«Selbst als ein Ungläubiger stand ich demütig und beschämt vor den Ruinen dieses fremden Landes», notiert Melvin Lasky, als er im letzten Kriegsjahr mit der US-Army nach Deutschland kommt. Hier soll der Oberleutnant Material für eine Geschichte der Invasion sammeln, doch was er sieht, lässt sich nicht schematisieren: Chaos, Trümmer, Unmenschlichkeit überall. Fassungslos reist er durch tote Ruinenlandschaften, vom Elsass über Bayern, Kassel und Braunschweig bis in die versehrte Reichshauptstadt, skizziert die Anfänge der Besatzungspolitik und, vor allem, hört den Menschen zu, die er trifft. Ihre Stimmen - von KZ-Überlebenden, Widerstandskämpfern, alliierten Soldaten, Kriegsgefangenen, Nazis, Mitläufern und Ausgebombten - fügen sich zu einem beeindruckenden Mosaik des Jahres 1945 und machen das bislang unveröffentlichte Tagebuch zu einem einzigartigen Zeitzeugnis.
Doch Lasky, Fremder, Feind und Freund zugleich, ist nicht nur ein genauer Beobachter und Chronist, sondern auch ein großer Erzähler. Ein Erlebnisbericht voll eindrucksvoller Szenen und Bilder, das Panorama eines zerstörten Landes zwischen totaler Niederlage und ungewisser Zukunft.
Doch Lasky, Fremder, Feind und Freund zugleich, ist nicht nur ein genauer Beobachter und Chronist, sondern auch ein großer Erzähler. Ein Erlebnisbericht voll eindrucksvoller Szenen und Bilder, das Panorama eines zerstörten Landes zwischen totaler Niederlage und ungewisser Zukunft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014Begegnungen hinter der Front
Fraternisieren lag ihm: Zehn Jahre nach seinem Tod erscheint das Tagebuch des Publizisten Melvin Lasky über die letzten Tage des Dritten Reiches und den Beginn der Besatzungszeit.
Von Stephan Sattler
Dieses Tagebuch enthält eine Überraschung: Es gibt wohl keine Aufzeichnungen eines amerikanischen Soldaten über die Niederwerfung des "Großdeutschen Reiches" im Jahr 1945, die so einfühlsam, mit so viel Sympathie für die deutsche Bevölkerung und mit so viel Bewunderung für die deutsche Kultur niedergeschrieben wurden. Die zerbombten deutschen Städte, dieser Anblick der Zerstörung trifft den damals fünfundzwanzigjährigen Melvin Lasky ganz unvorbereitet. Er erlebt sich als Sieger, Feind, Fremder und Freund, ein verwirrendes Rollenspiel, das an seinem Selbstvertrauen nagt. Die Invasion der 7. US-Army, in der er als "combat historian" - als eine Art Quellensammler und Autor von Lageberichten für die spätere Militärgeschichtsschreibung - fungiert, sieht er im Chaos enden. Auf die Deutschen warte, seinem Urteil nach, eine völlig ungewisse Zukunft.
Der Publizist und Ideenhistoriker Melvin Lasky starb 2004 in Berlin. Den meisten ist er vermutlich als Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift "Der Monat" und des Londoner Intellektuellenblattes "Encounter" bekannt. Beide Zeitschriften fielen durch eine Besonderheit auf: Autoren konnten in ihnen kontroverse Meinungen und Weltanschauungen vertreten. Lasky nannte das "geistige Unabhängigkeit", meinte damit aber vor allem den Wettstreit zwischen herausragenden, auf ihre Autorität pochenden Großintellektuellen wie Albert Camus, George Orwell, Arthur Koestler, Manès Sperber oder Ignazio Silone.
Der 1920 in der New Yorker Bronx geborene Lasky galt vielen als eingefleischter Antikommunist, als Veteran des Kalten Krieges, seit er zusammen mit dem Philosophen Sidney Hook im Jahr 1950 in West-Berlin die "Konferenz für kulturelle Freiheit", eine Zusammenkunft stalinkritischer Schriftsteller und Publizisten, organisiert hatte. Linksorientierte Kontrahenten unterstellten ihm gerne, von West-Berlin und später von London aus die Intellektuellenszenen Europas mit antisowjetischen Argumenten infiltriert zu haben.
Wenige Jahre zuvor erleben wir nun einen Autor, der sich empört über die Erschießungen Verdächtiger durch GIs, über den Einsatz der Artillerie in schon eroberten Gebieten und die Bombenabwürfe auf Stellungen des längst unterlegenen Feindes. Die unklare Strategie der amerikanischen Generäle im besetzten Gebiet und die generelle Vertrauensseligkeit gegenüber dem sowjetischen Bündnispartner kritisiert er scharf. Kurz: Lasky entpuppt sich keineswegs als Befürworter der amerikanischen Kriegführung und als Apostel der amerikanischen Mission.
Das Klischee vom amerikanischen Kulturagenten Lasky, an dem kaum noch jemand festgehalten hat, verliert dadurch seine letzte Evidenz. Hier schreibt ein junger sozialkritischer Mann, dem die Prägung durch einen Diskussionskreis am New Yorker City College Anfang der vierziger Jahre deutlich anzumerken ist. Zu dem Studentenkreis gehörten Irving Kristol, Seymour Lipset, Irving Howe und Daniel Bell: trotzkistische Juden, die alle Stalin vehement ablehnten, später zu erfolgreichen Wissenschaftlern und Publizisten aufstiegen und politisch der liberalen oder der neokonservativen Richtung angehörten.
Immer wieder kommt Lasky auf die Frage, welcher Klasse die Menschen sich zugehörig fühlen, auf die er zunächst Anfang 1945 im Elsass, danach in Südwestdeutschland trifft. Er stellt sich die Frage: Hat der Sozialismus in Europa eine Chance? Und dann beschäftigen ihn, besonders, als er Mitte 1945 in Berlin eintrifft, die Propagandatricks der "Sowjetmacht", der Kult um Stalin, die riesigen Plakate im Ostsektor, auf denen Stalin aufs Publikum herabschaut. Die scharfe Ablehnung des "roten Diktators" folgt der trotzkistischen Devise, Stalin habe die Sache der Oktoberrevolution verraten.
