WARUM MODERNE GESELLSCHAFTEN MIT DER KRISENBEWÄLTIGUNG ÜBERFORDERT SIND
Der Ruf nach mehr Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt entspringt unserem sehnlichsten Wunsch, aus einem Guss und womöglich kollektiv handeln zu können. Aber die moderne Gesellschaf t kennt keinen Ort, an dem ihre unterschiedlichen Funktionslogiken nachhaltig aufeinander abgestimmt werden können. In Krisen wird diese systematische Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst besonders deutlich. Armin Nassehi zeigt, warum der Versuch einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel in komplexen Gegenwartsgsellschaften zwangsläufig scheitern muss. Aus dieser notorischen Enttäuschung resultiert ein Unbehagen, das den Blick auf die Gesellschaft von ihrer grundlegenden Selbstüberforderung ablenkt.
Moderne Gesellschaften folgen einerseits stabilen Mustern, sind träge und kaum aus der Ruhe zu bringen. Andererseits erweisen sich ihre Institutionen und Prak- tiken immer wiederals erstaunlich fragil und vulnerabel. In Situationen, die wir Krisen nennen, prallen diese beiden widersprüchlichen Seiten der gesellschaftlichen Moderne besonders heftig aufeinander. Schon die Semantik der Krise suggeriert aber, dass es so etwas wie einen wohlgeordneten Status geben könnte, der sowohl modern als auch nicht-krisenhaft wäre. Doch dieser Vorstellung läuft bereits die innere Differenziertheit der Gesellschaft in ökonomische, politische, wissenschaftliche, rechtliche und familiale Logiken zuwider. Armin Nassehi vertritt in seinem Buch dagegen die These, dass komplexe Gesellschaften sich fortlaufend selbst als krisenhaft erleben, ohne je in eine Form prästabilierter Harmonie zurückzukehren. Er zeigt, wie sowohl die sozialwissenschaftliche Literatur als auch die öffentlichen Debatten der Gegenwart den Blick auf diesen Zusammenhang verstellen, indem sie Gesellschaft ausschließlich in der Sozialdimension, d. h. in illusionären Kollektivbegriffen beschreiben. Demgegenüber stellt Nassehi die Sachdimension gesellschaftlicher Strukturen ins Zentrum seiner theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse. Dadurch gelingt ihm ein kontruktiver Blick auf eine überforderte Gesellschaft, die in ihrem Unbehagen ihre eigene Problemlösungskompetenz zu vergessen droht. Er deutet zugleich an, was man aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen kann, um uns für künftige Krisensituationen besser zu rüsten - ohne übersteigerte Erwartungen zu wecken.
Armin Nassehi über die überforderte Gesellschaft Warum unsere Gesellschaft nicht aus einem Guss regiert werden kann Das Unbehagen an der Gesellschaft - Armin Nassehis neue Theorie
Der Ruf nach mehr Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt entspringt unserem sehnlichsten Wunsch, aus einem Guss und womöglich kollektiv handeln zu können. Aber die moderne Gesellschaf t kennt keinen Ort, an dem ihre unterschiedlichen Funktionslogiken nachhaltig aufeinander abgestimmt werden können. In Krisen wird diese systematische Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst besonders deutlich. Armin Nassehi zeigt, warum der Versuch einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel in komplexen Gegenwartsgsellschaften zwangsläufig scheitern muss. Aus dieser notorischen Enttäuschung resultiert ein Unbehagen, das den Blick auf die Gesellschaft von ihrer grundlegenden Selbstüberforderung ablenkt.
