Vor 16 Jahren hat der frühere Lehrer Kikutani seine Ehefrau aus Eifersucht erstochen. Nun wird er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Unter der Obhut seiner Bewährungshelfer kehrt er in ein normales Leben zurück. Als er im Zuge seiner Resozialisierung ein zweites Mal heiratet, kommt es neuerlich zur Katastrophe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2003Im Stechschritt in die Freiheit
Haftpflicht: Akira Yoshimuras Roman eines Bewährungsversuchs
Wer Tokio und Umgebung Anfang der siebziger Jahre kannte und gut anderthalb Jahrzehnte, in der Hochphase der später so genannten "Seifenblasenwirtschaft", wiederkam, der kann das Erstaunen des Romanhelden bei einer Zugfahrt vom Bahnhof Tokio in Richtung Flughafen nachempfinden: "Betonfassaden säumten die gesamte Strecke. Er stellte mit Erschrecken fest, daß die einstigen Felder, Wiesen und Wälder in weniger als zwanzig Jahren diesen Steinwüsten gewichen waren; flache Häuser gab es nur noch ganz vereinzelt." Als er den "Blick flußabwärts schweifen ließ, entfuhr ihm ein entsetzter Aufschrei: Zu beiden Seiten der Mündung, wo einst die Schilfinsel lag, befand sich jetzt ein breiter Streifen aufgeschüttetes Land mit einer Skyline von Hochhäusern, die sich bis in die Ferne zum Meer erstreckte. Mitten hindurch schlängelte sich eine Autobahn, auf der glitzernde Punkte hin und her flitzten. (. . .) Fassungslos betrachtete er diese Betonwüste - eine Schlafstadt für Pendler."
Kikutani, der Protagonist, ist nach knapp sechzehn Jahren auf Bewährung aus der Haft entlassen worden, und für ihn, der wie seine Mithäftlinge weder durch Zeitungslektüre noch durch Freigänge Gelegenheit hatte, den Wandel in der Umgebung nachzuvollziehen, beginnt eine beschwerliche Zeit der Gewöhnung an das Neue. Er kennt weder automatische Fahrkartenkontrollen im Bahnhof noch die neuen Geldscheine. Die versechsfachten Preise, das neue Stadtbild, die Schnellstraßen, ja selbst die Rolltreppen und die Aufzüge im Kaufhaus machen ihm angst. Glücklicherweise steht er für die ersten Wochen seines neuen Lebens unter der Obhut eines ehrenamtlichen Bewährungshelfers, der ihn behutsam, aber nachdrücklich in eine selbständige Existenz schiebt und ihm eine Anstellung auf einer ländlichen Hühnerfarm beschafft.
Das Gefängnis hat den ehemaligen Studienrat offenbar völlig in seiner Persönlichkeit verändert. Er ist ein gebrochener, abgestumpfter Mann. Kein Interesse mehr kann er am Geschehen um ihn herum aufbringen, keinerlei intellektueller Zugang bleibt ihm zu den Dingen. Er ist ganz darauf fixiert, mit dem Alltag fertig zu werden, der ihn noch für lange Zeit fast überwältigt. So muß er sich erst einmal das apathische Sitzen im zellengleich kleinen Zimmer seines Apartments abgewöhnen.
Das Buch läßt sich ganz auf seine beschränkte Perspektive ein und verzichtet folglich auf jegliches Reflektieren und Psychologisieren. Um so eindrucksvoller sind jedoch die Schilderungen des Gewöhnungsprozesses, auch wenn sie bisweilen zu breit ausfallen. Im Kino ist uns dies vor nicht langer Zeit mit dem in Cannes 1997 preisgekrönten Film "Unagi" (Der Aal) von Regisseur Imamura Shôhei vorgeführt worden, der von dem vorliegenden Roman offenbar stark inspiriert wurde. Man denke etwa an die zunächst befremdend wirkende Szene, als der Held auf der Straße durch seinen hampelmannartigen Stechschritt auffällt, den er in langen Gefängnisjahren eingebleut bekam. Wer nicht weiß, daß dies ebenso wie der Blick zum Boden und das Nicht-Reden, außer zum Aufsichtspersonal natürlich, zu den elementaren Verhaltensregeln von Gefangenen in Japan gehört, kann mit den eher komisch oder unverständlich wirkenden Szenen mit wortkargen, den Blick meidenden und im Gänsemarsch einherstolzierenden Exhälftlingen wenig anfangen.