Die Teilung der Welt in Ost und West ahnt Lasky schon sehr früh voraus und macht dafür die amerikanische Außenpolitik verantwortlich, die an einem Bündnis mit Stalin festhält, obwohl der in den von der "Rotarmee" kontrollierten Gebieten Osteuropas soziale und politische Fakten schafft. War Lasky damals ein "Radikaler"? Ja, aber vor allem ein "Unangepasster", einer, dem es immer auch um ästhetische Fragen, um Literatur und die Historie Deutschlands geht.
Man begegnet einem äußerst belesenen jungen Mann, der über deutsche Kultur und Literatur so viel weiß, dass man als Leser nur staunen kann. Er zitiert Kafka wie selbstverständlich. Im weniger zerstörten Heidelberg, das ihm von allen deutschen Städten am besten gefällt, trifft er auf Marianne Weber und pflegt mit ihr Konversationen über ihren 1920 verstorbenen Mann, Max Weber, und dessen Stellung im deutschen Geistesleben. Er scheint keinerlei Schwierigkeiten zu haben, mit Karl und Gertrud Jaspers über die deutsche "Schuldfrage" zu diskutieren, besonders über die Schuld derer, die Krieg und Vernichtung überlebt haben.
Jaspers Einlassungen über seinen einstigen Freund und Philosophenkollegen Martin Heidegger und dessen Rolle während der NS-Zeit stoßen bei Lasky auf sehr reges Interesse, so als ob er in der deutschen Gegenwartsphilosophie schon lange zu Hause wäre. Magisch ziehen ihn Bücher an, etwa in der zerbombten, aber im Keller notdürftig untergebrachten Stadtbibliothek von Darmstadt oder in den unbeschädigten Buchhandlungen Heidelbergs, die ihm wie ein Überbleibsel deutscher kultureller Kontinuität erscheinen.
Das Tagebuch zeigt, wie Lasky - stets "hinter der Front" - durch Deutschland zieht, sich dann im Jahr 1946 mehrmals in Berlin, München, Augsburg, Frankfurt und Heidelberg aufhält. Dabei sind wohl am eindrucksvollsten die Niederschriften von Gesprächen mit Personen, denen er meist zufällig begegnet, KZ-Überlebende, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und displaced persons, immer wieder junge Frauen und Mädchen, Nazis, Mitläufer, stille Opponenten des NS-Regimes, sowjetische Soldaten, alte Frauen, die alles verloren haben. Es sind diese Stimmen, die ein äußerst differenziertes Bild der Realitäten im geschlagenen Deutschland ergeben. Wie die meisten amerikanischen Soldaten hält auch Lasky nichts vom "Fraternisierungsverbot", unterläuft es mit Fleiß und hat dabei das Glück, sich in Berlin in Brigitte zu verlieben, die er 1947 im Westsektor heiraten wird.
Laskys Beziehung zu den Deutschen ist eine besondere. Sosehr er die Nationalsozialisten auch verachtet, er hegt eine unverhohlene Sympathie für die Menschen, denen er begegnet, und bemüht sich stets, offen, ohne Vorurteile und ideologische Fixierung mit ihnen umzugehen. Eine bewegende Passage seines Tagebuchs schildert die Zusammenkunft von Juden, die den Holocaust in Polen und der Sowjetunion überlebt haben. In einem kläglich hergerichteten Raum, der als Synagoge dient, haben sie sich in Frankfurt versammelt. Lasky meint voller Trauer, dass diese Menschen keine Zukunft haben und dass es eine Judenheit in Deutschland nicht mehr geben wird.
Er hatte unrecht, so wie er mit der Einschätzung der Chancen der drei Westzonen unrecht hatte. Damals konnte er eben nicht wissen, dass er die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens im wiedervereinigten Berlin leben würde - als amerikanischer Freund der Deutschen.
Melvin Lasky: "Und alles war still". Deutsches Tagebuch 1945.
Aus dem Englischen von Christa Krüger und Henning Thies.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 491 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fraternisieren lag ihm: Zehn Jahre nach seinem Tod erscheint das Tagebuch des Publizisten Melvin Lasky über die letzten Tage des Dritten Reiches und den Beginn der Besatzungszeit.
Von Stephan Sattler
Dieses Tagebuch enthält eine Überraschung: Es gibt wohl keine Aufzeichnungen eines amerikanischen Soldaten über die Niederwerfung des "Großdeutschen Reiches" im Jahr 1945, die so einfühlsam, mit so viel Sympathie für die deutsche Bevölkerung und mit so viel Bewunderung für die deutsche Kultur niedergeschrieben wurden. Die zerbombten deutschen Städte, dieser Anblick der Zerstörung trifft den damals fünfundzwanzigjährigen Melvin Lasky ganz unvorbereitet. Er erlebt sich als Sieger, Feind, Fremder und Freund, ein verwirrendes Rollenspiel, das an seinem Selbstvertrauen nagt. Die Invasion der 7. US-Army, in der er als "combat historian" - als eine Art Quellensammler und Autor von Lageberichten für die spätere Militärgeschichtsschreibung - fungiert, sieht er im Chaos enden. Auf die Deutschen warte, seinem Urteil nach, eine völlig ungewisse Zukunft.
Der Publizist und Ideenhistoriker Melvin Lasky starb 2004 in Berlin. Den meisten ist er vermutlich als Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift "Der Monat" und des Londoner Intellektuellenblattes "Encounter" bekannt. Beide Zeitschriften fielen durch eine Besonderheit auf: Autoren konnten in ihnen kontroverse Meinungen und Weltanschauungen vertreten. Lasky nannte das "geistige Unabhängigkeit", meinte damit aber vor allem den Wettstreit zwischen herausragenden, auf ihre Autorität pochenden Großintellektuellen wie Albert Camus, George Orwell, Arthur Koestler, Manès Sperber oder Ignazio Silone.