Moderne Gesellschaften folgen einerseits stabilen Mustern, sind träge und kaum aus der Ruhe zu bringen. Andererseits erweisen sich ihre Institutionen und Prak- tiken immer wiederals erstaunlich fragil und vulnerabel. In Situationen, die wir Krisen nennen, prallen diese beiden widersprüchlichen Seiten der gesellschaftlichen Moderne besonders heftig aufeinander. Schon die Semantik der Krise suggeriert aber, dass es so etwas wie einen wohlgeordneten Status geben könnte, der sowohl modern als auch nicht-krisenhaft wäre. Doch dieser Vorstellung läuft bereits die innere Differenziertheit der Gesellschaft in ökonomische, politische, wissenschaftliche, rechtliche und familiale Logiken zuwider. Armin Nassehi vertritt in seinem Buch dagegen die These, dass komplexe Gesellschaften sich fortlaufend selbst als krisenhaft erleben, ohne je in eine Form prästabilierter Harmonie zurückzukehren. Er zeigt, wie sowohl die sozialwissenschaftliche Literatur als auch die öffentlichen Debatten der Gegenwart den Blick auf diesen Zusammenhang verstellen, indem sie Gesellschaft ausschließlich in der Sozialdimension, d. h. in illusionären Kollektivbegriffen beschreiben. Demgegenüber stellt Nassehi die Sachdimension gesellschaftlicher Strukturen ins Zentrum seiner theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse. Dadurch gelingt ihm ein kontruktiver Blick auf eine überforderte Gesellschaft, die in ihrem Unbehagen ihre eigene Problemlösungskompetenz zu vergessen droht. Er deutet zugleich an, was man aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen kann, um uns für künftige Krisensituationen besser zu rüsten - ohne übersteigerte Erwartungen zu wecken.
Armin Nassehi über die überforderte Gesellschaft Warum unsere Gesellschaft nicht aus einem Guss regiert werden kann Das Unbehagen an der Gesellschaft - Armin Nassehis neue Theorie
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ganz klar wird Rezensent Jens Bisky nicht, was Armin Nassehi mit seinem neuen Buch bezweckt. Anders als das Buch "Muster", das 2019 einschlug und sich mit der Digitalisierung befasste, hat "Unbehagen" für ihn ein Formproblem, das es schwierig zu lesen mache. So viel lernt Bisky immerhin, dass laut Nassehi die Gesellschaft selbst die Krise ist und diese Krise zugleich die andere Seite der Chancen, die die Moderne biete. Nassehi teile bloß den "Steuerungspessimimus" Niklas Luhmans: Im Großen kann Gesellschaft nichts verändern, aber vieles im kleinen, auch wenn dabei zwischen verschiedenen Sphären Widersprüche entstehen. Das Buch verspricht keine Therapie für das "Unbehagen", das es diagnostiziert, wenn man Bisky glaubt, aber es taugt als " Schulung in Gegenwartsbeobachtung" für den Rezensenten, der das Misstrauen gegen große Lösungsansätze teilt, wie sie der chinesische Philosoph Zhao Tinyang fordert, mit dem sich Nassehi kritisch auseinandersetzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2021Apologetik der Raute
Armin Nassehi verteidigt die überforderte Gesellschaft gegen überzogene Ansprüche
Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass ein Problem von allen Beteiligten in irgendeiner Weise als existenziell und vordringlich erlebt wird. Für eine Lösung können deshalb ansonsten unverhandelbare Regeln außer Kraft gesetzt und üblicherweise unerlaubte Mittel eingesetzt werden. Im Ausnahmecharakter einer Krise steckt damit schon ein Keim der Hoffnung auf ihre Lösung. So darf man in medizinischen Notfällen auf Rettungskräfte hoffen, die nicht an jeder roten Ampel halten müssen. Bei großen gesellschaftlichen Krisen wie der Klimakrise oder der Covid-19-Pandemie scheint dies anders zu sein. Obwohl die Bedrohungen existenziell sind und obwohl es weder an breiter Unterstützung noch an Vorschlägen mangelt, lässt die Rettung auf sich warten. Unbehagen macht sich breit.
