Die Rede von Privilegien hat Konjunktur. Früher meinte Privileg "Vorrecht". Bei der heutigen Verwendung steht "Privileg" für Vorteile aller Art, meist unverdiente und ungerechte. Doch je breiter der Begriff gefasst wird, desto weniger lässt sich die Realität mit ihm begreifen. Der "weiße Mann" hat dann generell bessere Chancen als die "weiße Frau" oder eine Person mit einer anderen Hautfarbe. Wenn alle Weißen privilegiert sind und Person X weiß ist, ist Person X immer privilegiert. Stimmt das wirklich? Wo beginnt, wo endet eigentlich "weiß" und wer entscheidet darüber? Wie passt Slawenfeindlichkeit in dieses Bild? Was bedeutet der Hashtag #JewishPrivilege? Und was ist mit linken Punks, die "don't call me white!" singen? In diesem Essay gibt Jörg Scheller dem Begriff des Privilegs seine Geschichtlichkeit und seine Spezifik zurück - mit überraschenden Beispielen aus so unterschiedlichen Bereichen wie Hardcorepunk, Anarchismus, den sozialen Netzwerken und osteuropäischen Kulturen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2022Kampfvokabel oder Erkenntnisinstrument?
Jörg Scheller und Markus Rieger-Ladich unterziehen den Begriff des Privilegs einer Klärung
Im Jahr 1988 publizierte die amerikanische Feministin und Aktivistin Peggy McIntosh einen einflussreichen Aufsatz, der den Titel "White Privilege and Male Privilege" trug. Ausgangspunkt des Aufsatzes war McIntoshs Beobachtung, dass Männer zwar die Benachteiligung von Frauen in vielen wichtigen sozialen Handlungsbereichen einräumen, gleichzeitig aber ungern über die Kehrseite dieser Benachteiligung reden: ihre Privilegien als Männer. Für McIntosh war klar, dass nicht nur Männer Privilegien gegenüber Frauen besitzen, sondern auch Weiße gegenüber Schwarzen. Weiße, so McIntosh, tragen einen unsichtbaren Rucksack unverdienter Vorteile auf dem Rücken, der sie daran hindert, die ganz und gar unverdienten Nachteile zu erkennen, mit denen Schwarze in rassistisch geprägten Gesellschaften konfrontiert sind.
Viel kopiert und modifiziert wurde die von McIntosh erstellte Liste von Vorteilen, die Weiße im Vergleich zu Personen anderer Hautfarbe besitzen, eine Liste, die im Originalartikel immerhin über vierzig Einträge enthielt. Kommen in deiner Religion Wesen verschiedener Hautfarbe vor? Wenn du mit deinem Vorgesetzten reden willst, wird er ziemlich sicher deine Hautfarbe haben? Musstest du je für alle Menschen deiner Hautfarbe sprechen?
"White Privilege" - die Privilegien des Weißseins -, über dieses Phänomen wird seit McIntoshs Aufsatz viel diskutiert, bisweilen hitzig und polemisch. Mehr noch, die Aufforderung "check your privilege" dient mittlerweile dazu, auch ganz andere unverdiente Vorteile und Privilegien zu thematisieren, etwa Vorteile der sozialen und ökonomischen Herkunft. Jörg Scheller, Professor an der Zürcher Hochschule der Künste, und Markus Rieger-Ladich, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen, haben nun unabhängig voneinander Bücher zum Thema vorgelegt.
Über alle Stildifferenzen hinweg eint beide das Interesse, die Vor- und Nachteile der Rede von Privilegien zu erörtern, Scheller ist dabei allerdings deutlich kritischer und plädiert für eine Beschneidung des Begriffs "Privileg", längst werde der Begriff entgrenzt verwendet und unterliege dadurch einer wenig hilfreichen Willkür. Rieger-Ladich sieht zwar auch die Gefahr, dass ein Insistieren auf Privilegienkritik gesellschaftliche Spaltungen befördere, kann aber trotzdem keinen Widerspruch darin erkennen, die Kritik an tatsächlich gegebenen Vorteilen einzelner Gruppen als Teil eines Kampfes um allgemeine Gleichberechtigung zu sehen.
