Dies ist die Geschichte von Lucinda. Lucinda ist schön, lebenshungrig und leuchtet wie ein Stern. So hell und so schön und gleichzeitig Lichtjahre entfernt. Lucinda scheint in einer anderen Welt zu leben, nach eigenen, erbarmungslosen Regeln. Wer Lucinda liebt, muss ertragen, ihr niemals richtig nah sein zu können. So sind Sterne eben. Und manchmal fallen sie vom Himmel und verglühen. Einfach so.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Worum handelt es sich bei diesem Buch? Katharina Laszlo stellt zwar fest, dass die Autorin Lara Schützsack ihre magersüchtige Protagonistin in den Vordergrund der Handlung stellt, deren Gedanken jedoch ausspart, indem sie aus der Perspektive der kleinen Schwester erzählt. Laut Laszlo vermeidet sie so das Etikett "Magersuchtsbuch" und bietet vor allem eine Annäherung ans Erwachsenwerden, bei der die Krankheit nur als Metapher fungiert für die Verletzlichkeit und Besonderheit der Heldin. Zum Thema Magersucht hat das Buch denn laut Rezensentin nicht allzu viel Neues beizutragen. Allerdings gelingt ihr das Kunststück, die Umstände der Krankheit in die richtigen Worte zu fassen, meint Laszlo anerkennend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2014Vielleicht verwandelt sie sich ja in eine Libelle
Auf der Reise nach Tenebrien: Lara Schützsacks virtuoses Debüt feiert eine Magersüchtige, aber nicht die Magersucht
Auf den ersten Blick ist Ana eine wirklich gute Freundin. Jederzeit und überall erreichbar, verständnisvoll selbst dann, wenn andere nicht mehr zuhören oder hinsehen wollen. Selbst die abseitigsten Mädchenwünsche respektiert sie. Ana ist eine Gedankenkonstruktion, ein krudes poetisches Hilfsmittel der sogenannten Pro-Anorexie-Bewegung, die Personifikation der Magersucht. Eine Identifikationsfigur, die Dinge sagt wie "Du wirst kein Problem damit haben, dich an Regeln zu halten, weil du stark bist!" und Mädchen dazu bringen will, das Nichtessen mit dem Starksein zu verwechseln. In den Köpfen junger Frauen und den Seiten im Internet, wo sie lebt, inszeniert sie die Magersucht als Entscheidung, einen Lebensstil, eine Manifestation der Selbstdisziplin.
Ob Lucinda, die siebzehnjährige Protagonistin in Lara Schützsacks soeben mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis ausgezeichneten Debütroman "Und auch so bitterkalt", mit Ana befreundet ist, wissen wir nicht. Keinen Zugang haben wir zu ihren Gedanken, den strikten Regeln, die sie sich auferlegen muss, um am Ende des Textes so fragil zu sein, dass der Vater das Haus mit Teppichen polstert und die Mutter sie nicht mehr zur Schule gehen lässt. Die Geschichte von Lucindas Selbstauszehrung erzählt Schützsack in spärlichen, bildstarken Randbemerkungen, zoomt auf Streichholzbeine, Wespentaille oder den Apfel, dem das Mädchen nur den Saft aussaugt. Als sich im fortgeschrittenen Stadium ihr Rücken mit einem Haarflaum überzieht, um sich warm zu halten, fragt Lucinda: "Schön, oder?" Ihre jüngere Schwester Malina nickt.
Gefiltert durch die Wahrnehmung der dreizehnjährigen Malina, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, ist Lucinda keinen Augenblick weniger als anbetungswürdig. So erblasst die Magersucht, eine Krankheit des Mangels, neben Lucindas überwältigender Präsenz: "Lucinda ist so ein Mädchen, nach dem sich die Menschen auf der Straße umdrehen", überlegt Malina, "nicht weil sie einfach nur schön ist, sondern weil man spürt, dass etwas mit ihr passieren wird. Etwas, das nicht jedem passiert. Man spürt es an der Art, wie sie sich bewegt, an dem Luftzug, der einen streift, wenn sie an einem vorüber geht."
