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"Lieber Kornej Iwanowitsch, nun berichtet die Prawda, daß auch Sie gestorben sind. Das erlaubt mir, in kameradschaftlicherer Weise mit Ihnen zu sprechen - ab und an glaube ich, auch ich sei gestorben."
Dies schreibt der Schriftsteller Dobytschin an den allseits bewunderten Literaturkritiker, Übersetzer und Kinderbuchautor Tschukowski. Er schreibt dies Jahre nach seinem eigenen vermeintlichen Tod. Auch der kleine Moskauer Literat Prischow schreibt an einen allseits bewunderten Autor, Fjodor Dostojewski, dem Prischow Vorbild war für eine Figur in seinem Roman "Die Dämonen". Der wirre Brief…mehr

Produktbeschreibung
"Lieber Kornej Iwanowitsch, nun berichtet die Prawda, daß auch Sie gestorben sind. Das erlaubt mir, in kameradschaftlicherer Weise mit Ihnen zu sprechen - ab und an glaube ich, auch ich sei gestorben."

Dies schreibt der Schriftsteller Dobytschin an den allseits bewunderten Literaturkritiker, Übersetzer und Kinderbuchautor Tschukowski. Er schreibt dies Jahre nach seinem eigenen vermeintlichen Tod. Auch der kleine Moskauer Literat Prischow schreibt an einen allseits bewunderten Autor, Fjodor Dostojewski, dem Prischow Vorbild war für eine Figur in seinem Roman "Die Dämonen". Der wirre Brief ist adressiert an den, der mit ihm aufwuchs, und den, der nun Prischows Leben als Material benutzt. Der alkoholkranke Prischow hält sich dabei mit antisemitischen Invektiven gegen Dostojewski nicht zurück - dann wieder sucht er das Verständnis des großen Autors.

Schließlich meldet sich auch der kranke und hungrige Jakob Michael Reinhold Lenz bei seinem Gönner Karamsin - wahrscheinlich am Tag seines Todes. Lenzens anrührender Brief wird plötzlich zu einem Brief an den Freund Goethe, dann zu einem Bittbrief an den Vater, dann wieder wendet er sich erneut Karamsin zu.

Zusammen ergeben die Briefe den Roman "Unbekannte Briefe", sein Thema ist Tod und Unsterblichkeit. Zugleich ist dieser Roman eine Hommage an die Jahrhunderte des Briefeschreibens. Denn der Auffinder der Poststücke, der bekannte russisch-deutsche Autor Oleg Jurjew, der die Briefe nur übersetzt haben will, ist selbstverständlich ihr Verfasser. "Unbekannte Briefe" ist Jurjews erster auf Deutsch verfasster Roman.
Autorenporträt
Oleg Jurjew, geboren 1959 in Leningrad, lebt seit 1991 mit seiner Frau, der Autorin Olga Martynova, in Frankfurt am Main. Er ist Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist und Ubersetzer. Er veröffentlichte in deutscher Übersetzung die Romane »Frankfurter Stier« (2001), »Spazier gänge unter dem Hohlmond« (2002), »Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise« (2003) und »Die russische Fracht« (2009), zuletzt erschienen eine Neuausgabe seines Romans »Halbinsel Judatin« sowie das Poem »Von Zeiten«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2017

Bildungslego, hoch gestapelt
Empfänger verzogen: Oleg Jurjews "Unbekannte Briefe"

Raider heißt jetzt Twix und Roman so ungefähr alles, was nicht Facebook oder der Fahrplan der Bahn ist. Der "Unbekannte Brief des Schriftstellers L. Dobytschin an Kornei Iwanowitsch Tschukowski" von Oleg Jurjew wurde 2012 in Russland als beste Novelle ausgezeichnet. In den nächsten beiden Jahren ließ Jurjew Briefe von Jakob Michael Reinhold Lenz an Karamsin und Pryschows an Dostojewski folgen; noch 2014 wurde alle drei Texte dann zusammengeschnürt und unter dem Gesamttitel "Unbekannte Briefe" auf Russisch herausgebracht.

Im Deutschen wird diese "Hommage an das Briefeschreiben" nun keck als "Roman" gepriesen und im Klappentext behauptet, es wäre "Jurjews erster auf Deutsch verfasster". Wenn da ein gewisser russischer Autor mal bloß nicht auf Plagiat klagt . . .