Der 1920 in der New Yorker Bronx geborene Lasky galt vielen als eingefleischter Antikommunist, als Veteran des Kalten Krieges, seit er zusammen mit dem Philosophen Sidney Hook im Jahr 1950 in West-Berlin die "Konferenz für kulturelle Freiheit", eine Zusammenkunft stalinkritischer Schriftsteller und Publizisten, organisiert hatte. Linksorientierte Kontrahenten unterstellten ihm gerne, von West-Berlin und später von London aus die Intellektuellenszenen Europas mit antisowjetischen Argumenten infiltriert zu haben.
Wenige Jahre zuvor erleben wir nun einen Autor, der sich empört über die Erschießungen Verdächtiger durch GIs, über den Einsatz der Artillerie in schon eroberten Gebieten und die Bombenabwürfe auf Stellungen des längst unterlegenen Feindes. Die unklare Strategie der amerikanischen Generäle im besetzten Gebiet und die generelle Vertrauensseligkeit gegenüber dem sowjetischen Bündnispartner kritisiert er scharf. Kurz: Lasky entpuppt sich keineswegs als Befürworter der amerikanischen Kriegführung und als Apostel der amerikanischen Mission.
Das Klischee vom amerikanischen Kulturagenten Lasky, an dem kaum noch jemand festgehalten hat, verliert dadurch seine letzte Evidenz. Hier schreibt ein junger sozialkritischer Mann, dem die Prägung durch einen Diskussionskreis am New Yorker City College Anfang der vierziger Jahre deutlich anzumerken ist. Zu dem Studentenkreis gehörten Irving Kristol, Seymour Lipset, Irving Howe und Daniel Bell: trotzkistische Juden, die alle Stalin vehement ablehnten, später zu erfolgreichen Wissenschaftlern und Publizisten aufstiegen und politisch der liberalen oder der neokonservativen Richtung angehörten.
Immer wieder kommt Lasky auf die Frage, welcher Klasse die Menschen sich zugehörig fühlen, auf die er zunächst Anfang 1945 im Elsass, danach in Südwestdeutschland trifft. Er stellt sich die Frage: Hat der Sozialismus in Europa eine Chance? Und dann beschäftigen ihn, besonders, als er Mitte 1945 in Berlin eintrifft, die Propagandatricks der "Sowjetmacht", der Kult um Stalin, die riesigen Plakate im Ostsektor, auf denen Stalin aufs Publikum herabschaut. Die scharfe Ablehnung des "roten Diktators" folgt der trotzkistischen Devise, Stalin habe die Sache der Oktoberrevolution verraten.
Die Teilung der Welt in Ost und West ahnt Lasky schon sehr früh voraus und macht dafür die amerikanische Außenpolitik verantwortlich, die an einem Bündnis mit Stalin festhält, obwohl der in den von der "Rotarmee" kontrollierten Gebieten Osteuropas soziale und politische Fakten schafft. War Lasky damals ein "Radikaler"? Ja, aber vor allem ein "Unangepasster", einer, dem es immer auch um ästhetische Fragen, um Literatur und die Historie Deutschlands geht.
Man begegnet einem äußerst belesenen jungen Mann, der über deutsche Kultur und Literatur so viel weiß, dass man als Leser nur staunen kann. Er zitiert Kafka wie selbstverständlich. Im weniger zerstörten Heidelberg, das ihm von allen deutschen Städten am besten gefällt, trifft er auf Marianne Weber und pflegt mit ihr Konversationen über ihren 1920 verstorbenen Mann, Max Weber, und dessen Stellung im deutschen Geistesleben. Er scheint keinerlei Schwierigkeiten zu haben, mit Karl und Gertrud Jaspers über die deutsche "Schuldfrage" zu diskutieren, besonders über die Schuld derer, die Krieg und Vernichtung überlebt haben.
Jaspers Einlassungen über seinen einstigen Freund und Philosophenkollegen Martin Heidegger und dessen Rolle während der NS-Zeit stoßen bei Lasky auf sehr reges Interesse, so als ob er in der deutschen Gegenwartsphilosophie schon lange zu Hause wäre. Magisch ziehen ihn Bücher an, etwa in der zerbombten, aber im Keller notdürftig untergebrachten Stadtbibliothek von Darmstadt oder in den unbeschädigten Buchhandlungen Heidelbergs, die ihm wie ein Überbleibsel deutscher kultureller Kontinuität erscheinen.
Das Tagebuch zeigt, wie Lasky - stets "hinter der Front" - durch Deutschland zieht, sich dann im Jahr 1946 mehrmals in Berlin, München, Augsburg, Frankfurt und Heidelberg aufhält. Dabei sind wohl am eindrucksvollsten die Niederschriften von Gesprächen mit Personen, denen er meist zufällig begegnet, KZ-Überlebende, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und displaced persons, immer wieder junge Frauen und Mädchen, Nazis, Mitläufer, stille Opponenten des NS-Regimes, sowjetische Soldaten, alte Frauen, die alles verloren haben. Es sind diese Stimmen, die ein äußerst differenziertes Bild der Realitäten im geschlagenen Deutschland ergeben. Wie die meisten amerikanischen Soldaten hält auch Lasky nichts vom "Fraternisierungsverbot", unterläuft es mit Fleiß und hat dabei das Glück, sich in Berlin in Brigitte zu verlieben, die er 1947 im Westsektor heiraten wird.
Laskys Beziehung zu den Deutschen ist eine besondere. Sosehr er die Nationalsozialisten auch verachtet, er hegt eine unverhohlene Sympathie für die Menschen, denen er begegnet, und bemüht sich stets, offen, ohne Vorurteile und ideologische Fixierung mit ihnen umzugehen. Eine bewegende Passage seines Tagebuchs schildert die Zusammenkunft von Juden, die den Holocaust in Polen und der Sowjetunion überlebt haben. In einem kläglich hergerichteten Raum, der als Synagoge dient, haben sie sich in Frankfurt versammelt. Lasky meint voller Trauer, dass diese Menschen keine Zukunft haben und dass es eine Judenheit in Deutschland nicht mehr geben wird.