Nichts, was Lucinda tut, entgeht Malina, die ihre Schwester nicht versteht, diese aber zu entschlüsseln versucht wie das komplexeste, atemberaubendste Gedicht. Vor Sorge paranoid wie die Blicke der Eltern, oder gar abwertend wie die der Klassenkameraden, wird ihre aufmerksame Beobachtung an keiner Stelle.
Als alles spürendes, unergründliches, überglückliches, tieftrauriges, ganz besonderes Wesen tritt Lucinda hier in Erscheinung. Man könnte auch sagen: als Teenager. Schützsacks Roman will kein Magersuchtsbuch sein, vielmehr eine einfühlsame, nachdenkliche Annäherung ans Erwachsenwerden. Krankheit dient Schützsack lediglich als Metapher, als Mittel zum Zweck in einem Buch, das große Probleme verhandelt, ohne zu urteilen, das Abstraktem Form gibt und gleichzeitig unendlich offen bleibt.
Dass dies gelingt, zeigt sich sehr rasch, wenn nicht schon nach dem allerersten Satz - "Am Himmel steht, rund und unglaublich gelb, der Mond" -, dann nach der allerersten Szene, in der sich die Schwestern in tiefster Nacht auf eine Brücke legen und sich von Tenebrien erzählen, jenem überirdischen Phantasie-Exil für alle "Dünnhäutigen, die Gläsernen, diejenigen, die zu viel wünschen."
Auch wenn es Schützsack also um viel mehr geht als ums Hungern - dafür, dass sie sich gerade die Anorexie ausgesucht hat, um das Seelenleben ihrer Protagonistin so qualvoll zu gestalten, dass diese später nach Tenebrien aufbricht, hat "Und auch so bitterkalt" nur wenig Überraschendes zum Thema beizutragen. Vielleicht verwandelt sich Lucinda, so spekuliert die Familie in ihrer Hilflosigkeit, ja in eine Libelle oder einen Vogel, "weil sie in diesem Körper nicht leben kann." Die ewigen Mythen vom leidenden weiblichen Körper als Objekt der Begutachtung, als Projektionsfläche und als Käfig, das Bild vom körperlichen Hungern als Sichtbarmachen eines seelischen Hungers - all dies neuerlich zu verwenden, macht die Beobachtungen, die dahinterstecken, zwar nicht weniger scharfsinnig. Für die Darstellung von Lucindas Leid auf dieser Welt hätte Schützsack jedoch, das bezeugen zahlreiche nuancierte Passagen im Buch, mühelos ohne Anleihen in der Kulturgeschichte auskommen können.
Uneingeschränkt glorifiziert Schützsack ihre selbstzerstörerische Heldin, niemals aber die Selbstzerstörung. Ihr Roman feiert eine Magersüchtige, niemals aber die Magersucht. Hätte es aber geschadet, sich dem konkreten Grund für Lucindas langsamen Verschwinden ausführlicher zu widmen?
Lucindas Gedanken auszusparen und sich nicht auf ihre Logik einzulassen, ist literarisch gesehen eine weise Entscheidung. Dass sich das Innenleben einer Anorektikerin, aus nichts als Vorschriften und Verboten bestehend, denkbar schwierig in Literatur verwandeln lässt, wird in jenen Internetforen allzu deutlich, in denen die Magersuchts-Ikone Ana im Befehlston ihre einfältigen Gebote verkündet. Der Weg von "Zähl genau nach, wie oft du abbeißt, wie oft du kaust!" und "Nimm einen Schluck Apfelessig vor jeder Mahlzeit!" zur Poesie ist beschwerlich. Allerdings muss man sich fragen, ob diese flüchtige Betrachtung der Krankheit primär auf ästhetischen oder auf moralischen Prinzipien beruht - auf der Sorge, durch die allzu anschauliche Schilderung der Magersucht anfällige Leserinnen näher an die Krankheit heranzuführen. Doch jedes Buch über die Magersucht ist ein Magersuchtsbuch. Es gibt Leselisten auf Amazon, auf denen Mädchen ihre inspirierendsten Magersuchtslektüren aufzählen, darunter auch von Kritikern gefeierte Jugendbücher, die diese Krankheit eigentlich deutlich problematisieren. Jeder Text kann zum Hungern animieren, wenn er von einem erkrankten Mädchen gelesen wird.