Was stört Scheller an der Ausweitung des Privilegienbegriffs? Zum einen glaubt er nicht, dass es richtig ist, allen Weißen schon allein aufgrund ihrer Hautfarbe Privilegien zuzusprechen. Es gibt arme, ausgebeutete und diskriminierte Weiße. Zum anderen sieht er die Gefahr, dass ein entgrenzter Privilegienbegriff zu leicht von jenen angeeignet werden kann, für die das, was der Begriff anzeigt, entweder gar nicht gilt oder nicht gelten sollte. So können Islamisten Kritik an ihren Praktiken schnell als "islamophob" bezeichnen, amerikanische Neonazis können sich als unterdrückte Minderheit inszenieren, Russland konnte die russischstämmigen Bürger der Republik Moldau auffordern, ihre "Diskriminierungserfahrungen" zu melden. Wenn überall Privilegien lauern, dann lauern überall ungerechtfertigte Benachteiligungen. Scheller will deswegen den Begriff "Privileg" mit Blick auf seine geschichtliche Verwendung schärfen, Privilegien sollten "von Autoritäten bewusst gewährte, kodifizierte Vorrechte" sein und mehr nicht. Darüber hinaus gibt es in seinen Augen durchaus verdiente Vorteile, nicht jede Ungleichheit müsse gleich als Ungerechtigkeit bezeichnet werden. Im Gegenteil, was soll ein unverdienter Vorteil eigentlich sein? "Vorteile durch Geburt", so Scheller, "sind weder verdient noch unverdient."
Rieger-Ladichs Ansatz ist an manchen Punkten akademischer, Literatur wird breiter zitiert. Auch er beschäftigt sich mit der Geschichte des Privilegs, auch er sieht Probleme in der Entgrenzung des Privilegienbegriffs und möchte "neue Wege in der Rede von Privilegien" erproben. Die Probleme, die er sieht, sind aber anders gelagert als bei Scheller. Für Rieger-Ladich gibt es mittlerweile eine Art Selbstbezichtigungskultur der Privilegierten, der Privilegiencheck wird zu einem Distinktionsmerkmal. Anstatt also die Strukturen zu ändern, die problematische Vor- und Nachteile hervorbringen, oder endlich denen zuzuhören, die unter den Vorteilen der anderen wirklich leiden, konzentriere man sich auf sich selbst und grenze sich von denen ab, die nicht ebenso selbstreflektiert seien.
Beide Bücher sind als mehr oder weniger akademische Interventionen in wichtige Debatten der Gegenwart zu verstehen. Das macht ihre Lektüre leichtgängig und anregend. Scheller wird sich fragen lassen müssen, ob wir nicht ganz gut unterscheiden können zwischen einigermaßen plausiblen Ausdehnungen eines Begriffs und bloß strategischen Aneignungen. Auch ist fragwürdig, ob diejenigen, die von Weißsein als Privileg schreiben, nicht auch die Benachteiligung von Weißen einräumen können. In rassistischen Kontexten sind Weiße oft gegenüber Schwarzen im Vorteil, ohne es zu bemerken, das sollte die Rede von "weißen" Privilegien meinen, nicht "alle Weißen sind gegenüber allen Schwarzen in allen Kontexten im Vorteil". Und: Sollen wir nicht mehr von Bildungsprivilegien reden, nur weil das, was wir damit meinen, offiziell nie wirklich kodifiziert worden ist?
Hier wird Schellers Privilegienbegriff zu eng, Rieger-Ladichs Plädoyer, den Begriff des Privilegs nach wie vor als Erkenntnisinstrument zu verwenden, scheint der bessere Weg zu sein, auch wenn der Autor am Ende ein wenig wolkig bleibt, wenn es darum geht, aus den vielen Klagen über Benachteiligung den einen großen Kampf um Gerechtigkeit zu machen. Richtig aber ist: In Gesellschaften, die sich in ihrem normativen Fundament zunehmend als egalitär und meritokratisch begreifen, kann eine Ausweitung der Rede von Privilegien nicht ausbleiben, allemal dann nicht, wenn die Ungleichheiten in vielen Bereichen zunehmen. MARTIN HARTMANN
Jörg Scheller: "(Un)check your privilege". Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 152 S., geb., 19,90 Euro.
Markus Rieger-Ladich: "Das Privileg". Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument.