"Unbehagen" heißt daher auch das neue Buch des Münchner Soziologen Armin Nassehi. Es handelt jedoch nicht vom menschlichen Unbehagen im Angesicht gesellschaftlicher Krisen. Wie sich dieses Unbehagen artikuliert, ob es sich um ein Gefühl, eine Atmosphäre oder gar um eine bestimmte Form der Kommunikation handelt, bleibt unbestimmt. Was auch immer es sein mag: Das Unbehagen bildet nicht den Gegenstand, sondern nur den Anlass für eine soziologische Analyse, die der Frage nachgeht, an welchen sozialen Strukturen die Lösung gesamtgesellschaftlicher Krisen scheitert.
Die Strukturen der Gegenwartsgesellschaft hätten sich, so Nassehi in Anlehnung an die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann, seit Anbeginn der Moderne als relativ stabil erwiesen: Man fand und findet immer noch allgemeinen Rückhalt für die Erwartung, dass in der Wirtschaft Preise auf Märkten gebildet und mit Geld bezahlt werden, dass die Politik kollektiv bindende Entscheidungen in einem Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition herstellt oder dass die Wissenschaft zu Erkenntnissen gelangt. Solche gesellschaftlichen "Funktionssysteme", zu denen auch die Kunst, das Erziehungswesen, die medizinische Krankenversorgung und andere mehr gehören, hätten dank ihrer Spezialisierung zwar Erfolge erzielt, seien aber aufgrund der Fixierung auf ihre eigenen Regeln und Logiken nicht mehr zu einer zentral steuerbaren gesellschaftlichen Einheit integrierbar.
Funktionssysteme seien insofern unfähig, Lösungen "aus einem Guss" für gesamtgesellschaftliche Problemlagen in Gestalt der Klimakrise oder der Covid-19-Pandemie anzubieten. Die Ausrichtung wissenschaftlicher Erkenntnisse, politischer Machtkalküle, wirtschaftlicher Profitinteressen und rechtlicher Konditionierungen auf ein gemeinsames Ziel widerspreche der Struktur der modernen Gesellschaft. Nur den Krieg lässt Nassehi als Ausnahme gelten. Die Rufe nach einem kollektiven Vorgehen würden meist auf überzogenen Erwartungen beruhen, gesellschaftliche Komplexität unterschätzen und sich an "die Gesellschaft" richten, die als Einheit gar nicht existiere, sondern stets in viele widersprüchliche Perspektiven zerfalle. Die Gesellschaft überfordere sich selbst, indem sie unerfüllbare Ansprüche generiere, und eben dies sei die Wurzel des Unbehagens in und an der Gesellschaft.
Die Diagnose Nassehis läuft also auf eine Verifikation der Gesellschaftstheorie Luhmanns hinaus. Bereits in einem 1983 erschienenen Artikel, der aktueller nicht sein könnte, diagnostizierte Luhmann eine "Anspruchsinflation im Krankheitssystem". Am Beispiel medizinischer Krankenversorgung argumentierte er, dass Funktionssysteme für ihre gesellschaftliche Funktion ein Monopol verwalten und deshalb an sie gerichtete Ansprüche nicht ohne Weiteres abweisen könnten, obwohl deren Erfüllung oft an der Differenzierung der Funktionssysteme scheitere. Dennoch fand er selbst für überzogene Ansprüche noch eine positive soziale Funktion: Individuen gewönnen durch enttäuschte Ansprüche an die Gesellschaft Möglichkeiten der Selbstidentifikation und des Persönlichkeitsaufbaus, die zugleich als Antriebsmotoren der Funktionssysteme dienen würden.
