Siranna Sateli, 1951 in Thessaloniki geboren, schrieb eine faszinierende Familiensaga, die um die Jahrhundertwende im Norden Griechenlands spielt. Drei Generationen, Kinder und Kindeskinder aus den drei Ehen des Patriarchen, leben unter einem Dach. Heirat und Geburt, Liebe und Tod, der Wechsel der Jahreszeiten mit Feiertagen und Bräuchen einer ländlichen, archaisch anmutenden Welt spiegeln sich im Schicksal der einzelnen Familienmitglieder.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.1997Die Zehlein der Rehlein
Breit, nicht stark: Siranna Sateli heult mit den Wölfen
Dies ist ein dickes Buch. Das Romandebüt der griechischen Erzählerin Siranna Sateli hat 850 Seiten und bestätigt insofern die Erfahrung, daß die Dichter literarisch weniger präsenter Länder mehr tun für ihr Geld. Das Werk verkauft sich dort nicht nur glänzend, es erhielt auch den griechischen Staatspreis, und das Kulturministerium fördert seine internationale Verbreitung. Auch in Deutschland geht es mit hoher Auflage an den Start, und ein Rezensent spricht schon von "großer Weltliteratur".
Lang und dunkel wie das Buch ist schon sein Titel: "Und beim Licht des Wolfes kehren sie wieder". Wolfslicht ist ein griechisches Wort für die Dämmerung; und was zurückkehrt, sind wohl die Erinnerungen oder die Menschen aus diesen Erinnerungen. Siranna Sateli beschwört die Welt ihrer Urgroßeltern, einer Bauernfamilie, die in einem mazedonischen Dorf eine Herberge unterhielt. Die Verwandtschaft ist groß; und der Erzähler, ein Mensch unserer Tage, schildert sie mit alttestamentarischer Gebärde: Der aber war der Sohn von dem und dem, er zeugte neun Kinder und wurde 118 Jahre alt.
Ganz so alt werden in dem Buch, das einen Zeitraum von etwa sechzig Jahren umspannt, die Leute freilich nicht; es kommt einem aber doch so vor. In weiser Voraussicht hat der Verlag ein Lesezeichen mit Auskünften zu den wichtigsten Figuren eingelegt. Geschildert werden Begebenheiten aus dem Leben des Familienoberhauptes Christóphoros und seiner zahlreichen Töchter, Nichten und Enkelinnen. Feste und Volkslieder, Magie und Aberglaube, Liebe und Tod - alles kommt hier in einer ursprünglichen und kräftigen Weise vor.
"Das Leben ist groß", sagt der Patriarch mit Vorliebe, und Siranna Sateli ist sichtlich bemüht, dem Leser diese Größe auszumalen. Bisweilen glückt das auch. Einige der zehn miteinander verwobenen Geschichten sind einfallsreich und schwungvoll erzählt. Aber die Frage bei langen Romanen ist ja nicht so sehr, was man schreibt, als, was man wegläßt, um die Geschlossenheit des Werks vor der eigenen Mitteilsamkeit zu schützen. Darum aber steht es schlecht bei der impressionistischen Erzählweise der Autorin, die mal hierhin, mal dorthin springt und auf Dinge kommt, die man an dieser Stelle nicht erwartet hätte, darunter Spekulationen über Gottes Nase, eine Kulturgeschichte des Olivenöls und ein Rezept gegen Schluckauf. Es nimmt gegen einen Schriftsteller ein, wenn er im Geleitwort sich selbst zitiert. Siranna Sateli plaziert hier etwas Gedichtartiges von Geschichten, die sie gehört, und Assoziationen, die sie gehabt hat, abschließend mit einer Zeile von Paul Celan: "Krudes, später, im Fahren, deutlich". Immerhin weiß der Leser nun: Dies ist ein Roman mit Anspruch. Die Verfasserin schließt an eine mündliche Erzähltradition an und ahmt darum auch die mündliche Rede nach, vornehmlich durch Ellipsen, Einschübe und Kursivsetzungen als Betonungshilfe. Das gelänge auch recht gut, verwendete sie nicht mit Klammern und Anführungen ebenso häufig Besonderheiten der Schriftsprache, für die es keine mündliche Entsprechung gibt. Es ist ein Ungenügen an der Sprache, das sich in diesem nervösen Schriftbild artikuliert, die behauptete Unmöglichkeit, so leicht das Leben einzufangen.
"Wir würden viel mehr von dieser Frau erzählen können. Da wir uns aber auf einige besondere Merkmale der Personen beschränken müssen, die wir ausgewählt haben - oder die sich selbst ausgewählt haben -, um diese Geschichte mit Leben zu erfüllen, erwähnen wir nur noch eines." Solche Unbeholfenheiten sind im Roman mit Berechnung eingesetzt, kalten Blutes, wie das bei Siranna Sateli wohl heißen würde. Sie imitiert den Gestus des naiven Geschichtenerzählers, der seine Zuhörer zu fesseln glaubt, indem er die Wahrhaftigkeit seiner Erzählungen bekräftigt. Der freilich spräche kaum von Geschichten, die sich selbst erzählen, wie denn überhaupt immer wieder finsterstes zwanzigstes Jahrhundert auf die Histörchenmalerei fällt. Einer hat "Risse im Panzer", ein anderer "wirkte verwundbar", eine Frau erkundet die "Freiräume des Traumes"; und wer in solchen Momenten die Augen schließt, sieht Konstantin Wecker Sirtaki tanzen.
