Zu mehr als vierzig Gedichten 28 verschiedener Verfasser sind Einzelstudien, die in den Jahren von 1966 bis 2011 verstreut erscheinen, hier erstmals zusammengestellt. Die chronologische Anordnung nach Geburtsdaten der Autoren ermöglicht Einblicke in die Entwicklung der deutschen Lyrik sowie einen Überblick über die Gattungsgeschichte. Die Auswahl bietet - oft auf neuen Quellenfunden basierende - Erkenntnisse, Er¬läuterungen und Interpretationen und zwar zu einigen allbekannten, hauptsächlich jedoch zu noch wenig beachteten Gedichten. Die methodische Skala reicht von Erstveröffentlichungen nach Handschriften über quellenkundliche und motivgeschichtliche Untersuchungen bis hin zur Vorstellung der Rezeptionsgeschichte einzelner Verse und Gedichte.
Heinz Rölleke gehört zu den wenigen Germanisten, die die deutsche Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart überblicken. Seine Kenntnis der Lyrik reicht vom zwölften bis ins zwanzigste Jahrhundert, von der Tanzweise Ulrich von Lichtensteins bis zu den apokalyptischen Visionen Georg Heyms. Unter dem Hölderlin-Motto "und Bestehendes gut gedeutet" hat Rölleke Aufsätze und Interpretationen zur deutschen Poesie versammelt: Einzelanalysen, vergleichende Studien und Rezeptionsgeschichten. Unmöglich, auch nur andeutungsweise einen Überblick zu geben. Stattdessen aber drei Beispiele. So verfolgt Rölleke die ikonographische und literarische Rezeption von Walthers Reichsspruch. Vom Bild des sinnenden Dichters "ûf eime steine" ausgehend, folgt er dem Topos des Nachdenklichen und Melancholischen bis zu Michelangelos Grabmal des Lorenzo Medici oder dem "Sinnenden" in Liszts "Pèlerinages". Wer sich, zweitens, einmal über Hölderlins eigentümliche Wendung "Aber lieblich rauschen die Küsse" wunderte, wird erstaunt sein, dass dieses Rauschen schon bei Uz, Hagedorn und Hölty vorkommt und Otto Ludwig die Wendung lächerlich macht. Erstaunlich weitgespannt, drittes Beispiel, ist der Bogen, den Rölleke von Giselher zu Giselheer schlägt: vom "jungen Giselher" des Nibelungenliedes zu Else Lasker-Schülers Gedicht "Giselheer dem Tiger". In diesem Liebesgedicht, das sie Gottfried Benn widmete, kommen Gewalt, Grausamkeit und Eros zusammen. Rölleke ist ein Meister darin, solche Bezüge herzustellen, die den Reichtum der Poesie ausmachen. (Heinz Rölleke: "und Bestehendes gut gedeutet". Deutsche Gedichte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert. Erläuterungen und Interpretationen. WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2011. 276 S., br., 29,50 [Euro].) H.H.
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