtigkeitstheoretische Legitimation fungiert hier selbst als ein Schleier des Nichtwissens; sie verbirgt eine liberale Position hinter einer philosophisch höchst kritikwürdigen Konstruktion.

Erweitern die gerechtigkeitstheoretisch informierten Theorien über den Sozialstaat unseren Sinn für das Mögliche, für neue Alternativen? Bisher noch nicht. In beiden Studien gelingt es trotz interessanter Ansätze nicht, der sich anbahnenden demographischen, sozialen und ökonomischen Katastrophe ins Auge zu sehen. Sie zeigen in ihrer Kombination, wie wenig die Sozial-, Politik- und Wirtschaftstheorie derzeit zur Lösung der strukturellen Probleme des Sozialstaats beitragen können. Und eine Vermutung drängt sich auf: Gerechtigkeit kann nur politisch begründet werden.

REGINALD GRÜNENBERG

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Das Legitimationsproblem sozialstaatlicher Umverteilung steht in dieser Studie Michael Schefczyks im Mittelpunkt, berichtet Rezensent Hans Bernhard Schmid. Dem Zürcher Philosoph und Ökonom zufolge lasse sich das Problem nur interdisziplinär, in Zusammenarbeit von Philosophie und Ökonomie, adäquat behandeln. Schefczyk werfe einen kritischen auf beide Disziplinen. Der Ökonomie halte er vor, ein Normativitätsproblem zu haben und sich zu Unrecht als "wertfreie Wissenschaft" zu betrachten, während er das Problem der Philosophie darin sehe, dass sie sich auf die Diskussion von Gerechtigkeitsprinzipien zurückgezogen und den Sozialwissenschaften das gesellschaftsanalytische Feld überlassen habe. So stelle sich Schefczyk im Schlussteil seines Buches die Aufgabe, "eine Art normative Leitlinie für den Umbau des Sozialstaates zu entwerfen." Demnach setze Selbstverantwortung Autonomie voraus, die zuerst einmal gesichert (d. h. finanziert) sein wolle. Als Schefczyks Kerngedanke nennt Schmid die These, dass Umverteilung so weit legitim sei, als sie zur Sicherung der Autonomie aller Betroffenen notwendig ist.

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