Er hatte unrecht, so wie er mit der Einschätzung der Chancen der drei Westzonen unrecht hatte. Damals konnte er eben nicht wissen, dass er die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens im wiedervereinigten Berlin leben würde - als amerikanischer Freund der Deutschen.
Melvin Lasky: "Und alles war still". Deutsches Tagebuch 1945.
Aus dem Englischen von Christa Krüger und Henning Thies.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 491 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Willi Winkler ist begeistert von Melvin J. Laskys Tagebuchaufzeichnungen aus dem kriegszerstörten Deutschland, das der Autor als Oberleutnant der US-Army 1945 besuchte. Zwar enthält das Buch laut Rezensent keine Sensationen à la Jünger, es beeindruckt den Rezensenten jedoch gerade durch seine unkriegerische Trauer und melancholische Verzeiflung angesichts der in Trümmer liegenden deutschen Kulturlandschaft. Sogar einen verhaltenen Zorn auf die marodierenden Kameraden kann Winkler heraushören, wenn der Autor durch die Ruinenstädte fährt, und immer wieder das Staunen über den deutschen Geist und seine Regression. Schade bloß, meint Winkler, dass die Edition insgesamt so mangelhaft ist und so viele Quellenverweise vermissen lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.02.2015Wo war ihr Stolz?
Das „Deutsche Tagebuch 1945“ des amerikanischen Journalisten
Melvin Lasky ist das Zeugnis eines unkriegerischen Siegers
VON WILLI WINKLER
Mit Anteilnahme, Mitleid gar, kommt der Reporter nicht weit; er soll ja nur berichten, was er sieht. Von Hunger, Elend, Krieg, dem täglichen Grauen soll er schreiben, aber doch nicht von seinen Gefühlen, einem ganz anderen Grauen. Kaltblütigkeit ist hier eine Tugend, und die Lieben daheim profitieren womöglich sogar davon. Als das Dritte Reich langsam unterging, kehrte die Journalistin Margret Boveri aus dem sicheren Ausland zurück, für sie eine Frage der Berufsehre: „Im Jahr 1527 wäre ich auch in Rom geblieben, – einen Sacco gibt es nur alle halbe Jahrtausend.“
Der große Krieg, der 1945, nicht ganz ein Halbjahrtausend später, zäh zu Ende ging, kostete Millionen das Leben. Historiker hat er genug gefunden: Schreibtischgeneräle, Faschismusforscher, Psychologen aller Art. Auch an eifrigen Kriegsberichterstattern hat es nicht gefehlt – den Nachkriegsjournalismus in Westdeutschland hätte es ohne sie nicht gegeben –, für Amerika war unter anderem das Ehepaar Hemingway dabei, Ernest und Martha, um für heute von eaudecolognisierten Exaltationen Ernst Jüngers zu schweigen.
Oberleutnant Melvin Lasky begleitete im Jahr 1945 den Vormarsch der amerikanischen Truppen durch Frankreich nach Deutschland, erlebte die letzten Rückzugsgefechte von Jüngers „herrlichem Instrument“ und war dabei, als nach der bedingungslosen Kapitulation der Frieden einkehrte und mit ihm die wiederentdeckte Demokratie. Vorneweg zog der schneidige Panzergeneral George Patton, ein klassischer Antisemit, der die Nazis nicht nur heimlich bewunderte, doch im Tross befand sich der Kriegshistoriker Lasky, um in der Tradition der napoleonischen Feldzüge die Geschichte der glorreichen Kampagne zu schreiben.
Nebenher führte er ein Tagebuch, das jetzt zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Es liefert keine Sensationen, keinen wortgewaltigen Bericht wie Sebastian Haffners ebenfalls aus dem Nachlass veröffentlichte „Geschichte eines Deutschen“, doch es ist ein rares Dokument schon deshalb, weil es vollkommen unkriegerisch ist. Zwar behauptet der Autor einmal: „Wenn es nur nach mir ginge, würde ich morgen früh wieder zur Front aufbrechen.“ Aber das kommt von der Verzweiflung des Gelehrten über den Krieg und seine Folgen.
„Ich habe mich bemüht, die Geschichtserzählung aus ihrer offiziellen Zwangsjacke zu befreien“, verspricht er. Laskys Bericht über das Kriegs- und Friedensjahr 1945 (mit Ergänzungen aus dem folgenden Jahr) ist jedenfalls alles andere als objektiv oder unbeteiligt, sondern erfüllt von einer Trauer, zu der kein Sieger verpflichtet ist, schon gar nicht, wenn er mit seinen Kameraden Hitlers Armee bezwungen hat. Es ist ein merkwürdiges Dokument, durchtränkt von Melancholie, voller Staunen über das, was die endlich besiegten Deutschen anzurichten in der Lage waren, mit einem überraschenden Zorn auf die Kameraden, die nicht bloß als Sieger, sondern als Marodeure kommen, bereit, den unterlegenen Gegner so barbarisch zu behandeln, wie er’s getan.
Hannah Arendt wird einige Jahre später berichten, dass die Deutschen sich Postkarten ihrer Ruinenstädte schickten. Lasky erreicht sie, als die Trümmer noch rauchen. „Eine Stadt nach der anderen nur Schutt und Asche! (. . .) Jede Scheune war eine Ruine, jedes Geschäft zerstört, nur ab und an stand noch eine Kirche. Nach jedem Dorf hoffte man: Vielleicht ist der Widerstand jetzt aufgegeben worden und wenigstens etwas erhalten geblieben. Aber nein! Der nächste Ort war noch schlimmer zugerichtet. (. . .) Wir hungerten nach dem Anblick einer Wand, an der vielleicht noch ein Stück Tapete klebte oder ein Bild hing. Aber da war nichts, nur Trümmer, Schutt und Steinhaufen.“ Deutschland kehrt zur Natur zurück: „Lehm und Gestein waren der Erde zurückgegeben, und sonst war nichts da.“ Kein Tagebuch ist das, sondern Trümmerliteratur und reinste Verzweiflung. Seinem Freund, dem Kunsthistoriker Meyer Schapiro, schildert Lasky haarklein, was aus dem romantischen Heidelberg geworden ist: eine Wüstenei. In den Ruinen, im Abfall sucht er Bücher und findet drei Bände einer Goethe-Ausgabe.
