Im April 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, wird in dem Dorf Payerne in der Schweiz ein Berner Viehhändler grausam ermordet: Die kleine Gruppe lokaler Nazis findet unter den Verlierern und Zukurzgekommenen regen Zulauf, ihre fanatischen Anführer fordern eine Tat als Fanal, damit die Bevölkerung merkt, woher der Wind der Zukunft weht. Ein Toter muss her, ein Jude, der Familienvater Arthur Bloch kommt gerade recht.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2010„Absolute Perversion, dreckigste Reinheit“
Jacques Chessex verflucht und beschwört einen exemplarischen Mord im waadtländischen Payerne des Jahres 1942
Großer Stil verschafft dem Romangeschehen eine gewisse Distanz und einen Kunstglanz. Hier ist jedoch das Gegenteil der Fall. Selten verrieten Stimmungsbilder so viel persönliche Betroffenheit seitens des Autors wie die hier vom waadtländischen Marktstädtchen Payerne: ein in Schweinespeck, Milch, Tabak und im Fleisch der Viehherden, im Geld der Kantonalbank und im einheimischen Weindampf schwitzendes Nest, über dem von den dunstigen Hügelzügen und Buchenwäldern her der Frühling seine noch zarte Farbenpracht aufspannt. Das Ereignis, das er vor diesem Hintergrund erzählt, lag dem Westschweizer Jacques Chessex offenbar schwer im Geist.
Jeder Satz klingt wie ein persönliches Zeugnis von Anhänglichkeit und Abscheu zugleich. Kein Wunder, der Autor selbst kommt aus diesem Ort Payerne, hat den erzählten Vorfall als Kind real miterlebt und hatte, nachdem das Buch anfang letzten Jahres erschienen war, gerade noch Zeit, die neu entflammte Aufregung darüber zur Kenntnis zu nehmen, bevor er im Oktober starb. So wurde daraus, zusammen mit dem postum gerade erschienenen Skandalroman über den alten Marquis de Sade („Le Dernier Crâne de M. de Sade“), ein testamentarisches Werk.
Chessex hat in diesem Buch keine vergessene Geschichte ausgegraben. Die Sache ist bekannt, nur spricht man in Payerne nicht gern davon. Denn der grauenvolle Mord, der im April 1942 die Gemüter bewegte, brach nicht über die friedliche Sattheit des Städtchens herein, sondern wuchs aus ihm hervor. Der Krieg und der nibelungendurchwallte Wahn eines neuen Europa unter dem visionären Auge des Führers war in diesem Frühjahr 1942 weit weg, hatte aber unter den Arbeitslosen, verarmten Bauern und sonstigen Eiferern Anhänger gefunden. Juden und Freimaurer wurden schon immer mit Argwohn gesehen: eine Einstellung, die im entlegenen Landstrich einen Geschmack von endlos umgewühlter Erde hat, durchtränkt von glänzendem Schweineblut und besiedelt „mit gottverlassenen Friedhöfen, auf denen die Gebeine der Toten noch reden“. Ein gezielter Mord als Exempel erschien manchen angebracht.
Wenn also an einem schönen Markttag der Viehhändler Arthur Bloch aus Bern plötzlich spurlos verschwindet und die von ihm erworbenen Tiere noch in der Mittagssonne verlassen auf dem Platz an der Stange zerren, ruft das in den Wirtsstuben zunächst nur Zoten hervor. Jeder will den Städter mit einer Landschönheit im Wald oder in einem Hotelzimmer gesehen haben. Dass der Mann von Schweizer Dorf-Nazis in einen Stall gelockt, getötet, mit Axt, Säge und Fleischermesser zerteilt, in Milchkübel verstaut und im nahen Neuenburger See versenkt wurde, kommt erst später heraus. Und die selben Bürger, die zunächst den Mord nicht ganz falsch fanden, schreien beim Prozess ein Jahr später, wenn der Wind sich politisch gewendet hat, gegen die Nazi-Bestien – schon weil ihnen ob der monströsen Bluttat die Freude an den Fleischauslagen beim Stadtmetzger vergangen ist.
Jacques Chessex ist nicht als Autor der Nuancen und der komplexen Hintergründe bekannt. Seine Werke tragen die massigen Züge eindeutiger Szenen, kraftvoller Schilderung, derber Figurenprofile. Sie sind von der rustikalen Schwere seiner Region zwischen Waadtland und Fribourg, zu der er steht. In der Hassliebe zu dieser Heimat dominiert bei ihm deutlich die Liebe. Das weckt gerade bei diesem Buch den Eindruck, als wäre Thomas Bernhards Oberösterreich oder Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ lokal kräftig nachkoloriert worden.