Demgegenüber ist Nassehi eher daran interessiert, die überforderte Gesellschaft selbst gegen vermeintlich überzogene Ansprüche zu verteidigen - mit Argumenten, die man in weniger anspruchsvoller Terminologie auch von der Politik zu hören bekommt: Die Probleme sind komplex, weil wissenschaftliche, politische, ökonomische, erzieherische oder rechtliche Logiken einander widersprechen. Man könnte einwenden, dass Komplexität hier nur als Ausrede für ausbleibende Reformen dient. Dieser Einwand sei aber, so Nassehi, wiederum nur eine Ausrede dafür, dass radikale Forderungen auch keine Lösungen für komplexe Probleme seien. So steht Ausrede gegen Ausrede.
Die Alternative zum "Durchregieren", die Nassehi andeutet, dürfte indes vielen vertraut, wenn nicht sogar behaglich erscheinen: Nicht der große Wurf, nicht die Revolution seien der Komplexität der Gesellschaft angemessen, sondern eine Strategie, die Nassehi im Anschluss an die liberale amerikanische Ökonomin Deirdre N. McCloskey "trade-tested betterment" nennt. Damit ist ein ergebnisoffenes Austesten von kleinteiligen, falliblen Lösungen gemeint, die bei Misserfolg rückgängig gemacht und im Bewährungsfall beibehalten werden. Kurzum: "Raute" statt "Basta". Worin sich dies vom Status quo unterscheiden soll, erschließt sich bei der Lektüre nicht.
Interessant ist aber die Rechtfertigung des "trade-tested betterment", die Nassehi nicht normativ, sondern empirisch verstanden wissen will: Die Struktur der modernen Gesellschaft selbst erzwinge Ergebnisoffenheit und lege damit von sich aus ein liberales Modell nahe, das die Funktionssysteme im inkrementellen Prozess des Trial-and-Error vor sich hin experimentieren lässt. Die These einer erzwungenen Ergebnisoffenheit der Gesellschaft ist paradox, da die Ergebnisoffenheit selbst offenbar nicht ergebnisoffen, sondern erzwungen ist. Die These ist auch witzig, weil sie im Kontext einer Theorie formuliert wird, die sich bislang herkömmlichen Ansprüchen an Falsifizierbarkeit und Ergebnisoffenheit entzieht. Was jedoch die Hauptthese des Buches betrifft, verifiziert dieses an sich selbst, was es über seinen Gegenstand sagt: Mit der Komplexität steigen zugleich Ansprüche und Enttäuschungsrisiken. Aber sind selbst überzogene Ansprüche deshalb sinnlos? RAMY YOUSSEF
Armin Nassehi: "Unbehagen". Theorie der überforderten Gesellschaft.
C. H. Beck Verlag, München 2021. 384 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Armin Nassehi verteidigt die überforderte Gesellschaft gegen überzogene Ansprüche
Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass ein Problem von allen Beteiligten in irgendeiner Weise als existenziell und vordringlich erlebt wird. Für eine Lösung können deshalb ansonsten unverhandelbare Regeln außer Kraft gesetzt und üblicherweise unerlaubte Mittel eingesetzt werden. Im Ausnahmecharakter einer Krise steckt damit schon ein Keim der Hoffnung auf ihre Lösung. So darf man in medizinischen Notfällen auf Rettungskräfte hoffen, die nicht an jeder roten Ampel halten müssen. Bei großen gesellschaftlichen Krisen wie der Klimakrise oder der Covid-19-Pandemie scheint dies anders zu sein. Obwohl die Bedrohungen existenziell sind und obwohl es weder an breiter Unterstützung noch an Vorschlägen mangelt, lässt die Rettung auf sich warten. Unbehagen macht sich breit.
"Unbehagen" heißt daher auch das neue Buch des Münchner Soziologen Armin Nassehi. Es handelt jedoch nicht vom menschlichen Unbehagen im Angesicht gesellschaftlicher Krisen. Wie sich dieses Unbehagen artikuliert, ob es sich um ein Gefühl, eine Atmosphäre oder gar um eine bestimmte Form der Kommunikation handelt, bleibt unbestimmt. Was auch immer es sein mag: Das Unbehagen bildet nicht den Gegenstand, sondern nur den Anlass für eine soziologische Analyse, die der Frage nachgeht, an welchen sozialen Strukturen die Lösung gesamtgesellschaftlicher Krisen scheitert.