Den Sickingen aus „Götz von Berlichingen“ kann der gebildete Lasky sogleich in Landstuhl situieren, wo der „letzte Ritter“ 1523 im Kampf gegen eine katholische Koalition seinen Verletzungen erlag. Doch Kriege mögen andere führen, Lasky will lesen und studieren. Nach einem Tag bei Karl Jaspers seufzt er ins Tagebuch: „Werde ich je in der Lage sein, mir die Bibliothek einzurichten, die ich bräuchte, um den Faden der deutschen Geisteswissenschaftler aufnehmen und mitreden zu können?“
Oberleutnant Lasky trägt zwar das fesche Käppi der Army, poussiert auch mit dem einen oder andern deutschen Frollain, aber mehr als alles andere interessiert ihn der deutsche Geist und wie er so herunterwirtschaften konnte. Das Schlimmste sei die Kollaboration, schmettern zwei junge Frauen in Berlin, und sie meinen nicht die mit den Nazis, sondern das Fraternisieren mit den siegreichen Soldaten der Alliierten. Hätten sie Pistolen gehabt, sie hätten bis zur letzten Frau als Partisanen gegen die Russen gekämpft. Lasky mag es gar nicht glauben: „Wo war ihr Stolz, wo irgendeine Form von Charakter? (. . .) Die beiden Mittelschichtsmädchen, die ich hier vor mir hatte, waren in ihr wahres jämmerliches Leben zurückgefallen; die Flucht aus den kleinbürgerlichen Realitäten in die fanatischen Fantasiebilder von einem faschistischen Vaterland war vorbei. Der Schein der Hingabe war verflogen, die Schäbigkeit blieb.“
In Nürnberg fanden sich im Herbst 1945 einige der damals bekanntesten Journalisten ein, darunter Willy Brandt, Golo Mann, John Steinbeck und Rebecca West. Lasky scheint den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher nur am Radio wahrzunehmen, aber „das Ausmaß ihrer intellektuellen und moralischen Verderbtheit kann ich kaum fassen“. Das ist ein historiografischer Pflichtsatz, wohl abgewogen und weit entfernt von dem grüblerischen Staunen des Tagebuchschreibers. Der von der Zwangsjacke des Kriegs- und Historikerdienstes befreite Lasky sieht ein ganz anderes Problem: Es zeigt sich beim vorgeschriebenen Ausfüllen des Fragebogens, in dem die Mitgliedschaft in Nazi-Organisationen offengelegt werden muss. Man will die Nazis loswerden und braucht sie doch. Wer soll denn das Land verwalten?
Martin Heidegger, meint Lasky, „war ein ziemlicher Fanatiker, und als Rektor der Universität führte er regelmäßig gründliche Säuberungen durch“. Im Gespräch mit Jaspers kommt der Besatzungsoffizier, der zugleich für die Bildung zuständig ist, zu dem Schluss, dass Heidegger wieder an die Uni soll. „Wir brauchen ein freies, gesundes Aufeinanderprallen von Ideen.“ Der Krieg ist vorbei, es geht um Kultur. Im „Gerippe eines zerbombten Hauses saß ein GI auf einem improvisierten Sessel und las einen Roman“, notiert er aus Nürnberg. „Wenn man einmal den Beruf erwählt hat, den ich erwählte, dann sollte man sich nicht vor den interessantesten und bösesten Augenblicken der Weltgeschichte drücken“, hat Margret Boveri erklärt. Schon deshalb gehört Laskys Sympathie dem Archäologen Ludwig Ohlenroth in Augsburg, als der ihm gesteht, wie begeistert er über die Zerstörung der Stadt durch die alliierten Bomber ist, weil er unter den Trümmern endlich nach den Überresten der römischen Ansiedlung graben kann. Noch ein Kulturmensch und kein Krieger.
Mit fast körperlichen Schmerzen hat der lesende Soldat Lasky die aufgequollenen Exemplare in der berühmten Bibliothek in Straßburg gesehen, gerührt empfängt er das Exemplar einer Zeitschrift aus dem Jahr 1901, in der Maeterlinck über den „Sieg des Automobilismus“ schreibt, in einem Bauernhaus findet er ein bibliophiles Exemplar von Augustinus’ „Gottesstaat“, dazu einen Band mit einer Untersuchung über „machiavellistische Traditionen“. Sie kann, das sieht er mit geschultem Blick, „nicht besonders subtil sein“, weil er die Quellenhinweise schon kennt. Alte Schule.
Der 1920 geborene Lasky gehörte zu den jüdischen Intellektuellen an der New Yorker New School, die die rabbinische Gelehrsamkeit der eingewanderten Väter in einen büchergelehrten Kommunismus überführten. Lasky trennte sich jedoch bald von den anderen, wurde zum Stalin-Gegner und Trotzki-Anhänger und munitionierte, aber das ist bereits Nachkriegsgeschichte, liberale und linke Intellektuelle gegen die kommunistische Versuchung.
1948 gründete er die Zeitschrift Der Monat und wurde einer der einflussreichsten Journalisten der Nachkriegsjahrzehnte. Der Monat erreichte mit seinem niedrigen Verkaufspreis von anfangs nur einer Mark zeitweise eine Auflage von 25 000. Als Teil der Unternehmung „Talk back“ wurde er von der amerikanischen Besatzungsmacht gefördert. Dieses antikommunistische und dabei grundliberale Unternehmen wurde später über verdeckte Quellen und Scheinfirmen aus Mitteln der CIA finanziert. Als die politische Subventionierung Ende der Sechziger herauskam, bestritt Lasky wenig überzeugend, dass er davon gewusst hatte. Unbestritten aber ist sein Beitrag zur kulturellen Entwicklungshilfe.