Das größte Problem für einen entlassenen Strafgefangenen ist es jedoch, seine Vergangenheit vor allen Mitmenschen auf Dauer geheimzuhalten. Verurteilung bedeutet sozialen Tod. In seinem Heimatort darf er sich bei Tag nicht mehr sehen lassen. Seinen früheren Mitinsassen geht es genauso. Auch sie treibt panische Angst, als ehemaliger Strafgefangener entdeckt zu werden, und dies verhindert wiederum jeden engeren Kontakt und steht der Wiedereingliederung in die Gesellschaft im Wege. Erschütternd aber auch, wie sehr eine Verurteilung in das Schicksal der Angehörigen eingreift, die Wohnort und Beruf wechseln müssen. So scheint es kein Wunder zu sein, daß Kikutani zu niemandem aus seiner Vergangenheit mehr Verbindung hat und auf Anraten seines Bewährungshelfers auch jede Wiederbegegnung meidet. Nach seinem Tod, so malt er sich aus, würde sein von den Behörden benachrichtigter Bruder heimlich anreisen, um seine Bestattung zu veranlassen, doch die letzte Ruhe im Familiengrab ist ihm verwehrt.
Sein Vergehen: Für die Tötung seiner Ehefrau im Affekt, die er beim Liebesakt in der eigenen Wohnung mit ihrem Liebhaber erwischte, und die anschließende Brandstiftung in dessen Haus, bei der die Mutter seines Rivalen ums Leben kam, wurde er zu "lebenslänglich" verurteilt. Reue kann er allerdings für diese Tat nicht fühlen, denn nach wie vor empfindet er sie als gerechtfertigt. So wenig er selbst je daran gedacht hatte, seine Frau zu hintergehen, so schwer fällt es ihm, ihren Treuebruch nachzuvollziehen. Allerdings haben die Jahre in der Haft Kikutani lethargisch werden lassen, und nun geht es für ihn nur noch darum, ein bescheidenes Leben ohne Erinnerung an das Vergangene zu führen. Doch dies will nicht gelingen.
Der Autor Akira Yoshimura, Jahrgang 1927, zeigt mit seinem zweiten in deutscher Sprache vorliegenden Roman, wie ein auf Bewährung Entlassener seine Würde doch nicht wiedererlangt, ja sie womöglich erst verliert, indem er bis an sein Lebensende bevormundet und kontrolliert werden soll, wie es das japanische Gesetz vorsieht. Das spezifisch japanische Verständnis von Reue als Voraussetzung für einen endgültigen Gnadenerlaß spielt hier eine wichtige, ja entscheidende Rolle. Und das Empfinden eines einzelnen, der wahrhaftig bleiben möchte, der aber auch keine Gelegenheit bekam, das Geschehene wirklich zu verarbeiten. Und so steuert die Geschichte in dem Maße, in dem Kikutanis Reintegration zu gelingen scheint, auf eine neuerliche Katastrophe zu. Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe bekommen hier ein eigenes Gesicht, das zu einem großen Teil von der japanischen Kultur gezeichnet ist.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT.
Akira Yoshimura: "Unauslöschlich". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Sabine Mangold. C. H. Beck Verlag, München 2002. 251 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Haftpflicht: Akira Yoshimuras Roman eines Bewährungsversuchs
Wer Tokio und Umgebung Anfang der siebziger Jahre kannte und gut anderthalb Jahrzehnte, in der Hochphase der später so genannten "Seifenblasenwirtschaft", wiederkam, der kann das Erstaunen des Romanhelden bei einer Zugfahrt vom Bahnhof Tokio in Richtung Flughafen nachempfinden: "Betonfassaden säumten die gesamte Strecke. Er stellte mit Erschrecken fest, daß die einstigen Felder, Wiesen und Wälder in weniger als zwanzig Jahren diesen Steinwüsten gewichen waren; flache Häuser gab es nur noch ganz vereinzelt." Als er den "Blick flußabwärts schweifen ließ, entfuhr ihm ein entsetzter Aufschrei: Zu beiden Seiten der Mündung, wo einst die Schilfinsel lag, befand sich jetzt ein breiter Streifen aufgeschüttetes Land mit einer Skyline von Hochhäusern, die sich bis in die Ferne zum Meer erstreckte. Mitten hindurch schlängelte sich eine Autobahn, auf der glitzernde Punkte hin und her flitzten. (. . .) Fassungslos betrachtete er diese Betonwüste - eine Schlafstadt für Pendler."