Die Strukturen der Gegenwartsgesellschaft hätten sich, so Nassehi in Anlehnung an die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann, seit Anbeginn der Moderne als relativ stabil erwiesen: Man fand und findet immer noch allgemeinen Rückhalt für die Erwartung, dass in der Wirtschaft Preise auf Märkten gebildet und mit Geld bezahlt werden, dass die Politik kollektiv bindende Entscheidungen in einem Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition herstellt oder dass die Wissenschaft zu Erkenntnissen gelangt. Solche gesellschaftlichen "Funktionssysteme", zu denen auch die Kunst, das Erziehungswesen, die medizinische Krankenversorgung und andere mehr gehören, hätten dank ihrer Spezialisierung zwar Erfolge erzielt, seien aber aufgrund der Fixierung auf ihre eigenen Regeln und Logiken nicht mehr zu einer zentral steuerbaren gesellschaftlichen Einheit integrierbar.
Funktionssysteme seien insofern unfähig, Lösungen "aus einem Guss" für gesamtgesellschaftliche Problemlagen in Gestalt der Klimakrise oder der Covid-19-Pandemie anzubieten. Die Ausrichtung wissenschaftlicher Erkenntnisse, politischer Machtkalküle, wirtschaftlicher Profitinteressen und rechtlicher Konditionierungen auf ein gemeinsames Ziel widerspreche der Struktur der modernen Gesellschaft. Nur den Krieg lässt Nassehi als Ausnahme gelten. Die Rufe nach einem kollektiven Vorgehen würden meist auf überzogenen Erwartungen beruhen, gesellschaftliche Komplexität unterschätzen und sich an "die Gesellschaft" richten, die als Einheit gar nicht existiere, sondern stets in viele widersprüchliche Perspektiven zerfalle. Die Gesellschaft überfordere sich selbst, indem sie unerfüllbare Ansprüche generiere, und eben dies sei die Wurzel des Unbehagens in und an der Gesellschaft.
Die Diagnose Nassehis läuft also auf eine Verifikation der Gesellschaftstheorie Luhmanns hinaus. Bereits in einem 1983 erschienenen Artikel, der aktueller nicht sein könnte, diagnostizierte Luhmann eine "Anspruchsinflation im Krankheitssystem". Am Beispiel medizinischer Krankenversorgung argumentierte er, dass Funktionssysteme für ihre gesellschaftliche Funktion ein Monopol verwalten und deshalb an sie gerichtete Ansprüche nicht ohne Weiteres abweisen könnten, obwohl deren Erfüllung oft an der Differenzierung der Funktionssysteme scheitere. Dennoch fand er selbst für überzogene Ansprüche noch eine positive soziale Funktion: Individuen gewönnen durch enttäuschte Ansprüche an die Gesellschaft Möglichkeiten der Selbstidentifikation und des Persönlichkeitsaufbaus, die zugleich als Antriebsmotoren der Funktionssysteme dienen würden.
Demgegenüber ist Nassehi eher daran interessiert, die überforderte Gesellschaft selbst gegen vermeintlich überzogene Ansprüche zu verteidigen - mit Argumenten, die man in weniger anspruchsvoller Terminologie auch von der Politik zu hören bekommt: Die Probleme sind komplex, weil wissenschaftliche, politische, ökonomische, erzieherische oder rechtliche Logiken einander widersprechen. Man könnte einwenden, dass Komplexität hier nur als Ausrede für ausbleibende Reformen dient. Dieser Einwand sei aber, so Nassehi, wiederum nur eine Ausrede dafür, dass radikale Forderungen auch keine Lösungen für komplexe Probleme seien. So steht Ausrede gegen Ausrede.