Jurjew leitet die Briefe in bester Herausgeberfiktion ein und nennt sich selbst als Übersetzer. Das dürfte den Nagel auf den Kopf treffen, ist aber ein entscheidender Unterschied. Für die Übersetzung wurden die Texte nämlich bearbeitet, geringfügig nur, doch mit enormer Wirkung. Einige Wortspiele bei russischen Familiennamen wurden weggelassen, Erklärungen dafür teils eingearbeitet. Über Burattino heißt es: "unser Sowjetischer Pinocchio", und die Fernsehsendung "Zeit" wird als "die abendliche Nachrichtensendung" vorgestellt - ein glatter Ausstieg aus dem Fiktionsvertrag, denn warum sollten sich zwei Russen ihre Realien erklären. Zudem nehmen sich diese Lesehilfen recht unbeholfen aus, verbergen sich doch hinter der Textoberfläche Anspielungen, die vom russischen Bilderbogen (Lubok) bis zu Wwedenskis Dramen ausgiebig aus der russischen Kultur zitieren und gerade im ersten Brief ein wahres Namensfeuerwerk abbrennen.

Sprachlich schrammt Jurjew, "minder ausgedrückt", im Deutschen, nicht aber im Russischen häufig an der Idiomatik vorbei. Und selbst wenn das Absicht sein sollte, muss man es nicht mögen. Unbeabsichtigte Tipp- und Zeichensetzungsfehler sind schon "ein letztes Stück" und erschweren die ohnehin mühevolle Lektüre weiter: "Hättest du Tschaldonenschmok, Hörner beflaumt und Klauen versaut, wärest du kein Tchaldonenschmok mehr, sondern ein Ziegenbock!"

Die Briefe selbst variieren die Mozart-Salieri-Konstellation. Für das deutsche Publikum zündet die Idee bei Dobytschin und Tschukowski vielleicht nicht ganz, aber in Russland kennt Letzteren buchstäblich jedes Kind; er hat mit seinen "Dr. Aibolit"-Geschichten - bearbeiteten Übersetzungen von Hugh Loftings "Dr. Dolittle"-Texten - einen echten Klassiker vorgelegt. Karamsin ist zwar die Größe seiner Zeit, dient im Text jedoch nur als Bügel, dem rasch der Mantel Goethes übergeworfen wird.

Die drei Texte stellen weitgehend freie Assoziationsströme dar, wiederkehrende Themen sind Plagiat, Urheberrecht und fehlende literarische Kraft. Durch markante Lexeme (Staupe, stäupen) oder gleiche Gedanken (wem die eigenen literarischen Ideen vermachen?) verschmelzen sie zu einer einzigen Stimme. Macht das nun schon einen Roman? Zeitkolorit, der individuelle Ton der Schreiber gehen jedenfalls weitgehend verloren, auch wenn Jurjew seinen Briefeschreibern ein paar sprachliche Eigenheiten wie bei Dobytschin die Großschreibung von Adjektiven spendiert. Am Ende ragt jedoch selbst dieser Schriftsteller, für den sich Jurjew sonst starkmacht, nicht als Einzelstimme aus dem Trio heraus.

Der Ton aller drei Briefe ist teils ironisch, vor allem aber durchgehend uneigentlich. Viel zu oft wird er indes gebrochen, bis ein Satz nur um seiner selbst willen Zeilen einnimmt. Beispielsweise wenn es über die Dekabristen heißt: "Jene Strafverbannten, trotz den unglücklichsten, oft ganz schrecklichen, elenden Lebensumständen, taten für Sibirien so viel Gutes, wie es aus eigener Kraft nicht in hundert oder mehr Jahren geschafft hätte."

Oleg Jurjew, der 1959 in Leningrad geboren wurde und seit 1991 in Frankfurt am Main lebt, stapelt in seinen Texten gern Bildungslego aufeinander, hier indes hat er dadurch die eigentliche Geschichte völlig zugemauert. Die "Unbekannten Briefe" haben nichts mehr zu sagen.

CHRISTIANE PÖHLMANN

Oleg Jurjew: "Unbekannte Briefe". Roman.

Verbrecher Verlag, Berlin 2017. 250 S., geb., 22,- [Euro].

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