Kikutani, der Protagonist, ist nach knapp sechzehn Jahren auf Bewährung aus der Haft entlassen worden, und für ihn, der wie seine Mithäftlinge weder durch Zeitungslektüre noch durch Freigänge Gelegenheit hatte, den Wandel in der Umgebung nachzuvollziehen, beginnt eine beschwerliche Zeit der Gewöhnung an das Neue. Er kennt weder automatische Fahrkartenkontrollen im Bahnhof noch die neuen Geldscheine. Die versechsfachten Preise, das neue Stadtbild, die Schnellstraßen, ja selbst die Rolltreppen und die Aufzüge im Kaufhaus machen ihm angst. Glücklicherweise steht er für die ersten Wochen seines neuen Lebens unter der Obhut eines ehrenamtlichen Bewährungshelfers, der ihn behutsam, aber nachdrücklich in eine selbständige Existenz schiebt und ihm eine Anstellung auf einer ländlichen Hühnerfarm beschafft.
Das Gefängnis hat den ehemaligen Studienrat offenbar völlig in seiner Persönlichkeit verändert. Er ist ein gebrochener, abgestumpfter Mann. Kein Interesse mehr kann er am Geschehen um ihn herum aufbringen, keinerlei intellektueller Zugang bleibt ihm zu den Dingen. Er ist ganz darauf fixiert, mit dem Alltag fertig zu werden, der ihn noch für lange Zeit fast überwältigt. So muß er sich erst einmal das apathische Sitzen im zellengleich kleinen Zimmer seines Apartments abgewöhnen.
Das Buch läßt sich ganz auf seine beschränkte Perspektive ein und verzichtet folglich auf jegliches Reflektieren und Psychologisieren. Um so eindrucksvoller sind jedoch die Schilderungen des Gewöhnungsprozesses, auch wenn sie bisweilen zu breit ausfallen. Im Kino ist uns dies vor nicht langer Zeit mit dem in Cannes 1997 preisgekrönten Film "Unagi" (Der Aal) von Regisseur Imamura Shôhei vorgeführt worden, der von dem vorliegenden Roman offenbar stark inspiriert wurde. Man denke etwa an die zunächst befremdend wirkende Szene, als der Held auf der Straße durch seinen hampelmannartigen Stechschritt auffällt, den er in langen Gefängnisjahren eingebleut bekam. Wer nicht weiß, daß dies ebenso wie der Blick zum Boden und das Nicht-Reden, außer zum Aufsichtspersonal natürlich, zu den elementaren Verhaltensregeln von Gefangenen in Japan gehört, kann mit den eher komisch oder unverständlich wirkenden Szenen mit wortkargen, den Blick meidenden und im Gänsemarsch einherstolzierenden Exhälftlingen wenig anfangen.
Das größte Problem für einen entlassenen Strafgefangenen ist es jedoch, seine Vergangenheit vor allen Mitmenschen auf Dauer geheimzuhalten. Verurteilung bedeutet sozialen Tod. In seinem Heimatort darf er sich bei Tag nicht mehr sehen lassen. Seinen früheren Mitinsassen geht es genauso. Auch sie treibt panische Angst, als ehemaliger Strafgefangener entdeckt zu werden, und dies verhindert wiederum jeden engeren Kontakt und steht der Wiedereingliederung in die Gesellschaft im Wege. Erschütternd aber auch, wie sehr eine Verurteilung in das Schicksal der Angehörigen eingreift, die Wohnort und Beruf wechseln müssen. So scheint es kein Wunder zu sein, daß Kikutani zu niemandem aus seiner Vergangenheit mehr Verbindung hat und auf Anraten seines Bewährungshelfers auch jede Wiederbegegnung meidet. Nach seinem Tod, so malt er sich aus, würde sein von den Behörden benachrichtigter Bruder heimlich anreisen, um seine Bestattung zu veranlassen, doch die letzte Ruhe im Familiengrab ist ihm verwehrt.