Die Alternative zum "Durchregieren", die Nassehi andeutet, dürfte indes vielen vertraut, wenn nicht sogar behaglich erscheinen: Nicht der große Wurf, nicht die Revolution seien der Komplexität der Gesellschaft angemessen, sondern eine Strategie, die Nassehi im Anschluss an die liberale amerikanische Ökonomin Deirdre N. McCloskey "trade-tested betterment" nennt. Damit ist ein ergebnisoffenes Austesten von kleinteiligen, falliblen Lösungen gemeint, die bei Misserfolg rückgängig gemacht und im Bewährungsfall beibehalten werden. Kurzum: "Raute" statt "Basta". Worin sich dies vom Status quo unterscheiden soll, erschließt sich bei der Lektüre nicht.
Interessant ist aber die Rechtfertigung des "trade-tested betterment", die Nassehi nicht normativ, sondern empirisch verstanden wissen will: Die Struktur der modernen Gesellschaft selbst erzwinge Ergebnisoffenheit und lege damit von sich aus ein liberales Modell nahe, das die Funktionssysteme im inkrementellen Prozess des Trial-and-Error vor sich hin experimentieren lässt. Die These einer erzwungenen Ergebnisoffenheit der Gesellschaft ist paradox, da die Ergebnisoffenheit selbst offenbar nicht ergebnisoffen, sondern erzwungen ist. Die These ist auch witzig, weil sie im Kontext einer Theorie formuliert wird, die sich bislang herkömmlichen Ansprüchen an Falsifizierbarkeit und Ergebnisoffenheit entzieht. Was jedoch die Hauptthese des Buches betrifft, verifiziert dieses an sich selbst, was es über seinen Gegenstand sagt: Mit der Komplexität steigen zugleich Ansprüche und Enttäuschungsrisiken. Aber sind selbst überzogene Ansprüche deshalb sinnlos? RAMY YOUSSEF
Armin Nassehi: "Unbehagen". Theorie der überforderten Gesellschaft.
C. H. Beck Verlag, München 2021. 384 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das Buch zur Stunde"
ZDF Blaues Sofa, Thorsten Jantschek (Deutschlandfunk Kultur)
"Das ungemein spannende, sehr informative und mit vielen anschaulichen Beispielen aus unterschiedlichen Forschungsfeldern argumentierende Werk, ist - trotz hoher Komplexität - ein großer Lesegenuss."
soziopolis.de, Ingeborg Villinger
"Ein erfrischend realistisches Bild unserer deliberativen Möglichkeiten und Grenzen"
Philosophie Magazin, Thorsten Jantschek
"Es geht ihm in seinem Buch zur 'Theorie der überforderten Gesellschaft' nicht um eine Bewertung der Krisenbewältigung, vielmehr dient sie als Beispiel, das gesellschaftliche Unbehagen als ambivalentes Grundmotiv moderner Lebensführung auszumachen."
Berliner Zeitung, Harry Nutt
"Mit seinem Plädoyer für eine Konzentration auf konkrete Sachfragen markiert Nassehi ein Gebot der Stunde."
NZZ, Tilman Asmus Fischer
"Eine soziologische Analyse, die der Frage nachgeht, an welchen sozialen Strukturen die Lösung gesamtgesellschaftlicher Krisen scheitert."
FAZ, Ramy Youssef
"Überfordert fühlt sich die Gesellschaft tagtäglich, viele sehnen sich nach der großen Lösung aller Probleme. Der Soziologe zeigt, warum das aussichtslos ist und wir uns erwachsen weiter durchschlagen sollten. Wir haben keine Wahl, und das ist auch gut so."
ZEIT, Jens Bisky
"Perspektivendifferenz statt normativer Sicherheit - das ist das Kunsthandwerk, das über den Erfolg künftiger Koalitionen und die Zukunft unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert entscheiden wird - und das kann man bei Armin Nassehi lernen."
taz, Peter Unfried
"Der Sozialwissenschaftler Armin Nassehi zeigt in seinem neuen Buch, warum der Versuch einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel in komplexen Gegenwartsgesellschaften zwangsläufig scheitern muss."
