Kein Tag hat sich stärker ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Die Bilder, die Geschichten, die Konsequenzen. Doch die Worte derer, die den 11. September tatsächlich erlebt haben, fehlten fast zwanzig Jahre lang. Garrett M. Graff hat diese Worte gefunden, er hat alle Dokumente, alle Interviews zusammengetragen, hat die Stimmen der Einsatzkräfte, der Zeugen, der Überlebenden versammelt und daraus eine überwältigende Erzählung kompiliert - vielstimmig, erfahrungsecht, im O-Ton.
Und auf einmal diese Stille ist das herzzerreißende Logbuch eines historischen Tages und ein monumentales Zeugnis von Hoffnung und Menschlichkeit in der Dunkelheit.
Und auf einmal diese Stille ist das herzzerreißende Logbuch eines historischen Tages und ein monumentales Zeugnis von Hoffnung und Menschlichkeit in der Dunkelheit.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Susanne Billig bedauert, dass Garrett M. Graff in seiner aus lauter unterschiedlichen Stimmen bestehenden Chronik des 11. Septembers vor allem das Märchen vom amerikanischen Helden weitererzählt. Genau eine muslimische Stimme kommt in dem Buch vor, zählt Billig. Was dem Band an Differenzierung fehlt, macht das "packende, bewegende" Panorama von Erfahrungen und Erlebnissen von Feuerwehrleuten, Behördenmitarbeitern, Politikern und Angestellten im World Trade Center an diesem Tag wett, findet Billig allerdings. Das Buch liest sich wie ein Hollywood-Blockbuster, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.08.2021Nah dran
Die Zeitzeugenberichte, Reportagen und Analysen
zu 9/11 sind kaum zu überblicken. Eine Auswahl
„Und auf einmal war da diese Stille“. Immer wieder berichten Augenzeugen im gleichnamigen Buch von Garrett M. Graff von Momenten der Apathie, die sie unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September erlebten: In der Air Force One, wo sich ein Berater nach dem anderen aus der Präsidentenkabine schleicht, bis George W. Bush alleine vor dem Fernsehgerät steht. In Manhattan, wo Überlebende davon berichten, wie der Trümmerstaub jeden Schall verschluckte. Um die „Oral History des 11. September“ der Anschläge zu erzählen, hat Graff in den vergangenen Jahren 500 Zeitzeugenberichte gesammelt und in 64 Kapiteln verdichtet. Das Ergebnis ist ein Mammutwerk von 500 Seiten, das auch als mehr als 17 Stunden langes Hörbuch erlebbar ist und den Tag der Zeitenwende minutiös nachzeichnet.
Unmittelbar nach den Anschlägen hatte bereits Gilles Peress einen ähnlichen collagierenden Ansatz gewählt – als Dokumentar-Fotograf und Mitglied der Agentur Magnum konzentrierte er sich jedoch auf eine optische Erzählweise. In „Here is New York – a democracy of photographs“ sammelte Peress Hunderte Schnappschüsse, mit denen Bürger und Besucher der Stadt instinktiv festhielten, was sie zu diesem Zeitpunkt wohl kaum begreifen konnten. Noch bevor soziale Medien es jedem Nutzer ermöglichten, zum Dokumentar des Geschehens zu werden, demokratisierte Peress so die Abbildung der Zeitgeschichte. Das fast 900 Seiten dicke Buch lässt sich im Netz erstaunlich günstig antiquarisch beziehen.
Lawrence Wrights Werk „Der Tod wird euch finden“ hingegen stellt weniger individuelle Schreckenserlebnisse des 11. September in den Mittelpunkt, sondern erzählt dessen Genese. Der Journalist und Schriftsteller führte hunderte Interviews, auf deren Basis er die Lebenswege von Osama bin Laden und dessen Stellvertreter, einem FBI-Ermittler und dem damaligen saudischen Geheimdienstchef schildert – und dabei gleichsam die scheinbar dämonisch-genialischen Terroristen entzaubert wie ihre Gegenspieler. Wright erhielt für das Buch den Pulitzerpreis, das auch 14 Jahre nach dem Ersterscheinen zu den umfassendsten Aufarbeitungen der Attentate zählt und 2018 als Serie für Amazon Prime Video adaptiert wurde.