So überrascht es auch nicht weiter, wenn im vorletzten Kapitel der lineare Erzählsteg plötzlich einbricht und ein offenes Autoren-Ich zum Vorschein kommt. Er, der in Payerne Geborene, erinnert sich an die Nazilieder und Hitlerrufe, wird aber zugleich von den Skrupeln befallen, die der Philosoph Vladimir Jankélévitch einst formulierte: Jeder Nacherzähler der alten Verbrechen mache sich indirekt mitschuldig. Sollte man sie also vergessen, wie die wackeren Bürger von Payerne es heute gern möchten? Geht nicht, dafür hat der Vorfall das Kind damals zu sehr geprägt.
Jahre danach ist der Autor dem Anstifter jenes Mords, einem ehemaligen Pastor, im Café du Vieux Lausanne zufällig begegnet und hat sich forschend zu ihm gesetzt. „Sind Sie Pastor Lugrin?“ – „Ja, und?“. Von Bedauern oder gar Reue zeigte der Mann keine Spur, er war der alte Nazi geblieben. Dem Autor wurde da plötzlich klar, dass er eine „absolute Perversion, dreckigste Reinheit“ vor sich hatte: „Keiner menschlichen Instanz mehr zugänglich, er unterliegt nur Gott“. Von einem Buch, das so aus dem Menschlichen sich verabschiedet und das Unfassbare dem lieben Gotte anheim stellt, soll man nicht erwarten, was es nicht leisten kann. Ansätze zum Begreifen, Ahnungen von Einsicht, Bewältigungsversuche kommen hier nicht vor. Das Werk, das der „über den Hügeln von Auschwitz und Payerne“ aufsteigenden Verzweiflung nachhängt, also mehr durchmischt als differenziert, ist Beschwörung, Fluch, Bittgesang mindestens ebenso sehr wie Roman oder Erzählung. Grete Osterwald hat dieses seltene Gattungsgemisch präzis und ausdrucksstark übersetzt.
JOSEPH HANIMANN
JACQUES CHESSEX: Ein Jude als Exempel. Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2010. 96 Seiten, 12,90 Euro.
Macht sich der Nacherzähler der
alten Verbrechen indirekt schuldig?
Soll man lieber schweigen?
Der grauenvolle Mord brach nicht von außen über Stadt und Landschaft herein: Straße im Waadtland, in der Nähe von Payerne. Foto: Photoalto/Getty Images
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Jacques Chessex verflucht und beschwört einen exemplarischen Mord im waadtländischen Payerne des Jahres 1942
Großer Stil verschafft dem Romangeschehen eine gewisse Distanz und einen Kunstglanz. Hier ist jedoch das Gegenteil der Fall. Selten verrieten Stimmungsbilder so viel persönliche Betroffenheit seitens des Autors wie die hier vom waadtländischen Marktstädtchen Payerne: ein in Schweinespeck, Milch, Tabak und im Fleisch der Viehherden, im Geld der Kantonalbank und im einheimischen Weindampf schwitzendes Nest, über dem von den dunstigen Hügelzügen und Buchenwäldern her der Frühling seine noch zarte Farbenpracht aufspannt. Das Ereignis, das er vor diesem Hintergrund erzählt, lag dem Westschweizer Jacques Chessex offenbar schwer im Geist.
Jeder Satz klingt wie ein persönliches Zeugnis von Anhänglichkeit und Abscheu zugleich. Kein Wunder, der Autor selbst kommt aus diesem Ort Payerne, hat den erzählten Vorfall als Kind real miterlebt und hatte, nachdem das Buch anfang letzten Jahres erschienen war, gerade noch Zeit, die neu entflammte Aufregung darüber zur Kenntnis zu nehmen, bevor er im Oktober starb. So wurde daraus, zusammen mit dem postum gerade erschienenen Skandalroman über den alten Marquis de Sade („Le Dernier Crâne de M. de Sade“), ein testamentarisches Werk.