Sein Vergehen: Für die Tötung seiner Ehefrau im Affekt, die er beim Liebesakt in der eigenen Wohnung mit ihrem Liebhaber erwischte, und die anschließende Brandstiftung in dessen Haus, bei der die Mutter seines Rivalen ums Leben kam, wurde er zu "lebenslänglich" verurteilt. Reue kann er allerdings für diese Tat nicht fühlen, denn nach wie vor empfindet er sie als gerechtfertigt. So wenig er selbst je daran gedacht hatte, seine Frau zu hintergehen, so schwer fällt es ihm, ihren Treuebruch nachzuvollziehen. Allerdings haben die Jahre in der Haft Kikutani lethargisch werden lassen, und nun geht es für ihn nur noch darum, ein bescheidenes Leben ohne Erinnerung an das Vergangene zu führen. Doch dies will nicht gelingen.
Der Autor Akira Yoshimura, Jahrgang 1927, zeigt mit seinem zweiten in deutscher Sprache vorliegenden Roman, wie ein auf Bewährung Entlassener seine Würde doch nicht wiedererlangt, ja sie womöglich erst verliert, indem er bis an sein Lebensende bevormundet und kontrolliert werden soll, wie es das japanische Gesetz vorsieht. Das spezifisch japanische Verständnis von Reue als Voraussetzung für einen endgültigen Gnadenerlaß spielt hier eine wichtige, ja entscheidende Rolle. Und das Empfinden eines einzelnen, der wahrhaftig bleiben möchte, der aber auch keine Gelegenheit bekam, das Geschehene wirklich zu verarbeiten. Und so steuert die Geschichte in dem Maße, in dem Kikutanis Reintegration zu gelingen scheint, auf eine neuerliche Katastrophe zu. Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe bekommen hier ein eigenes Gesicht, das zu einem großen Teil von der japanischen Kultur gezeichnet ist.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT.
Akira Yoshimura: "Unauslöschlich". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Sabine Mangold. C. H. Beck Verlag, München 2002. 251 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.06.2002Im Sprühnebel des Insektenvertilgungsmittels
Akira Yoshimura hält Gericht über die Gerichtsbarkeit
Das Leben im Hühnerstall und das der Menschen bildet der Japaner Akira Yoshimura parallel ab und ohne Komik. Nicht Gackern des Klatsches oder brustgeschwellte Kämpfe um weibliche Wesen, keine Scherze begründenden Gleichnisse nimmt der erfahrene Schriftsteller (Jahrgang 1927) auf. Sondern er lässt den Gymnasiallehrer Shirô Kikutani nach fast sechzehn Jahren Gefängnis in einer Eierfabrik arbeiten.
Yoshimura verbirgt das große Erzählergeschick hinter einer einfachen poetischen Sprache, wie sie asiatischer Literatur oft eigen ist. Der Fünfzigjährige bereitet sich auf die Entlassung vor. Draußen sieht er zum ersten Mal die Autobahn, Fahrkartenautomaten, Quarzuhren und das Jogging. Es wirkt ulkig, wie Kikutani und ein zweiter Entlassener hintereinander und im Stechschritt dem Bewährungshelfer folgen, sie müssen sich nach dem Gefängnisdrill wieder an ruhiges Gehen gewöhnen. Auch an Geräusche und Gerüche und den Anblick von Frauen. Sie müssen die Angst vor Rolltreppen überwinden.
Nach und nach entdeckt der Leser, wie überlegt, dicht und genau die Ideen des Erzählers und die Handlung verflochten sind. Yoshimura beschreibt die ersten Schritte des Entlassenen in die Freiheit, die sich für Kikutani als Falle darstellt. Im Gefängnis war es ruhiger. Der für Jahre in seiner Zelle allein lebende Gefangene erinnert sich noch nach Jahren an eine Fliege: den ersten fremden Besuch in seiner Zelle. Er stutzte ihr die Flügel und band sie an einen Faden.
