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»Und wenn man seinen Lebenszweck nicht in einem Menschen gesucht hätte, sondern in einer Idee?«.Daniel verlebt seine Jugend im Schatten einer freudlosen Mutter und träumt davon, dem reglementierten Alltag des bürgerlichen Milieus zu entfliehen. Diese Welt aber bricht schon bald zusammen, als sich seine engsten Familienangehörigen infolge eines öffentlichen Skandals nacheinander das Leben nehmen. Auf der Flucht vor Trauer und Schuldgefühlen gerät er in eine ambivalente Beziehung zu zwei Frauen, der exzentrischen Léila und der biederen Professorentochter Scolastique Dupont-Quentin. Am Ende…mehr

Produktbeschreibung
»Und wenn man seinen Lebenszweck nicht in einem Menschen gesucht hätte, sondern in einer Idee?«.Daniel verlebt seine Jugend im Schatten einer freudlosen Mutter und träumt davon, dem reglementierten Alltag des bürgerlichen Milieus zu entfliehen. Diese Welt aber bricht schon bald zusammen, als sich seine engsten Familienangehörigen infolge eines öffentlichen Skandals nacheinander das Leben nehmen. Auf der Flucht vor Trauer und Schuldgefühlen gerät er in eine ambivalente Beziehung zu zwei Frauen, der exzentrischen Léila und der biederen Professorentochter Scolastique Dupont-Quentin. Am Ende dieser Prüfungen steht nicht etwa die feste Identität eines Selbst, sondern dessen Verschwinden.André Breton zählte Crevel zu jenen, die sich zum »absoluten Surrealismus« bekannt haben. Dennoch blieb er in der surrealistischen Gruppe ein Außenseiter, dessen Werke wegen ihrer vermeintlichen Nähe zur traditionellen Romanform bei den anderen Mitgliedern Kritik und Irritation erregten. Sie sahen nicht, inwiefern gerade das spielerische Ineinander von Autobiographie und Fiktion die gängigen Formen des literarischen Schreibens auflöste.Crevels Werk ist mit dieser deutschen Erstübersetzung wiederzuentdecken.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2020

Gegen die Feigheit der Mittelmäßigkeit
René Crevels Debütroman "Umwege" wird nach fast hundert Jahren erstmals ins Deutsche übersetzt

Literarisch gesehen war die Zeit zwischen den Kriegen in Frankreich eine Phase teils radikaler Experimente, deren Reichtum und Tragweite den Zeitgenossen oft nicht bewusst waren, ja die erst nach und nach - auch in Deutschland - entdeckt werden. Neben erstrangigen Autoren wie Céline oder Irène Némirovsky gehören diskretere Schriftsteller dazu, etwa Emmanuel Bove oder André de Richaud. Für den literarischen Schatzgräber ist es daher von Interesse, dass der kleine Berliner Verlag zero sharp, der eine Expertise in der französischen Avantgarde hat, nun aus dem Werk von René Crevel (1900 bis 1935) übersetzt: Maximilian Gilleßen und Philippe Roepstorff-Robiano übertragen "Umwege", den 1924 erschienenen Erstling. Es ist nicht die erste Crevel-Übertragung ins Deutsche, "Der schwierige Tod" (1926) wurde 2016 bei Suhrkamp aufgelegt; andere Übertragungen sind vergriffen.

Crevel wird wenigen ein Begriff sein: Er gehörte zum Surrealismus und zu jenen engagierten Intellektuellen, die den Kommunismus für eine Option hielten, eine so wichtige, dass sein Selbstmord auch auf den Ausschluss der Surrealisten vom Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935 zurückzuführen ist; der andere Grund war eine schwere Form der Tuberkulose. Crevel wurde nicht nur - eine Seltenheit - als Homosexueller bei den Surrealisten akzeptiert, sondern war im intellektuellen und künstlerischen Paris bestens vernetzt. Zu seinem Umfeld gehörten Tristan Tzara, André Breton, André Gide und Klaus Mann.