Chessex hat in diesem Buch keine vergessene Geschichte ausgegraben. Die Sache ist bekannt, nur spricht man in Payerne nicht gern davon. Denn der grauenvolle Mord, der im April 1942 die Gemüter bewegte, brach nicht über die friedliche Sattheit des Städtchens herein, sondern wuchs aus ihm hervor. Der Krieg und der nibelungendurchwallte Wahn eines neuen Europa unter dem visionären Auge des Führers war in diesem Frühjahr 1942 weit weg, hatte aber unter den Arbeitslosen, verarmten Bauern und sonstigen Eiferern Anhänger gefunden. Juden und Freimaurer wurden schon immer mit Argwohn gesehen: eine Einstellung, die im entlegenen Landstrich einen Geschmack von endlos umgewühlter Erde hat, durchtränkt von glänzendem Schweineblut und besiedelt „mit gottverlassenen Friedhöfen, auf denen die Gebeine der Toten noch reden“. Ein gezielter Mord als Exempel erschien manchen angebracht.
Wenn also an einem schönen Markttag der Viehhändler Arthur Bloch aus Bern plötzlich spurlos verschwindet und die von ihm erworbenen Tiere noch in der Mittagssonne verlassen auf dem Platz an der Stange zerren, ruft das in den Wirtsstuben zunächst nur Zoten hervor. Jeder will den Städter mit einer Landschönheit im Wald oder in einem Hotelzimmer gesehen haben. Dass der Mann von Schweizer Dorf-Nazis in einen Stall gelockt, getötet, mit Axt, Säge und Fleischermesser zerteilt, in Milchkübel verstaut und im nahen Neuenburger See versenkt wurde, kommt erst später heraus. Und die selben Bürger, die zunächst den Mord nicht ganz falsch fanden, schreien beim Prozess ein Jahr später, wenn der Wind sich politisch gewendet hat, gegen die Nazi-Bestien – schon weil ihnen ob der monströsen Bluttat die Freude an den Fleischauslagen beim Stadtmetzger vergangen ist.
Jacques Chessex ist nicht als Autor der Nuancen und der komplexen Hintergründe bekannt. Seine Werke tragen die massigen Züge eindeutiger Szenen, kraftvoller Schilderung, derber Figurenprofile. Sie sind von der rustikalen Schwere seiner Region zwischen Waadtland und Fribourg, zu der er steht. In der Hassliebe zu dieser Heimat dominiert bei ihm deutlich die Liebe. Das weckt gerade bei diesem Buch den Eindruck, als wäre Thomas Bernhards Oberösterreich oder Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ lokal kräftig nachkoloriert worden.
So überrascht es auch nicht weiter, wenn im vorletzten Kapitel der lineare Erzählsteg plötzlich einbricht und ein offenes Autoren-Ich zum Vorschein kommt. Er, der in Payerne Geborene, erinnert sich an die Nazilieder und Hitlerrufe, wird aber zugleich von den Skrupeln befallen, die der Philosoph Vladimir Jankélévitch einst formulierte: Jeder Nacherzähler der alten Verbrechen mache sich indirekt mitschuldig. Sollte man sie also vergessen, wie die wackeren Bürger von Payerne es heute gern möchten? Geht nicht, dafür hat der Vorfall das Kind damals zu sehr geprägt.
Jahre danach ist der Autor dem Anstifter jenes Mords, einem ehemaligen Pastor, im Café du Vieux Lausanne zufällig begegnet und hat sich forschend zu ihm gesetzt. „Sind Sie Pastor Lugrin?“ – „Ja, und?“. Von Bedauern oder gar Reue zeigte der Mann keine Spur, er war der alte Nazi geblieben. Dem Autor wurde da plötzlich klar, dass er eine „absolute Perversion, dreckigste Reinheit“ vor sich hatte: „Keiner menschlichen Instanz mehr zugänglich, er unterliegt nur Gott“. Von einem Buch, das so aus dem Menschlichen sich verabschiedet und das Unfassbare dem lieben Gotte anheim stellt, soll man nicht erwarten, was es nicht leisten kann. Ansätze zum Begreifen, Ahnungen von Einsicht, Bewältigungsversuche kommen hier nicht vor. Das Werk, das der „über den Hügeln von Auschwitz und Payerne“ aufsteigenden Verzweiflung nachhängt, also mehr durchmischt als differenziert, ist Beschwörung, Fluch, Bittgesang mindestens ebenso sehr wie Roman oder Erzählung. Grete Osterwald hat dieses seltene Gattungsgemisch präzis und ausdrucksstark übersetzt.
JOSEPH HANIMANN
JACQUES CHESSEX: Ein Jude als Exempel. Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2010. 96 Seiten, 12,90 Euro.
Macht sich der Nacherzähler der
alten Verbrechen indirekt schuldig?
Soll man lieber schweigen?
Der grauenvolle Mord brach nicht von außen über Stadt und Landschaft herein: Straße im Waadtland, in der Nähe von Payerne. Foto: Photoalto/Getty Images
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