Ein Grab hinterm Stall
Nicht nur Yoshimuras Beobachtungen im Kleinen sind meisterhaft, er stellt mit leisem Nachdruck ein ganzes System in Frage: das des Strafens. Die Bewährung für Kikutani dauert lebenslänglich im Wortsinne. Er hat Glück gehabt, nicht zum Tode verurteilt und außerdem noch vorzeitig entlassen worden zu sein. Kikutani hat getötet: seine Frau und durch die Brandstiftung des Hauses ihres Geliebten auch dessen Mutter. Affekt und sichtbare Reue begründeten ein Absehen vom Todesurteil. Jetzt gilt es, die Resozialisierung zu bewältigen und der Gesellschaft noch zu nützen.
Wenn eines der 160 000 Hühner ein paar Tage schwächelt, wird es aus dem Käfig genommen, bekommt den Hals umgedreht und ein Grab hinterm Stall.
Die Menschen bemühen sich sehr um die Wiedereingliederung ihrer Artgenossen. Ein Sozialarbeiter und ein ehrenamtlicher weiser Helfer unterstützen Kikutani in seinem Bewährungsversuch.
Es kommt zu einer Eierkrise durch Überproduktion. Millionen Eier werden eingelagert, große Firmen gehen trotzdem pleite. Kikutanis Chef übersteht die Krise. Er lässt Tiere töten, um die Produktion zu drosseln. Yoshimura enthält sich der Meinung sowohl über Strafen wie auch über die Eierfabrik, vor deren Tor ein schöner Tag nicht halt macht und „im Sprühnebel des Insektenvertilgungsmittels kleine Regenbogen schillern”. Der weise Bewährungshelfer vermittelt Kikutani eine Frau, nachdem dieser wieder zu einem normalen Leben zurückgefunden hat und daheim Fische hält. Dabei wissen die Helfer, dass er Briefe mit einem früheren Mitgefangenen wechselt. Die beiden teilen das Geheimnis, getötet zu haben. So normal kann das Leben also nicht sein. Zu den Bewährungsauflagen gehört, dass Kikutani einen Antrag stellen muss, wenn er Tokio einmal verlassen will. Die neue Ehefrau fühlt sich mitgedemütigt und mitbehindert und drängt ihn, Begnadigung anzustreben. Ihm wird rot vor Augen wie damals, als er seine erste Frau beim Ehebruch erwischte.
Kikutani hat es nicht ertragen, dass sie sich an einer Reue beteiligen wollte, die er selbst nicht mehr aufzubringen vermag. Yoshimura zeigt die Wirkung von Gefängnis: Wenn es trostlose Gewohnheit wird und endlos scheint, dann wandelt sich guter Vorsatz, endet Reue, kehrt sich Sühne in Angst und Verbitterung.
In Deutschland werden achtzig von hundert Gefangenen nach der Entlassung rückfällig. Yoshimuras Roman zeigt, wie hilflos wir trotz unserer faktischen und eingebildeten Modernität dem Verbrechen gegenüberstehen.
Internationale Politik wendet sich vom Strafen ab, weil wir erfahren, dass Strafen kaum befrieden. Ultimaten wirken nur begrenzt. Zu starke Einengung führt zu Widerstand. Aber wenn es um den einzelnen Menschen geht, gibt die Gesellschaft einem von Rachegefühlen bestimmten Regelwerk den Vorzug, das wir Strafgesetzbuch nennen und dessen Aufgabe darin besteht, Vergeltung zu üben. Bewertet man dies Gesetz nach seiner Effektivität, bleibt festzustellen, dass es das Verbrechen an den Tropf nimmt. Durch eine unvollendete Vernichtung von Leben, nämlich das Zeittotschlagen in langen Gefängnisstrafen von mehr als drei Jahren, durch die Wegnahme neuer Chancen und durch die dauernde Stigmatisierung nach der Entlassung wird der Charakter der Gefangenen verdorben. Nur ganz starken Menschen gelingt es, sich wieder in die Gesellschaft einzufügen, der sie aber für immer mit einem starken Misstrauen und Furcht vor neuerlicher Demütigung gegenüberstehen. So werden Vergeltungswünsche gestillt, aber die Gesellschaft findet weder Erklärung noch Trost, noch Schutz.