Im Kriegsjahr 1945 mündet der amerikanische Feldzug in eine deutsche Bildungsreise mit dem Ziel Heidelberg. Lasky besucht den Philosophen Karl Jaspers, der überrascht von seiner ehemaligen Studentin Hannah Arendt hört, die überlebt hat und sich in den USA einen Namen als Publizistin zu machen beginnt. Unglaublich rührend, wie der Soldat Lasky dem Philosophen , der fast zehn Jahre von der geistigen Welt abgeschlossen war, in stockendem Deutsch die neueren Strömungen der amerikanischen Philosophie vorträgt und sich reich beschenkt fühlt, als ihn Jaspers mit einem Exemplar seiner „Geistigen Situation der Zeit“ verabschiedet.
Mit Jaspers denkt Lasky nach dem Abwurf der beiden Atombomben auf Japan im August 1945 an die „bevorstehende atomare Zerstörung Europas“. Bei dieser Vorstellung wirke selbst die Gegenwart idyllisch. „Wir werden noch lernen, die Epoche des Schutts und der Trümmer wertzuschätzen!“ Trotz der allgemeinen Zerstörung ist er immer wieder überwältigt von der Schönheit des Landes – er hält sich überwiegend in Süddeutschland auf – und bemerkt doch das besiegte, aber keineswegs überwundene Barbarentum. Im Schaukasten eines Fotoladens sieht er die kleinen Mädchen in ihren Erstkommunionskleidern, die Buben nicht weniger stolz in Nazi-Uniform. Auf den Bannern am Rathaus sind die Nazi-Embleme mit Regenbogenfarben übermalt; „Blaskapellen spielen Swing, dann ein Potpourri von britischen und irischen Melodien.“
Das ist die neue Zeit, die die alte möglichst rasch vergessen will. Das Fraternisierungsverbot will beachtet und umgangen sein. Kardinal von Galen, der legendäre Hitler-Gegner, vergleicht die Amerikaner mit der Gestapo, aber der Frieden kommt, der Nationalsozialismus hat verloren. Gegen Schokolade singen die Kinder nicht nur Volkslieder, sondern auch etwas, das sie in der Schule gesungen hatten, „vor der ersten Stunde und noch einmal nach der letzten“, das Horst-Wessel-Lied, „Die Fahne hoch! Die Reihen dicht geschlossen“, aber die Kleinste quäkt mit dem herrlichen Hörmissverständnis „Pfannehoch“ dazwischen.
Bedauerlich nur, dass Laskys Text so mangelhaft ediert ist. Warum wurde das Manuskript nie veröffentlicht? Wo kommen die angehängten Briefe her? (In Elisabeth Young-Bruehls Hannah-Arendt-Biografie findet sich für einen Brief eine völlig andere Zuschreibung.) Der Herausgeber Wolfgang Schuller hofft auf mehr Philologie in einer noch ungewissen amerikanischen Ausgabe. Melvin Lasky starb 2004. Sein Grabmal auf dem Berliner Waldfriedhof ist wie ein Schreibtisch voller Bücher.
„Jede Scheune war eine Ruine,
jedes Geschäft zerstört, nur ab
und an stand noch eine Kirche“
Kriege mögen andere
führen, Melvin Lasky
will lesen und studieren
„Im Gerippe eines Hauses saß
ein GI auf einem improvisierten
Sessel und las einen Roman“
On the road: Melvin Lasky, seit 1943 „Combat Historian“ der US-Armee.
Foto: Lasky Center for Transatlantic Studies
Melvin J. Lasky: Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wolfgang Schuller. Aus dem Englischen von Christa Krüger und Henning Thies. Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 496 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Das „Deutsche Tagebuch 1945“ des amerikanischen Journalisten
Melvin Lasky ist das Zeugnis eines unkriegerischen Siegers
VON WILLI WINKLER
Mit Anteilnahme, Mitleid gar, kommt der Reporter nicht weit; er soll ja nur berichten, was er sieht. Von Hunger, Elend, Krieg, dem täglichen Grauen soll er schreiben, aber doch nicht von seinen Gefühlen, einem ganz anderen Grauen. Kaltblütigkeit ist hier eine Tugend, und die Lieben daheim profitieren womöglich sogar davon. Als das Dritte Reich langsam unterging, kehrte die Journalistin Margret Boveri aus dem sicheren Ausland zurück, für sie eine Frage der Berufsehre: „Im Jahr 1527 wäre ich auch in Rom geblieben, – einen Sacco gibt es nur alle halbe Jahrtausend.“
Der große Krieg, der 1945, nicht ganz ein Halbjahrtausend später, zäh zu Ende ging, kostete Millionen das Leben. Historiker hat er genug gefunden: Schreibtischgeneräle, Faschismusforscher, Psychologen aller Art. Auch an eifrigen Kriegsberichterstattern hat es nicht gefehlt – den Nachkriegsjournalismus in Westdeutschland hätte es ohne sie nicht gegeben –, für Amerika war unter anderem das Ehepaar Hemingway dabei, Ernest und Martha, um für heute von eaudecolognisierten Exaltationen Ernst Jüngers zu schweigen.
Oberleutnant Melvin Lasky begleitete im Jahr 1945 den Vormarsch der amerikanischen Truppen durch Frankreich nach Deutschland, erlebte die letzten Rückzugsgefechte von Jüngers „herrlichem Instrument“ und war dabei, als nach der bedingungslosen Kapitulation der Frieden einkehrte und mit ihm die wiederentdeckte Demokratie. Vorneweg zog der schneidige Panzergeneral George Patton, ein klassischer Antisemit, der die Nazis nicht nur heimlich bewunderte, doch im Tross befand sich der Kriegshistoriker Lasky, um in der Tradition der napoleonischen Feldzüge die Geschichte der glorreichen Kampagne zu schreiben.