Mit der unmöglichen Aufgabe, das ästhetisch richtige Wort noch für die entsetzlichsten Umstände finden zu müssen, schlägt sich die Literatur seit jeher herum. Die Lösung, die Lara Schützsack dafür gefunden hat, beeindruckt jedenfalls mit einer hochmusikalischen Sprache und einem leisen Beben, hinter dem bei aller Bewunderung der kleinen Schwester für die große immer auch die Angst spürbar wird, einen geliebten Menschen zu verlieren.
KATHARINA LASZLO
Lara Schützsack: "Und auch so bitterkalt".
Fischer KJB, Frankfurt 2014. 176 S., geb., 14,99 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Reise nach Tenebrien: Lara Schützsacks virtuoses Debüt feiert eine Magersüchtige, aber nicht die Magersucht
Auf den ersten Blick ist Ana eine wirklich gute Freundin. Jederzeit und überall erreichbar, verständnisvoll selbst dann, wenn andere nicht mehr zuhören oder hinsehen wollen. Selbst die abseitigsten Mädchenwünsche respektiert sie. Ana ist eine Gedankenkonstruktion, ein krudes poetisches Hilfsmittel der sogenannten Pro-Anorexie-Bewegung, die Personifikation der Magersucht. Eine Identifikationsfigur, die Dinge sagt wie "Du wirst kein Problem damit haben, dich an Regeln zu halten, weil du stark bist!" und Mädchen dazu bringen will, das Nichtessen mit dem Starksein zu verwechseln. In den Köpfen junger Frauen und den Seiten im Internet, wo sie lebt, inszeniert sie die Magersucht als Entscheidung, einen Lebensstil, eine Manifestation der Selbstdisziplin.
Ob Lucinda, die siebzehnjährige Protagonistin in Lara Schützsacks soeben mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis ausgezeichneten Debütroman "Und auch so bitterkalt", mit Ana befreundet ist, wissen wir nicht. Keinen Zugang haben wir zu ihren Gedanken, den strikten Regeln, die sie sich auferlegen muss, um am Ende des Textes so fragil zu sein, dass der Vater das Haus mit Teppichen polstert und die Mutter sie nicht mehr zur Schule gehen lässt. Die Geschichte von Lucindas Selbstauszehrung erzählt Schützsack in spärlichen, bildstarken Randbemerkungen, zoomt auf Streichholzbeine, Wespentaille oder den Apfel, dem das Mädchen nur den Saft aussaugt. Als sich im fortgeschrittenen Stadium ihr Rücken mit einem Haarflaum überzieht, um sich warm zu halten, fragt Lucinda: "Schön, oder?" Ihre jüngere Schwester Malina nickt.
Gefiltert durch die Wahrnehmung der dreizehnjährigen Malina, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, ist Lucinda keinen Augenblick weniger als anbetungswürdig. So erblasst die Magersucht, eine Krankheit des Mangels, neben Lucindas überwältigender Präsenz: "Lucinda ist so ein Mädchen, nach dem sich die Menschen auf der Straße umdrehen", überlegt Malina, "nicht weil sie einfach nur schön ist, sondern weil man spürt, dass etwas mit ihr passieren wird. Etwas, das nicht jedem passiert. Man spürt es an der Art, wie sie sich bewegt, an dem Luftzug, der einen streift, wenn sie an einem vorüber geht."
Nichts, was Lucinda tut, entgeht Malina, die ihre Schwester nicht versteht, diese aber zu entschlüsseln versucht wie das komplexeste, atemberaubendste Gedicht. Vor Sorge paranoid wie die Blicke der Eltern, oder gar abwertend wie die der Klassenkameraden, wird ihre aufmerksame Beobachtung an keiner Stelle.
Als alles spürendes, unergründliches, überglückliches, tieftrauriges, ganz besonderes Wesen tritt Lucinda hier in Erscheinung. Man könnte auch sagen: als Teenager. Schützsacks Roman will kein Magersuchtsbuch sein, vielmehr eine einfühlsame, nachdenkliche Annäherung ans Erwachsenwerden. Krankheit dient Schützsack lediglich als Metapher, als Mittel zum Zweck in einem Buch, das große Probleme verhandelt, ohne zu urteilen, das Abstraktem Form gibt und gleichzeitig unendlich offen bleibt.