Akira Yoshimura deckt nicht nur die Psychologie eines Mörders auf, er hält Gericht über die Gerichtsbarkeit. Wenn man sich aus guten Gründen davon abwendet, den Menschen die Hälse umzudrehen wie den Hühnern, sobald sie schwächeln, muss man sich der Mühe unterziehen, dieses gerettete Leben letztlich doch lebenswert zu machen, eben in sehr vielen Fällen ganz ohne Gefängnis, in anderen mit kurzen Strafzeiten und in den wenigen hoffnungslosen mit lebenswerten Gefängnissen etwa in Form von gut ausgestatten Siedlungen. Andernfalls gilt der Vorwurf der Unmenschlichkeit weiter.
MARTIN Z.
SCHRÖDER
AKIRA YOSHIMURA: Unauslöschlich. Roman. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Verlag C. H. Beck, München 2002. 256 Seiten. 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Akira Yoshimura hält Gericht über die Gerichtsbarkeit
Das Leben im Hühnerstall und das der Menschen bildet der Japaner Akira Yoshimura parallel ab und ohne Komik. Nicht Gackern des Klatsches oder brustgeschwellte Kämpfe um weibliche Wesen, keine Scherze begründenden Gleichnisse nimmt der erfahrene Schriftsteller (Jahrgang 1927) auf. Sondern er lässt den Gymnasiallehrer Shirô Kikutani nach fast sechzehn Jahren Gefängnis in einer Eierfabrik arbeiten.
Yoshimura verbirgt das große Erzählergeschick hinter einer einfachen poetischen Sprache, wie sie asiatischer Literatur oft eigen ist. Der Fünfzigjährige bereitet sich auf die Entlassung vor. Draußen sieht er zum ersten Mal die Autobahn, Fahrkartenautomaten, Quarzuhren und das Jogging. Es wirkt ulkig, wie Kikutani und ein zweiter Entlassener hintereinander und im Stechschritt dem Bewährungshelfer folgen, sie müssen sich nach dem Gefängnisdrill wieder an ruhiges Gehen gewöhnen. Auch an Geräusche und Gerüche und den Anblick von Frauen. Sie müssen die Angst vor Rolltreppen überwinden.
Nach und nach entdeckt der Leser, wie überlegt, dicht und genau die Ideen des Erzählers und die Handlung verflochten sind. Yoshimura beschreibt die ersten Schritte des Entlassenen in die Freiheit, die sich für Kikutani als Falle darstellt. Im Gefängnis war es ruhiger. Der für Jahre in seiner Zelle allein lebende Gefangene erinnert sich noch nach Jahren an eine Fliege: den ersten fremden Besuch in seiner Zelle. Er stutzte ihr die Flügel und band sie an einen Faden.
Ein Grab hinterm Stall
Nicht nur Yoshimuras Beobachtungen im Kleinen sind meisterhaft, er stellt mit leisem Nachdruck ein ganzes System in Frage: das des Strafens. Die Bewährung für Kikutani dauert lebenslänglich im Wortsinne. Er hat Glück gehabt, nicht zum Tode verurteilt und außerdem noch vorzeitig entlassen worden zu sein. Kikutani hat getötet: seine Frau und durch die Brandstiftung des Hauses ihres Geliebten auch dessen Mutter. Affekt und sichtbare Reue begründeten ein Absehen vom Todesurteil. Jetzt gilt es, die Resozialisierung zu bewältigen und der Gesellschaft noch zu nützen.
Wenn eines der 160 000 Hühner ein paar Tage schwächelt, wird es aus dem Käfig genommen, bekommt den Hals umgedreht und ein Grab hinterm Stall.