Reclam Verlag, Ditzingen 2022. 192 S., br., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jörg Scheller und Markus Rieger-Ladich unterziehen den Begriff des Privilegs einer Klärung
Im Jahr 1988 publizierte die amerikanische Feministin und Aktivistin Peggy McIntosh einen einflussreichen Aufsatz, der den Titel "White Privilege and Male Privilege" trug. Ausgangspunkt des Aufsatzes war McIntoshs Beobachtung, dass Männer zwar die Benachteiligung von Frauen in vielen wichtigen sozialen Handlungsbereichen einräumen, gleichzeitig aber ungern über die Kehrseite dieser Benachteiligung reden: ihre Privilegien als Männer. Für McIntosh war klar, dass nicht nur Männer Privilegien gegenüber Frauen besitzen, sondern auch Weiße gegenüber Schwarzen. Weiße, so McIntosh, tragen einen unsichtbaren Rucksack unverdienter Vorteile auf dem Rücken, der sie daran hindert, die ganz und gar unverdienten Nachteile zu erkennen, mit denen Schwarze in rassistisch geprägten Gesellschaften konfrontiert sind.
Viel kopiert und modifiziert wurde die von McIntosh erstellte Liste von Vorteilen, die Weiße im Vergleich zu Personen anderer Hautfarbe besitzen, eine Liste, die im Originalartikel immerhin über vierzig Einträge enthielt. Kommen in deiner Religion Wesen verschiedener Hautfarbe vor? Wenn du mit deinem Vorgesetzten reden willst, wird er ziemlich sicher deine Hautfarbe haben? Musstest du je für alle Menschen deiner Hautfarbe sprechen?
"White Privilege" - die Privilegien des Weißseins -, über dieses Phänomen wird seit McIntoshs Aufsatz viel diskutiert, bisweilen hitzig und polemisch. Mehr noch, die Aufforderung "check your privilege" dient mittlerweile dazu, auch ganz andere unverdiente Vorteile und Privilegien zu thematisieren, etwa Vorteile der sozialen und ökonomischen Herkunft. Jörg Scheller, Professor an der Zürcher Hochschule der Künste, und Markus Rieger-Ladich, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen, haben nun unabhängig voneinander Bücher zum Thema vorgelegt.
Über alle Stildifferenzen hinweg eint beide das Interesse, die Vor- und Nachteile der Rede von Privilegien zu erörtern, Scheller ist dabei allerdings deutlich kritischer und plädiert für eine Beschneidung des Begriffs "Privileg", längst werde der Begriff entgrenzt verwendet und unterliege dadurch einer wenig hilfreichen Willkür. Rieger-Ladich sieht zwar auch die Gefahr, dass ein Insistieren auf Privilegienkritik gesellschaftliche Spaltungen befördere, kann aber trotzdem keinen Widerspruch darin erkennen, die Kritik an tatsächlich gegebenen Vorteilen einzelner Gruppen als Teil eines Kampfes um allgemeine Gleichberechtigung zu sehen.
Was stört Scheller an der Ausweitung des Privilegienbegriffs? Zum einen glaubt er nicht, dass es richtig ist, allen Weißen schon allein aufgrund ihrer Hautfarbe Privilegien zuzusprechen. Es gibt arme, ausgebeutete und diskriminierte Weiße. Zum anderen sieht er die Gefahr, dass ein entgrenzter Privilegienbegriff zu leicht von jenen angeeignet werden kann, für die das, was der Begriff anzeigt, entweder gar nicht gilt oder nicht gelten sollte. So können Islamisten Kritik an ihren Praktiken schnell als "islamophob" bezeichnen, amerikanische Neonazis können sich als unterdrückte Minderheit inszenieren, Russland konnte die russischstämmigen Bürger der Republik Moldau auffordern, ihre "Diskriminierungserfahrungen" zu melden. Wenn überall Privilegien lauern, dann lauern überall ungerechtfertigte Benachteiligungen. Scheller will deswegen den Begriff "Privileg" mit Blick auf seine geschichtliche Verwendung schärfen, Privilegien sollten "von Autoritäten bewusst gewährte, kodifizierte Vorrechte" sein und mehr nicht. Darüber hinaus gibt es in seinen Augen durchaus verdiente Vorteile, nicht jede Ungleichheit müsse gleich als Ungerechtigkeit bezeichnet werden. Im Gegenteil, was soll ein unverdienter Vorteil eigentlich sein? "Vorteile durch Geburt", so Scheller, "sind weder verdient noch unverdient."