"Umwege" erzählt Reifetage im Leben des jungen Daniel, der sich nach dem Suizid seiner Familie - ausgelöst von einem Sexskandal, in den sein Vater verwickelt wird - allein in der Welt findet. Der "Narziss am armseligen Bach" begibt sich auf die Suche danach; Forschungsterrain sind die Arme der Frauen. Er gerät an ein Gegensatzpaar: Léila und Scolastique. Die Augen der Ersteren "waren größer als ihr Mund, sie gab sich als Hindu und Dichterin aus", während Scolastique die Tochter eines Philosophieprofessors ist, dessen Sorbonne-Lektionen Daniel vor allem Léilas wegen besucht hatte; ihr Nachname Dupont-Quentin bringt ihre Biederkeit auf den Punkt.

Beide Damen lassen Daniel Wechselbäder der Gefühle durchlaufen, umso mehr, als Scolastique den Fürsten Cyrill Boldiroff heiratet, der - wie die zu Cyrilla umgetaufte Scolastique nicht weiß - der ehemalige Geliebte Léilas ist. Trotz Scolastiques Verwandlung siegt Léila, die ehemaligen Geliebten brennen durch. Daniel spendet Cyrilla Trost und Liebe, wovon sie vorerst nur Ersteren akzeptiert. Am Ende sieht sich Daniel vor die Wahl gestellt, ein bürgerliches Leben mit gefestigter Identität anzutreten - "Ein glücklicher Mann, ein Mann, der keine Umwege mehr einschlägt?" - oder ein anderes Glück zu suchen, das "auf nichts verzichtet" hat und letztlich in der Auflösung besteht.

Im Detail bietet "Umwege" geistreiche und durchaus exzentrische Dialoge - es wundert nicht, dass Crevel eine Dissertation zu Denis Diderot geplant hatte. Es finden sich sehr dichte Beschreibungen, etwa von einem verruchten Nachtlokal: "Wie Kröten, die sich unzüchtig aneinander schmiegten, führten Stricher den neuesten Tanzschritt auf. Um sie herum der Staub des Reispulvers und benommen machendes Parfum; die Frauen schienen sich mit ihren stets paraten Rotstiften neue Lippen zurechtgeschnitten zu haben." Im Großen interessiert der Rückgriff auf die überkommene Entwicklungserzählung des psychologischen Romans, die jedoch sehr frei eingesetzt wird. Crevel schreibt 1926 über sich: "Er verließ endgültig den alten logisch-realistischen Dachboden, da er verstanden hatte, dass es feige war, sich in einer verständelnden Mittelmäßigkeit einzusperren."

Die der Verstandeskritik zugrundeliegenden Interessen psychoanalytischer Färbung scheinen klar durch: Dies ist ein Punkt, in dem "Umwege" entfernt an Michel Leiris' "Mannesalter" (1939) erinnert. Auch andere Elemente verweisen auf eine surrealistisch interpretierte Psychoanalyse, etwa Phänomene, die der Bewusstseinskontrolle entgleiten, Makabres, ein eigensinniger Rekurs auf Mythen und enigmatische Sprachbilder ("denn ein geschliffenes Glas verkündete ja schon die malvenfarbene Tristesse der Einsamkeit unter den Augenlidern") - vor allem jedoch die völlig unfreudianische Hoffnung, dass die Ausschaltung der Ratio befreie.

Crevels Eigenart ist, all das in leichtem Tonfall darzubieten, noch das Tragische seiner Figuren in wenigen, scharfgewitzten Sätzen zu skizzieren und die Handlung mit gelassener Kapriziösität zu führen. Ein spannender Autor, den das Vorwort entdecken hilft; das Nachwort hingegen ist begrifflich so überbesetzt wie unterbestimmt und entbehrlich.

NIKLAS BENDER.

René Crevel: "Umwege". Roman.

Aus dem Französischen von Maximilian Gilleßen und Philippe Roepstorff-Robiano. Zero sharp, Berlin 2019. 176 S., br., 20,- [Euro].

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