3sat, Cécile Schortmann
"Ein kluges Buch, dessen Erkenntnisse gerade angesichts einer möglichen neuen Corona-Welle im Winter und der drängenden Klimapolitik sehr wertvoll sind."
Deutschlandfunk Andruck, Ina Rottscheidt
"Nassehis Analyse kann als fruchtbar für die Weiterentwicklung der modernen Demokratie angesehen werden."
buchessenz, Hans-Peter Schunk
"Anregende, gut lesbare ... 'Theorie der überforderten Gesellschaft.'"
Saarbrücker Zeitung, Christoph Schreiner
"Das ist die große Stärke dieses Autors: Er macht plausibel, wie die Gesellschaft neu verzahnt und "Überforderung" reduziert werden kann. Angesichts erhitzter Debatten über die großen Zukunftsfragen kühlt Armin Nassehi die Emotionen runter, ohne die Herausforderungen zu negieren."
Deutschlandfunk Kultur, Vera Linß
"Warum stößt unserer Krisenmanagement zwangsläufig an Grenzen? Warum laufen moderne Gesellschaften Gefahr, zu scheitern, wenn sie versuchen, sich kollektiv zu verändern? Der Soziologe Armin Nassehi hat dafür eine spannende Erklärung, die trotzdem Mut macht."
Bayern 2 Diwan, Marie Schoess
"Armin Nassehi ist einer der produktivsten und einflussreichsten Soziologen des Landes ... und mischt sich mit originellen, die Diskussion befeuernden Thesen immer wieder in aktuelle Debatten ein."
NDR Kultur, Ulrich Kühn
"Der prominente Soziologe geht ... von der Frage aus: Warum sind wir trotz Wissen und Einsicht unfähig, mit akuten Krisen wie Corona oder der Klimaproblematik umzugehen?"
SRF Literaturclub, Philipp Tingler
"Nicht nur am Beispiel der Corona-Krise beschreibt der bekannte Soziologe Armin Nassehi, dass moderne Gesellschaften so komplex und fragil sind, dass der Wunsch nach einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel hin meist scheitern muss." Hannoversche Allgemeine Zeitung
"In seiner theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse untersucht der Autor die Gründe dieses Verharrens und Überfordertseins und legt dar, was wir aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen können, um für künftige Krisensituationen besser gerüstet zu sein."
Bremen Zwei
"Deutschlands wichtigster Gegenwartsanalytiker."
die tageszeitung
"Gewitzt und wortgewandt wie kein Zweiter."
Der Freitag, Wolfgang Michal
"Eine Theorie der überforderten Gesellschaft, die nun als Blaupause für den Umgang mit Krieg und der Angst vor dem Krieg gelesen werden kann."
Harry Nutt, Frankfurter Rundschau
ZDF Blaues Sofa, Thorsten Jantschek (Deutschlandfunk Kultur)
"Das ungemein spannende, sehr informative und mit vielen anschaulichen Beispielen aus unterschiedlichen Forschungsfeldern argumentierende Werk, ist - trotz hoher Komplexität - ein großer Lesegenuss."
soziopolis.de, Ingeborg Villinger
"Ein erfrischend realistisches Bild unserer deliberativen Möglichkeiten und Grenzen"
Philosophie Magazin, Thorsten Jantschek
"Es geht ihm in seinem Buch zur 'Theorie der überforderten Gesellschaft' nicht um eine Bewertung der Krisenbewältigung, vielmehr dient sie als Beispiel, das gesellschaftliche Unbehagen als ambivalentes Grundmotiv moderner Lebensführung auszumachen."
Berliner Zeitung, Harry Nutt
"Mit seinem Plädoyer für eine Konzentration auf konkrete Sachfragen markiert Nassehi ein Gebot der Stunde."