Nebenher führte er ein Tagebuch, das jetzt zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Es liefert keine Sensationen, keinen wortgewaltigen Bericht wie Sebastian Haffners ebenfalls aus dem Nachlass veröffentlichte „Geschichte eines Deutschen“, doch es ist ein rares Dokument schon deshalb, weil es vollkommen unkriegerisch ist. Zwar behauptet der Autor einmal: „Wenn es nur nach mir ginge, würde ich morgen früh wieder zur Front aufbrechen.“ Aber das kommt von der Verzweiflung des Gelehrten über den Krieg und seine Folgen.
„Ich habe mich bemüht, die Geschichtserzählung aus ihrer offiziellen Zwangsjacke zu befreien“, verspricht er. Laskys Bericht über das Kriegs- und Friedensjahr 1945 (mit Ergänzungen aus dem folgenden Jahr) ist jedenfalls alles andere als objektiv oder unbeteiligt, sondern erfüllt von einer Trauer, zu der kein Sieger verpflichtet ist, schon gar nicht, wenn er mit seinen Kameraden Hitlers Armee bezwungen hat. Es ist ein merkwürdiges Dokument, durchtränkt von Melancholie, voller Staunen über das, was die endlich besiegten Deutschen anzurichten in der Lage waren, mit einem überraschenden Zorn auf die Kameraden, die nicht bloß als Sieger, sondern als Marodeure kommen, bereit, den unterlegenen Gegner so barbarisch zu behandeln, wie er’s getan.
Hannah Arendt wird einige Jahre später berichten, dass die Deutschen sich Postkarten ihrer Ruinenstädte schickten. Lasky erreicht sie, als die Trümmer noch rauchen. „Eine Stadt nach der anderen nur Schutt und Asche! (. . .) Jede Scheune war eine Ruine, jedes Geschäft zerstört, nur ab und an stand noch eine Kirche. Nach jedem Dorf hoffte man: Vielleicht ist der Widerstand jetzt aufgegeben worden und wenigstens etwas erhalten geblieben. Aber nein! Der nächste Ort war noch schlimmer zugerichtet. (. . .) Wir hungerten nach dem Anblick einer Wand, an der vielleicht noch ein Stück Tapete klebte oder ein Bild hing. Aber da war nichts, nur Trümmer, Schutt und Steinhaufen.“ Deutschland kehrt zur Natur zurück: „Lehm und Gestein waren der Erde zurückgegeben, und sonst war nichts da.“ Kein Tagebuch ist das, sondern Trümmerliteratur und reinste Verzweiflung. Seinem Freund, dem Kunsthistoriker Meyer Schapiro, schildert Lasky haarklein, was aus dem romantischen Heidelberg geworden ist: eine Wüstenei. In den Ruinen, im Abfall sucht er Bücher und findet drei Bände einer Goethe-Ausgabe.
Den Sickingen aus „Götz von Berlichingen“ kann der gebildete Lasky sogleich in Landstuhl situieren, wo der „letzte Ritter“ 1523 im Kampf gegen eine katholische Koalition seinen Verletzungen erlag. Doch Kriege mögen andere führen, Lasky will lesen und studieren. Nach einem Tag bei Karl Jaspers seufzt er ins Tagebuch: „Werde ich je in der Lage sein, mir die Bibliothek einzurichten, die ich bräuchte, um den Faden der deutschen Geisteswissenschaftler aufnehmen und mitreden zu können?“
Oberleutnant Lasky trägt zwar das fesche Käppi der Army, poussiert auch mit dem einen oder andern deutschen Frollain, aber mehr als alles andere interessiert ihn der deutsche Geist und wie er so herunterwirtschaften konnte. Das Schlimmste sei die Kollaboration, schmettern zwei junge Frauen in Berlin, und sie meinen nicht die mit den Nazis, sondern das Fraternisieren mit den siegreichen Soldaten der Alliierten. Hätten sie Pistolen gehabt, sie hätten bis zur letzten Frau als Partisanen gegen die Russen gekämpft. Lasky mag es gar nicht glauben: „Wo war ihr Stolz, wo irgendeine Form von Charakter? (. . .) Die beiden Mittelschichtsmädchen, die ich hier vor mir hatte, waren in ihr wahres jämmerliches Leben zurückgefallen; die Flucht aus den kleinbürgerlichen Realitäten in die fanatischen Fantasiebilder von einem faschistischen Vaterland war vorbei. Der Schein der Hingabe war verflogen, die Schäbigkeit blieb.“
In Nürnberg fanden sich im Herbst 1945 einige der damals bekanntesten Journalisten ein, darunter Willy Brandt, Golo Mann, John Steinbeck und Rebecca West. Lasky scheint den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher nur am Radio wahrzunehmen, aber „das Ausmaß ihrer intellektuellen und moralischen Verderbtheit kann ich kaum fassen“. Das ist ein historiografischer Pflichtsatz, wohl abgewogen und weit entfernt von dem grüblerischen Staunen des Tagebuchschreibers. Der von der Zwangsjacke des Kriegs- und Historikerdienstes befreite Lasky sieht ein ganz anderes Problem: Es zeigt sich beim vorgeschriebenen Ausfüllen des Fragebogens, in dem die Mitgliedschaft in Nazi-Organisationen offengelegt werden muss. Man will die Nazis loswerden und braucht sie doch. Wer soll denn das Land verwalten?
Martin Heidegger, meint Lasky, „war ein ziemlicher Fanatiker, und als Rektor der Universität führte er regelmäßig gründliche Säuberungen durch“. Im Gespräch mit Jaspers kommt der Besatzungsoffizier, der zugleich für die Bildung zuständig ist, zu dem Schluss, dass Heidegger wieder an die Uni soll. „Wir brauchen ein freies, gesundes Aufeinanderprallen von Ideen.“ Der Krieg ist vorbei, es geht um Kultur. Im „Gerippe eines zerbombten Hauses saß ein GI auf einem improvisierten Sessel und las einen Roman“, notiert er aus Nürnberg. „Wenn man einmal den Beruf erwählt hat, den ich erwählte, dann sollte man sich nicht vor den interessantesten und bösesten Augenblicken der Weltgeschichte drücken“, hat Margret Boveri erklärt. Schon deshalb gehört Laskys Sympathie dem Archäologen Ludwig Ohlenroth in Augsburg, als der ihm gesteht, wie begeistert er über die Zerstörung der Stadt durch die alliierten Bomber ist, weil er unter den Trümmern endlich nach den Überresten der römischen Ansiedlung graben kann. Noch ein Kulturmensch und kein Krieger.