Weniger erzählerisch im Stile von US-Großreportern glänzend, als hanseatisch-trocken im Ton ist Behnam Saids „Geschichte al-Qaidas: Bin Laden, der 11. September und die tausend Fronten des Terrors heute“. Said, der zwischenzeitlich als Analyst für den Hamburger Verfassungsschutz gearbeitet hat, zeichnet die Auswirkungen von 9/11 bis in die Gegenwart nach und analysiert die Metamorphosen des islamistischen Terrors – und zeigt, warum der vermeintliche Bedeutungsverlust von al-Qaida kein Grund für Entwarnung ist.
Dass Osama bin Laden hinter den Anschlägen stand, wird von Verschwörungsgläubigen bis heute oft bestritten. Dass in Wirklichkeit die amerikanische Regierung selbst, die CIA oder der Mossad die Türme von New York sprengten, untermauern diese Menschen dann gerne mit dem, was sie an der Youtube-Universität gelernt haben. Viele dieser scheinwissenschaftlichen Argumentationen haben sich die Redakteure des US-Magazins Popular Mechanics angesehen und meist recht einfach entkräften können. Kein Wunder, dass sich bald selbst ein Verschwörungsmythos um die Autoren von „Debunking 9/11 Myths: Why Conspiracy Theories Can’t Stand up to the Facts“ rankte, der sie als Handlanger der US-Regierung überführen sollte. Zum zehnten Jahrestag der Anschläge veröffentlichten die Herausgeber eine überarbeitete Version, die durch das jüngste Erstarken von Verschwörungserzählungen eher noch an Relevanz gewonnen hat.
Sehr real waren im Gegensatz zu den Verschwörungsmythen die Auswirkungen der Anschläge auf die amerikanische Politik, die sich weit von den demokratisch-rechtsstaatlichen Werten entfernte. Wie weit, wird im „Guantanamo-Tagebuch unzensiert“ deutlich, das der Mauretanier Mohamedou Ould Slahi in Haft schrieb. 14 Jahre lang war der in den Neunzigerjahren in Duisburg lebende Elektroingenieur in der US-Enklave auf Kuba eingesperrt und wurde gefoltert, nie wurde eine Anklage gegen ihn erhoben. Slahi schrieb seine Geschichte zunächst nur für seine Anwälte auf, zunächst heftig entstellt von US-Zensoren wurden die Memoiren dann publiziert und ein internationaler Bestseller. Die Filmadaption („Der Mauretanier“) kam dieses Jahr in die Kinos.
MORITZ BAUMSTIEGER
Dass bin Laden hinter den
Anschlägen steckte, wird bis
heute von einigen bestritten
Garrett M. Graff (Hg.): Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 537 Seiten, 20 Euro.
Mohamedou Ould Slahi: Das Guantanamo-Tagebuch, unzensiert. Tropen Verlag, Stuttgart 2018.
495 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Zeitzeugenberichte, Reportagen und Analysen
zu 9/11 sind kaum zu überblicken. Eine Auswahl
„Und auf einmal war da diese Stille“. Immer wieder berichten Augenzeugen im gleichnamigen Buch von Garrett M. Graff von Momenten der Apathie, die sie unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September erlebten: In der Air Force One, wo sich ein Berater nach dem anderen aus der Präsidentenkabine schleicht, bis George W. Bush alleine vor dem Fernsehgerät steht. In Manhattan, wo Überlebende davon berichten, wie der Trümmerstaub jeden Schall verschluckte. Um die „Oral History des 11. September“ der Anschläge zu erzählen, hat Graff in den vergangenen Jahren 500 Zeitzeugenberichte gesammelt und in 64 Kapiteln verdichtet. Das Ergebnis ist ein Mammutwerk von 500 Seiten, das auch als mehr als 17 Stunden langes Hörbuch erlebbar ist und den Tag der Zeitenwende minutiös nachzeichnet.
Unmittelbar nach den Anschlägen hatte bereits Gilles Peress einen ähnlichen collagierenden Ansatz gewählt – als Dokumentar-Fotograf und Mitglied der Agentur Magnum konzentrierte er sich jedoch auf eine optische Erzählweise. In „Here is New York – a democracy of photographs“ sammelte Peress Hunderte Schnappschüsse, mit denen Bürger und Besucher der Stadt instinktiv festhielten, was sie zu diesem Zeitpunkt wohl kaum begreifen konnten. Noch bevor soziale Medien es jedem Nutzer ermöglichten, zum Dokumentar des Geschehens zu werden, demokratisierte Peress so die Abbildung der Zeitgeschichte. Das fast 900 Seiten dicke Buch lässt sich im Netz erstaunlich günstig antiquarisch beziehen.