Rieger-Ladichs Ansatz ist an manchen Punkten akademischer, Literatur wird breiter zitiert. Auch er beschäftigt sich mit der Geschichte des Privilegs, auch er sieht Probleme in der Entgrenzung des Privilegienbegriffs und möchte "neue Wege in der Rede von Privilegien" erproben. Die Probleme, die er sieht, sind aber anders gelagert als bei Scheller. Für Rieger-Ladich gibt es mittlerweile eine Art Selbstbezichtigungskultur der Privilegierten, der Privilegiencheck wird zu einem Distinktionsmerkmal. Anstatt also die Strukturen zu ändern, die problematische Vor- und Nachteile hervorbringen, oder endlich denen zuzuhören, die unter den Vorteilen der anderen wirklich leiden, konzentriere man sich auf sich selbst und grenze sich von denen ab, die nicht ebenso selbstreflektiert seien.
Beide Bücher sind als mehr oder weniger akademische Interventionen in wichtige Debatten der Gegenwart zu verstehen. Das macht ihre Lektüre leichtgängig und anregend. Scheller wird sich fragen lassen müssen, ob wir nicht ganz gut unterscheiden können zwischen einigermaßen plausiblen Ausdehnungen eines Begriffs und bloß strategischen Aneignungen. Auch ist fragwürdig, ob diejenigen, die von Weißsein als Privileg schreiben, nicht auch die Benachteiligung von Weißen einräumen können. In rassistischen Kontexten sind Weiße oft gegenüber Schwarzen im Vorteil, ohne es zu bemerken, das sollte die Rede von "weißen" Privilegien meinen, nicht "alle Weißen sind gegenüber allen Schwarzen in allen Kontexten im Vorteil". Und: Sollen wir nicht mehr von Bildungsprivilegien reden, nur weil das, was wir damit meinen, offiziell nie wirklich kodifiziert worden ist?
Hier wird Schellers Privilegienbegriff zu eng, Rieger-Ladichs Plädoyer, den Begriff des Privilegs nach wie vor als Erkenntnisinstrument zu verwenden, scheint der bessere Weg zu sein, auch wenn der Autor am Ende ein wenig wolkig bleibt, wenn es darum geht, aus den vielen Klagen über Benachteiligung den einen großen Kampf um Gerechtigkeit zu machen. Richtig aber ist: In Gesellschaften, die sich in ihrem normativen Fundament zunehmend als egalitär und meritokratisch begreifen, kann eine Ausweitung der Rede von Privilegien nicht ausbleiben, allemal dann nicht, wenn die Ungleichheiten in vielen Bereichen zunehmen. MARTIN HARTMANN
Jörg Scheller: "(Un)check your privilege". Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 152 S., geb., 19,90 Euro.
Markus Rieger-Ladich: "Das Privileg". Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument.
Reclam Verlag, Ditzingen 2022. 192 S., br., 16,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Früher stand der Begriff des Privilegs für ein besonderes Vorrecht, erklärt Catherine Newmark in ihrer Rezension zu Jörg Schellers "(Un)Check Your Privilege", heute nutzt man den Ausdruck eher, um auf Ungleichheiten und Diskriminierungsformen aufmerksam zu machen und sich Machtstrukturen, wie sie beispielsweise mit dem Weißsein einhergehen, bewusst zu werden. Der Zürcher Professor Jörg Scheller habe sich nun damit einhergehenden Problemen gewidmet: Für ihn hat der Begriff Privileg an Kontur verloren und dient nun eher der Emotionalisierung von Debatten, ohne wirklich konkret und präzise Probleme zu benennen, erklärt Newmark. Zudem hält er die Diskriminierungsformen, die über diesen Begriff angesprochen würden, für oft nicht nahtlos von amerikanischen in andere Diskurse und Zusammenhänge übertragbar. Die Rezensentin hat er mit seiner Perspektive überzeugt, sie freut sich besonders darüber, dass seine Begriffskritik nicht reaktionär wird, sondern als Denkanstoß dient.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Wenn man den Begriff "Privileg" nicht nur auf diese expliziten, von Autoritäten gewährten Vorteile fokussiert, wird es schwammig und irgendwann ist alles ein Privileg. Das verharmlost echte Sonder- und Vorrechte. Mit Begriffen, die alles und nichts greifen, lässt sich Realität schwerlich begreifen." Jörg Scheller im Interview mit Die Welt 20221223