Mit fast körperlichen Schmerzen hat der lesende Soldat Lasky die aufgequollenen Exemplare in der berühmten Bibliothek in Straßburg gesehen, gerührt empfängt er das Exemplar einer Zeitschrift aus dem Jahr 1901, in der Maeterlinck über den „Sieg des Automobilismus“ schreibt, in einem Bauernhaus findet er ein bibliophiles Exemplar von Augustinus’ „Gottesstaat“, dazu einen Band mit einer Untersuchung über „machiavellistische Traditionen“. Sie kann, das sieht er mit geschultem Blick, „nicht besonders subtil sein“, weil er die Quellenhinweise schon kennt. Alte Schule.
Der 1920 geborene Lasky gehörte zu den jüdischen Intellektuellen an der New Yorker New School, die die rabbinische Gelehrsamkeit der eingewanderten Väter in einen büchergelehrten Kommunismus überführten. Lasky trennte sich jedoch bald von den anderen, wurde zum Stalin-Gegner und Trotzki-Anhänger und munitionierte, aber das ist bereits Nachkriegsgeschichte, liberale und linke Intellektuelle gegen die kommunistische Versuchung.
1948 gründete er die Zeitschrift Der Monat und wurde einer der einflussreichsten Journalisten der Nachkriegsjahrzehnte. Der Monat erreichte mit seinem niedrigen Verkaufspreis von anfangs nur einer Mark zeitweise eine Auflage von 25 000. Als Teil der Unternehmung „Talk back“ wurde er von der amerikanischen Besatzungsmacht gefördert. Dieses antikommunistische und dabei grundliberale Unternehmen wurde später über verdeckte Quellen und Scheinfirmen aus Mitteln der CIA finanziert. Als die politische Subventionierung Ende der Sechziger herauskam, bestritt Lasky wenig überzeugend, dass er davon gewusst hatte. Unbestritten aber ist sein Beitrag zur kulturellen Entwicklungshilfe.
Im Kriegsjahr 1945 mündet der amerikanische Feldzug in eine deutsche Bildungsreise mit dem Ziel Heidelberg. Lasky besucht den Philosophen Karl Jaspers, der überrascht von seiner ehemaligen Studentin Hannah Arendt hört, die überlebt hat und sich in den USA einen Namen als Publizistin zu machen beginnt. Unglaublich rührend, wie der Soldat Lasky dem Philosophen , der fast zehn Jahre von der geistigen Welt abgeschlossen war, in stockendem Deutsch die neueren Strömungen der amerikanischen Philosophie vorträgt und sich reich beschenkt fühlt, als ihn Jaspers mit einem Exemplar seiner „Geistigen Situation der Zeit“ verabschiedet.
Mit Jaspers denkt Lasky nach dem Abwurf der beiden Atombomben auf Japan im August 1945 an die „bevorstehende atomare Zerstörung Europas“. Bei dieser Vorstellung wirke selbst die Gegenwart idyllisch. „Wir werden noch lernen, die Epoche des Schutts und der Trümmer wertzuschätzen!“ Trotz der allgemeinen Zerstörung ist er immer wieder überwältigt von der Schönheit des Landes – er hält sich überwiegend in Süddeutschland auf – und bemerkt doch das besiegte, aber keineswegs überwundene Barbarentum. Im Schaukasten eines Fotoladens sieht er die kleinen Mädchen in ihren Erstkommunionskleidern, die Buben nicht weniger stolz in Nazi-Uniform. Auf den Bannern am Rathaus sind die Nazi-Embleme mit Regenbogenfarben übermalt; „Blaskapellen spielen Swing, dann ein Potpourri von britischen und irischen Melodien.“
Das ist die neue Zeit, die die alte möglichst rasch vergessen will. Das Fraternisierungsverbot will beachtet und umgangen sein. Kardinal von Galen, der legendäre Hitler-Gegner, vergleicht die Amerikaner mit der Gestapo, aber der Frieden kommt, der Nationalsozialismus hat verloren. Gegen Schokolade singen die Kinder nicht nur Volkslieder, sondern auch etwas, das sie in der Schule gesungen hatten, „vor der ersten Stunde und noch einmal nach der letzten“, das Horst-Wessel-Lied, „Die Fahne hoch! Die Reihen dicht geschlossen“, aber die Kleinste quäkt mit dem herrlichen Hörmissverständnis „Pfannehoch“ dazwischen.
Bedauerlich nur, dass Laskys Text so mangelhaft ediert ist. Warum wurde das Manuskript nie veröffentlicht? Wo kommen die angehängten Briefe her? (In Elisabeth Young-Bruehls Hannah-Arendt-Biografie findet sich für einen Brief eine völlig andere Zuschreibung.) Der Herausgeber Wolfgang Schuller hofft auf mehr Philologie in einer noch ungewissen amerikanischen Ausgabe. Melvin Lasky starb 2004. Sein Grabmal auf dem Berliner Waldfriedhof ist wie ein Schreibtisch voller Bücher.
„Jede Scheune war eine Ruine,
jedes Geschäft zerstört, nur ab
und an stand noch eine Kirche“
Kriege mögen andere
führen, Melvin Lasky
will lesen und studieren
„Im Gerippe eines Hauses saß
ein GI auf einem improvisierten
Sessel und las einen Roman“
On the road: Melvin Lasky, seit 1943 „Combat Historian“ der US-Armee.
Foto: Lasky Center for Transatlantic Studies
Melvin J. Lasky: Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wolfgang Schuller. Aus dem Englischen von Christa Krüger und Henning Thies. Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 496 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
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