Nicht selten mündet die Volkstümlichkeit geradewegs in Kitsch. Es gilt etwa, etwas Einfaches zu beschreiben: Eine Gruppe Kinder weicht vor einer verbitterten Frau zurück. Doch nichts ist einfach in diesem Roman: "Als sie aber ihre Augen sahen, wichen sie, sich gegenseitig auf die Füße tretend, wie ein Rudel kleiner Rehe vor einem trüben Wasser, zurück und - ohne wirklich auseinanderzugehen - zerstreuten sich langsam, wobei sie sich verlegen und betrübt kratzten." Man hat schon Rehe sich kratzen sehen; aber daß sie sich auf die Füße treten und dabei so verlegen aussehen wie betrübte Kinder, kommt doch eher selten vor. Um mit Morgenstern zu sprechen: Sie falten die Zehlein, die Rehlein.
Man kann sich denken, aus welcher geistigen Lichtung die Rehe gesprungen kommen. Tier und Pflanze, Wald und Wiese - das ist doch die Welt der einfachen Menschen. Hier leben sie, hier holen sie ihre Vergleiche. Freilich geht es dabei nicht um die Natur, die der Landmann bewohnt, sondern um die, die der Städter verloren hat. Die falsche Mündlichkeit, die falsche Naivität und die falsche Folklore sind keine Schwachstellen des Romans. Es sind seine tragenden Elemente und wahrscheinlich die Gründe für seinen Erfolg. Er versteht es, die Überlieferung auszubeuten und ironisch zu überhöhen, so daß auch der gebildete Leser sich dem mythischen Wabern anheimgeben darf.
Dreißig Hände wünscht sich die Erzählerfigur, um aufzuschreiben, was ihr so in den Sinn kommt. Zur Not tun es aber auch die üblichen zwei: "Mag sein, daß wir uns beim Schreiben verirren, daß wir den Weg zu euch nicht wiederfinden - die einzige Lust, sagt man, die ungestraft bleibt, ist das Lesen." So steht es auf Seite 136; und der Leser, der hier vielleicht noch mit gequältem Lächeln weiterblättert, kann auf die Dauer kaum umhin, sich selbst dreißig Hände zu wünschen. MICHAEL ALLMAIER
Siranna Sateli: "Und beim Licht des Wolfes kehren sie wieder". Roman. Aus dem Griechischen übersetzt von Danae Coulmas und Nonna Nielsen-Stokkeby. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 1997. 855 S., geb., 49,80 DM.
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Breit, nicht stark: Siranna Sateli heult mit den Wölfen
Dies ist ein dickes Buch. Das Romandebüt der griechischen Erzählerin Siranna Sateli hat 850 Seiten und bestätigt insofern die Erfahrung, daß die Dichter literarisch weniger präsenter Länder mehr tun für ihr Geld. Das Werk verkauft sich dort nicht nur glänzend, es erhielt auch den griechischen Staatspreis, und das Kulturministerium fördert seine internationale Verbreitung. Auch in Deutschland geht es mit hoher Auflage an den Start, und ein Rezensent spricht schon von "großer Weltliteratur".
Lang und dunkel wie das Buch ist schon sein Titel: "Und beim Licht des Wolfes kehren sie wieder". Wolfslicht ist ein griechisches Wort für die Dämmerung; und was zurückkehrt, sind wohl die Erinnerungen oder die Menschen aus diesen Erinnerungen. Siranna Sateli beschwört die Welt ihrer Urgroßeltern, einer Bauernfamilie, die in einem mazedonischen Dorf eine Herberge unterhielt. Die Verwandtschaft ist groß; und der Erzähler, ein Mensch unserer Tage, schildert sie mit alttestamentarischer Gebärde: Der aber war der Sohn von dem und dem, er zeugte neun Kinder und wurde 118 Jahre alt.
Ganz so alt werden in dem Buch, das einen Zeitraum von etwa sechzig Jahren umspannt, die Leute freilich nicht; es kommt einem aber doch so vor. In weiser Voraussicht hat der Verlag ein Lesezeichen mit Auskünften zu den wichtigsten Figuren eingelegt. Geschildert werden Begebenheiten aus dem Leben des Familienoberhauptes Christóphoros und seiner zahlreichen Töchter, Nichten und Enkelinnen. Feste und Volkslieder, Magie und Aberglaube, Liebe und Tod - alles kommt hier in einer ursprünglichen und kräftigen Weise vor.