NZZ, Tilman Asmus Fischer
"Eine soziologische Analyse, die der Frage nachgeht, an welchen sozialen Strukturen die Lösung gesamtgesellschaftlicher Krisen scheitert."
FAZ, Ramy Youssef
"Überfordert fühlt sich die Gesellschaft tagtäglich, viele sehnen sich nach der großen Lösung aller Probleme. Der Soziologe zeigt, warum das aussichtslos ist und wir uns erwachsen weiter durchschlagen sollten. Wir haben keine Wahl, und das ist auch gut so."
ZEIT, Jens Bisky
"Perspektivendifferenz statt normativer Sicherheit - das ist das Kunsthandwerk, das über den Erfolg künftiger Koalitionen und die Zukunft unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert entscheiden wird - und das kann man bei Armin Nassehi lernen."
taz, Peter Unfried
"Der Sozialwissenschaftler Armin Nassehi zeigt in seinem neuen Buch, warum der Versuch einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel in komplexen Gegenwartsgesellschaften zwangsläufig scheitern muss."
3sat, Cécile Schortmann
"Ein kluges Buch, dessen Erkenntnisse gerade angesichts einer möglichen neuen Corona-Welle im Winter und der drängenden Klimapolitik sehr wertvoll sind."
Deutschlandfunk Andruck, Ina Rottscheidt
"Nassehis Analyse kann als fruchtbar für die Weiterentwicklung der modernen Demokratie angesehen werden."
buchessenz, Hans-Peter Schunk
"Anregende, gut lesbare ... 'Theorie der überforderten Gesellschaft.'"
Saarbrücker Zeitung, Christoph Schreiner
"Das ist die große Stärke dieses Autors: Er macht plausibel, wie die Gesellschaft neu verzahnt und "Überforderung" reduziert werden kann. Angesichts erhitzter Debatten über die großen Zukunftsfragen kühlt Armin Nassehi die Emotionen runter, ohne die Herausforderungen zu negieren."
Deutschlandfunk Kultur, Vera Linß
"Warum stößt unserer Krisenmanagement zwangsläufig an Grenzen? Warum laufen moderne Gesellschaften Gefahr, zu scheitern, wenn sie versuchen, sich kollektiv zu verändern? Der Soziologe Armin Nassehi hat dafür eine spannende Erklärung, die trotzdem Mut macht."
Bayern 2 Diwan, Marie Schoess
"Armin Nassehi ist einer der produktivsten und einflussreichsten Soziologen des Landes ... und mischt sich mit originellen, die Diskussion befeuernden Thesen immer wieder in aktuelle Debatten ein."
NDR Kultur, Ulrich Kühn
"Der prominente Soziologe geht ... von der Frage aus: Warum sind wir trotz Wissen und Einsicht unfähig, mit akuten Krisen wie Corona oder der Klimaproblematik umzugehen?"
SRF Literaturclub, Philipp Tingler
"Nicht nur am Beispiel der Corona-Krise beschreibt der bekannte Soziologe Armin Nassehi, dass moderne Gesellschaften so komplex und fragil sind, dass der Wunsch nach einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel hin meist scheitern muss." Hannoversche Allgemeine Zeitung
"In seiner theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse untersucht der Autor die Gründe dieses Verharrens und Überfordertseins und legt dar, was wir aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen können, um für künftige Krisensituationen besser gerüstet zu sein."
Bremen Zwei
"Deutschlands wichtigster Gegenwartsanalytiker."
die tageszeitung
"Gewitzt und wortgewandt wie kein Zweiter."
Der Freitag, Wolfgang Michal
"Eine Theorie der überforderten Gesellschaft, die nun als Blaupause für den Umgang mit Krieg und der Angst vor dem Krieg gelesen werden kann."
Harry Nutt, Frankfurter Rundschau