Lawrence Wrights Werk „Der Tod wird euch finden“ hingegen stellt weniger individuelle Schreckenserlebnisse des 11. September in den Mittelpunkt, sondern erzählt dessen Genese. Der Journalist und Schriftsteller führte hunderte Interviews, auf deren Basis er die Lebenswege von Osama bin Laden und dessen Stellvertreter, einem FBI-Ermittler und dem damaligen saudischen Geheimdienstchef schildert – und dabei gleichsam die scheinbar dämonisch-genialischen Terroristen entzaubert wie ihre Gegenspieler. Wright erhielt für das Buch den Pulitzerpreis, das auch 14 Jahre nach dem Ersterscheinen zu den umfassendsten Aufarbeitungen der Attentate zählt und 2018 als Serie für Amazon Prime Video adaptiert wurde.
Weniger erzählerisch im Stile von US-Großreportern glänzend, als hanseatisch-trocken im Ton ist Behnam Saids „Geschichte al-Qaidas: Bin Laden, der 11. September und die tausend Fronten des Terrors heute“. Said, der zwischenzeitlich als Analyst für den Hamburger Verfassungsschutz gearbeitet hat, zeichnet die Auswirkungen von 9/11 bis in die Gegenwart nach und analysiert die Metamorphosen des islamistischen Terrors – und zeigt, warum der vermeintliche Bedeutungsverlust von al-Qaida kein Grund für Entwarnung ist.
Dass Osama bin Laden hinter den Anschlägen stand, wird von Verschwörungsgläubigen bis heute oft bestritten. Dass in Wirklichkeit die amerikanische Regierung selbst, die CIA oder der Mossad die Türme von New York sprengten, untermauern diese Menschen dann gerne mit dem, was sie an der Youtube-Universität gelernt haben. Viele dieser scheinwissenschaftlichen Argumentationen haben sich die Redakteure des US-Magazins Popular Mechanics angesehen und meist recht einfach entkräften können. Kein Wunder, dass sich bald selbst ein Verschwörungsmythos um die Autoren von „Debunking 9/11 Myths: Why Conspiracy Theories Can’t Stand up to the Facts“ rankte, der sie als Handlanger der US-Regierung überführen sollte. Zum zehnten Jahrestag der Anschläge veröffentlichten die Herausgeber eine überarbeitete Version, die durch das jüngste Erstarken von Verschwörungserzählungen eher noch an Relevanz gewonnen hat.
Sehr real waren im Gegensatz zu den Verschwörungsmythen die Auswirkungen der Anschläge auf die amerikanische Politik, die sich weit von den demokratisch-rechtsstaatlichen Werten entfernte. Wie weit, wird im „Guantanamo-Tagebuch unzensiert“ deutlich, das der Mauretanier Mohamedou Ould Slahi in Haft schrieb. 14 Jahre lang war der in den Neunzigerjahren in Duisburg lebende Elektroingenieur in der US-Enklave auf Kuba eingesperrt und wurde gefoltert, nie wurde eine Anklage gegen ihn erhoben. Slahi schrieb seine Geschichte zunächst nur für seine Anwälte auf, zunächst heftig entstellt von US-Zensoren wurden die Memoiren dann publiziert und ein internationaler Bestseller. Die Filmadaption („Der Mauretanier“) kam dieses Jahr in die Kinos.
MORITZ BAUMSTIEGER
Dass bin Laden hinter den
Anschlägen steckte, wird bis
heute von einigen bestritten
Garrett M. Graff (Hg.): Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 537 Seiten, 20 Euro.
Mohamedou Ould Slahi: Das Guantanamo-Tagebuch, unzensiert. Tropen Verlag, Stuttgart 2018.
495 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Wie ein gut gemachter Hollywoodfilm, der das Zeug zum Blockbuster und vielleicht sogar zum Klassiker hat, könnte [Und auf einmal diese Stille] die große zukünftige Referenzerzählung über 9/11 werden - packend, bewegend, randvoll mit großen Gefühlen.« Susanne Billig Deutschlandfunk Kultur 20200812