"Das Leben ist groß", sagt der Patriarch mit Vorliebe, und Siranna Sateli ist sichtlich bemüht, dem Leser diese Größe auszumalen. Bisweilen glückt das auch. Einige der zehn miteinander verwobenen Geschichten sind einfallsreich und schwungvoll erzählt. Aber die Frage bei langen Romanen ist ja nicht so sehr, was man schreibt, als, was man wegläßt, um die Geschlossenheit des Werks vor der eigenen Mitteilsamkeit zu schützen. Darum aber steht es schlecht bei der impressionistischen Erzählweise der Autorin, die mal hierhin, mal dorthin springt und auf Dinge kommt, die man an dieser Stelle nicht erwartet hätte, darunter Spekulationen über Gottes Nase, eine Kulturgeschichte des Olivenöls und ein Rezept gegen Schluckauf. Es nimmt gegen einen Schriftsteller ein, wenn er im Geleitwort sich selbst zitiert. Siranna Sateli plaziert hier etwas Gedichtartiges von Geschichten, die sie gehört, und Assoziationen, die sie gehabt hat, abschließend mit einer Zeile von Paul Celan: "Krudes, später, im Fahren, deutlich". Immerhin weiß der Leser nun: Dies ist ein Roman mit Anspruch. Die Verfasserin schließt an eine mündliche Erzähltradition an und ahmt darum auch die mündliche Rede nach, vornehmlich durch Ellipsen, Einschübe und Kursivsetzungen als Betonungshilfe. Das gelänge auch recht gut, verwendete sie nicht mit Klammern und Anführungen ebenso häufig Besonderheiten der Schriftsprache, für die es keine mündliche Entsprechung gibt. Es ist ein Ungenügen an der Sprache, das sich in diesem nervösen Schriftbild artikuliert, die behauptete Unmöglichkeit, so leicht das Leben einzufangen.
"Wir würden viel mehr von dieser Frau erzählen können. Da wir uns aber auf einige besondere Merkmale der Personen beschränken müssen, die wir ausgewählt haben - oder die sich selbst ausgewählt haben -, um diese Geschichte mit Leben zu erfüllen, erwähnen wir nur noch eines." Solche Unbeholfenheiten sind im Roman mit Berechnung eingesetzt, kalten Blutes, wie das bei Siranna Sateli wohl heißen würde. Sie imitiert den Gestus des naiven Geschichtenerzählers, der seine Zuhörer zu fesseln glaubt, indem er die Wahrhaftigkeit seiner Erzählungen bekräftigt. Der freilich spräche kaum von Geschichten, die sich selbst erzählen, wie denn überhaupt immer wieder finsterstes zwanzigstes Jahrhundert auf die Histörchenmalerei fällt. Einer hat "Risse im Panzer", ein anderer "wirkte verwundbar", eine Frau erkundet die "Freiräume des Traumes"; und wer in solchen Momenten die Augen schließt, sieht Konstantin Wecker Sirtaki tanzen.
Nicht selten mündet die Volkstümlichkeit geradewegs in Kitsch. Es gilt etwa, etwas Einfaches zu beschreiben: Eine Gruppe Kinder weicht vor einer verbitterten Frau zurück. Doch nichts ist einfach in diesem Roman: "Als sie aber ihre Augen sahen, wichen sie, sich gegenseitig auf die Füße tretend, wie ein Rudel kleiner Rehe vor einem trüben Wasser, zurück und - ohne wirklich auseinanderzugehen - zerstreuten sich langsam, wobei sie sich verlegen und betrübt kratzten." Man hat schon Rehe sich kratzen sehen; aber daß sie sich auf die Füße treten und dabei so verlegen aussehen wie betrübte Kinder, kommt doch eher selten vor. Um mit Morgenstern zu sprechen: Sie falten die Zehlein, die Rehlein.
Man kann sich denken, aus welcher geistigen Lichtung die Rehe gesprungen kommen. Tier und Pflanze, Wald und Wiese - das ist doch die Welt der einfachen Menschen. Hier leben sie, hier holen sie ihre Vergleiche. Freilich geht es dabei nicht um die Natur, die der Landmann bewohnt, sondern um die, die der Städter verloren hat. Die falsche Mündlichkeit, die falsche Naivität und die falsche Folklore sind keine Schwachstellen des Romans. Es sind seine tragenden Elemente und wahrscheinlich die Gründe für seinen Erfolg. Er versteht es, die Überlieferung auszubeuten und ironisch zu überhöhen, so daß auch der gebildete Leser sich dem mythischen Wabern anheimgeben darf.
Dreißig Hände wünscht sich die Erzählerfigur, um aufzuschreiben, was ihr so in den Sinn kommt. Zur Not tun es aber auch die üblichen zwei: "Mag sein, daß wir uns beim Schreiben verirren, daß wir den Weg zu euch nicht wiederfinden - die einzige Lust, sagt man, die ungestraft bleibt, ist das Lesen." So steht es auf Seite 136; und der Leser, der hier vielleicht noch mit gequältem Lächeln weiterblättert, kann auf die Dauer kaum umhin, sich selbst dreißig Hände zu wünschen. MICHAEL ALLMAIER
Siranna Sateli: "Und beim Licht des Wolfes kehren sie wieder". Roman. Aus dem Griechischen übersetzt von Danae Coulmas und Nonna Nielsen-Stokkeby. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 1997. 855 S., geb., 49,80 DM.
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