Dass dies gelingt, zeigt sich sehr rasch, wenn nicht schon nach dem allerersten Satz - "Am Himmel steht, rund und unglaublich gelb, der Mond" -, dann nach der allerersten Szene, in der sich die Schwestern in tiefster Nacht auf eine Brücke legen und sich von Tenebrien erzählen, jenem überirdischen Phantasie-Exil für alle "Dünnhäutigen, die Gläsernen, diejenigen, die zu viel wünschen."
Auch wenn es Schützsack also um viel mehr geht als ums Hungern - dafür, dass sie sich gerade die Anorexie ausgesucht hat, um das Seelenleben ihrer Protagonistin so qualvoll zu gestalten, dass diese später nach Tenebrien aufbricht, hat "Und auch so bitterkalt" nur wenig Überraschendes zum Thema beizutragen. Vielleicht verwandelt sich Lucinda, so spekuliert die Familie in ihrer Hilflosigkeit, ja in eine Libelle oder einen Vogel, "weil sie in diesem Körper nicht leben kann." Die ewigen Mythen vom leidenden weiblichen Körper als Objekt der Begutachtung, als Projektionsfläche und als Käfig, das Bild vom körperlichen Hungern als Sichtbarmachen eines seelischen Hungers - all dies neuerlich zu verwenden, macht die Beobachtungen, die dahinterstecken, zwar nicht weniger scharfsinnig. Für die Darstellung von Lucindas Leid auf dieser Welt hätte Schützsack jedoch, das bezeugen zahlreiche nuancierte Passagen im Buch, mühelos ohne Anleihen in der Kulturgeschichte auskommen können.
Uneingeschränkt glorifiziert Schützsack ihre selbstzerstörerische Heldin, niemals aber die Selbstzerstörung. Ihr Roman feiert eine Magersüchtige, niemals aber die Magersucht. Hätte es aber geschadet, sich dem konkreten Grund für Lucindas langsamen Verschwinden ausführlicher zu widmen?
Lucindas Gedanken auszusparen und sich nicht auf ihre Logik einzulassen, ist literarisch gesehen eine weise Entscheidung. Dass sich das Innenleben einer Anorektikerin, aus nichts als Vorschriften und Verboten bestehend, denkbar schwierig in Literatur verwandeln lässt, wird in jenen Internetforen allzu deutlich, in denen die Magersuchts-Ikone Ana im Befehlston ihre einfältigen Gebote verkündet. Der Weg von "Zähl genau nach, wie oft du abbeißt, wie oft du kaust!" und "Nimm einen Schluck Apfelessig vor jeder Mahlzeit!" zur Poesie ist beschwerlich. Allerdings muss man sich fragen, ob diese flüchtige Betrachtung der Krankheit primär auf ästhetischen oder auf moralischen Prinzipien beruht - auf der Sorge, durch die allzu anschauliche Schilderung der Magersucht anfällige Leserinnen näher an die Krankheit heranzuführen. Doch jedes Buch über die Magersucht ist ein Magersuchtsbuch. Es gibt Leselisten auf Amazon, auf denen Mädchen ihre inspirierendsten Magersuchtslektüren aufzählen, darunter auch von Kritikern gefeierte Jugendbücher, die diese Krankheit eigentlich deutlich problematisieren. Jeder Text kann zum Hungern animieren, wenn er von einem erkrankten Mädchen gelesen wird.
Mit der unmöglichen Aufgabe, das ästhetisch richtige Wort noch für die entsetzlichsten Umstände finden zu müssen, schlägt sich die Literatur seit jeher herum. Die Lösung, die Lara Schützsack dafür gefunden hat, beeindruckt jedenfalls mit einer hochmusikalischen Sprache und einem leisen Beben, hinter dem bei aller Bewunderung der kleinen Schwester für die große immer auch die Angst spürbar wird, einen geliebten Menschen zu verlieren.
KATHARINA LASZLO
Lara Schützsack: "Und auch so bitterkalt".
Fischer KJB, Frankfurt 2014. 176 S., geb., 14,99 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lara Schützsack schafft es in ihrem sprachlich zarten Debüt, diese sehnsüchtige, auf Selbstoptimierung getrimmte, auf das Dünn-Sein fixierte Welt von Lucinda einzufangen. Jan Drees WDR Eins live 20140414