Die Menschen bemühen sich sehr um die Wiedereingliederung ihrer Artgenossen. Ein Sozialarbeiter und ein ehrenamtlicher weiser Helfer unterstützen Kikutani in seinem Bewährungsversuch.
Es kommt zu einer Eierkrise durch Überproduktion. Millionen Eier werden eingelagert, große Firmen gehen trotzdem pleite. Kikutanis Chef übersteht die Krise. Er lässt Tiere töten, um die Produktion zu drosseln. Yoshimura enthält sich der Meinung sowohl über Strafen wie auch über die Eierfabrik, vor deren Tor ein schöner Tag nicht halt macht und „im Sprühnebel des Insektenvertilgungsmittels kleine Regenbogen schillern”. Der weise Bewährungshelfer vermittelt Kikutani eine Frau, nachdem dieser wieder zu einem normalen Leben zurückgefunden hat und daheim Fische hält. Dabei wissen die Helfer, dass er Briefe mit einem früheren Mitgefangenen wechselt. Die beiden teilen das Geheimnis, getötet zu haben. So normal kann das Leben also nicht sein. Zu den Bewährungsauflagen gehört, dass Kikutani einen Antrag stellen muss, wenn er Tokio einmal verlassen will. Die neue Ehefrau fühlt sich mitgedemütigt und mitbehindert und drängt ihn, Begnadigung anzustreben. Ihm wird rot vor Augen wie damals, als er seine erste Frau beim Ehebruch erwischte.
Kikutani hat es nicht ertragen, dass sie sich an einer Reue beteiligen wollte, die er selbst nicht mehr aufzubringen vermag. Yoshimura zeigt die Wirkung von Gefängnis: Wenn es trostlose Gewohnheit wird und endlos scheint, dann wandelt sich guter Vorsatz, endet Reue, kehrt sich Sühne in Angst und Verbitterung.
In Deutschland werden achtzig von hundert Gefangenen nach der Entlassung rückfällig. Yoshimuras Roman zeigt, wie hilflos wir trotz unserer faktischen und eingebildeten Modernität dem Verbrechen gegenüberstehen.
Internationale Politik wendet sich vom Strafen ab, weil wir erfahren, dass Strafen kaum befrieden. Ultimaten wirken nur begrenzt. Zu starke Einengung führt zu Widerstand. Aber wenn es um den einzelnen Menschen geht, gibt die Gesellschaft einem von Rachegefühlen bestimmten Regelwerk den Vorzug, das wir Strafgesetzbuch nennen und dessen Aufgabe darin besteht, Vergeltung zu üben. Bewertet man dies Gesetz nach seiner Effektivität, bleibt festzustellen, dass es das Verbrechen an den Tropf nimmt. Durch eine unvollendete Vernichtung von Leben, nämlich das Zeittotschlagen in langen Gefängnisstrafen von mehr als drei Jahren, durch die Wegnahme neuer Chancen und durch die dauernde Stigmatisierung nach der Entlassung wird der Charakter der Gefangenen verdorben. Nur ganz starken Menschen gelingt es, sich wieder in die Gesellschaft einzufügen, der sie aber für immer mit einem starken Misstrauen und Furcht vor neuerlicher Demütigung gegenüberstehen. So werden Vergeltungswünsche gestillt, aber die Gesellschaft findet weder Erklärung noch Trost, noch Schutz.
Akira Yoshimura deckt nicht nur die Psychologie eines Mörders auf, er hält Gericht über die Gerichtsbarkeit. Wenn man sich aus guten Gründen davon abwendet, den Menschen die Hälse umzudrehen wie den Hühnern, sobald sie schwächeln, muss man sich der Mühe unterziehen, dieses gerettete Leben letztlich doch lebenswert zu machen, eben in sehr vielen Fällen ganz ohne Gefängnis, in anderen mit kurzen Strafzeiten und in den wenigen hoffnungslosen mit lebenswerten Gefängnissen etwa in Form von gut ausgestatten Siedlungen. Andernfalls gilt der Vorwurf der Unmenschlichkeit weiter.
MARTIN Z.
SCHRÖDER
AKIRA YOSHIMURA: Unauslöschlich. Roman. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Verlag C. H. Beck, München 2002. 256 Seiten. 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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