60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Ein kleiner Prozentsatz davon macht sich auf den gefährlichen Weg nach Europa. Sie kommen aus Syrien, Eritrea, dem Irak, vom Balkan. Sie kommen aus verwüsteten Ländern, aus armen Ländern, und viele werden bleiben. Wohin sollten sie zurück?
Experten und Expertinnen informieren in diesem Buch über Fluchtursachen, die Wege der Flüchtlinge, die Situation in Deutschland und diskutieren die dringlichsten Fragen: Warum kommen gerade jetzt so viele Flüchtlinge? Wie verändern sie dieses Land? Wie muss Europa auf die Herausforderung reagieren? Der Band gibt Orientierung und Hintergrundwissen zu einer Entwicklung, die wie keine andere die Politik und das Leben im 21. Jahrhundert prägen wird.
Mit Beiträgen von: Mohamed Amjahid, Stefan Buchen, Daniela Dahn, Pauline Endres de Oliveira, Naika Foroutan, Patrick Gensing, Gabriele Gillen, Kristin Helberg, Saskia Hödl, Jawad, Hasnain Kazim, Martin Lilkendey, Harald Löhlein, NorbertMappes-Niediek, Peter Müller, Herfried Münkler, Bahman Nirumand, Jochen Oltmer, Bernd Parusel, Maximilian Popp, Heribert Prantl, Dusan Reljic, Anja Reschke, Simone Schmollack, Thomas Straubhaar und Ingo Werth.
Für jedes verkaufte Buch geht ein Euro an die Flüchtlingshilfe.
Experten und Expertinnen informieren in diesem Buch über Fluchtursachen, die Wege der Flüchtlinge, die Situation in Deutschland und diskutieren die dringlichsten Fragen: Warum kommen gerade jetzt so viele Flüchtlinge? Wie verändern sie dieses Land? Wie muss Europa auf die Herausforderung reagieren? Der Band gibt Orientierung und Hintergrundwissen zu einer Entwicklung, die wie keine andere die Politik und das Leben im 21. Jahrhundert prägen wird.
Mit Beiträgen von: Mohamed Amjahid, Stefan Buchen, Daniela Dahn, Pauline Endres de Oliveira, Naika Foroutan, Patrick Gensing, Gabriele Gillen, Kristin Helberg, Saskia Hödl, Jawad, Hasnain Kazim, Martin Lilkendey, Harald Löhlein, NorbertMappes-Niediek, Peter Müller, Herfried Münkler, Bahman Nirumand, Jochen Oltmer, Bernd Parusel, Maximilian Popp, Heribert Prantl, Dusan Reljic, Anja Reschke, Simone Schmollack, Thomas Straubhaar und Ingo Werth.
Für jedes verkaufte Buch geht ein Euro an die Flüchtlingshilfe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2016Ohne Realismus schafft man gar nichts
Hilfreicher Sammelband zur öffentlichen Debatte über Flüchtlinge in Deutschland
Rasend schnell hat sich die Debatte über Flüchtlinge in Deutschland in den vergangenen Monaten verändert, und nach der Kölner Silvesternacht droht sie von einem Extrem ins andere zu kippen. Zudem handelt es sich um eine außerordentlich komplexe Materie auf unterschiedlichen Ebenen. Schon das geltende Recht ist zwischen Grundgesetz und Asylgesetz, der Genfer Flüchtlingskonvention und ihrer Qualifikationsrichtlinie mit ihren unterschiedlichen Kriterien für Schutzwürdigkeit, dem Schengener Abkommen und dem Dublin-Verfahren extrem verwirrend. Hinzu kommen rechtliche und moralische Aspekte, die Perspektiven von Migranten und die Situation der aufnehmenden Länder, die grenzenlose Logik des Asylrechts gegenüber begrenzten Aufnahmekapazitäten, humanitäre Ideale und integrationspolitische Realitäten oder die würdige Behandlung von Flüchtlingen gegenüber der Vermeidung falscher Anreizstrukturen. Sicher ist nur eines: Es gibt kein klares Falsch und kein eindeutiges Richtig - es handelt sich um ein echtes Dilemma.
Angesichts der Unübersichtlichkeit der Debatte möchte der von Anja Reschke herausgegebene Band mit 28 sehr unterschiedlichen Beiträgen Sachkenntnisse vermitteln und Denkanstöße liefern, nach Fluchtursachen ebenso wie nach der Verantwortung des Westens fragen, die Bedeutung des Begriffs Asyl thematisieren und das Thema aus anderen als den eingefahrenen Blickwinkeln betrachten. Um es gleich zu sagen: Dies gelingt, dieser Band ist eine Bereicherung und eine Hilfe für die öffentliche Debatte, wenn auch in unterschiedlicher Weise.
Sehr informativ und eingängig liest sich der Beitrag von Kristin Helberg über Syrien. Die dortigen Rebellengruppen unterscheidet sie nach syrischen und ausländischen Verbänden, unter Letzteren insbesondere den IS und die Nusra-Front. Während die Nusra-Front vor allem gegen das Assad-Regime kämpft, zielt der "Islamische Staat" auf die Errichtung des Kalifats - und hat sich in den Regionen etabliert, aus denen das Assad-Regime die syrische Opposition vertrieben hatte. Assad und der IS, so ihre pointierte Aussage, sind "die zwei Seiten der gleichen Terrormedaille in Syrien. Der einzige Unterschied ist, dass die Dschihadisten ihre Greueltaten medial inszenieren, während die Machthaber in Damaskus sie vertuschen." Daher warnt sie auch vor einer militärischen Koalition mit Assad als dem vermeintlich kleineren Übel und rät stattdessen zur Einrichtung und Sicherstellung von Flugverbots- und Schutzzonen in Syrien. Und was die Flüchtlinge angeht, so plädiert sie für "großzügige Kontingente, mit denen man die Menschen nach humanitären Kriterien aussuchen und geregelt und sicher nach Deutschland bringen könnte, und zwar an Orte, wo man bereits die notwendigen Voraussetzungen für Unterkunft, Integration, Spracherwerb und Bildung geschaffen hat. Die Menschen kämen, ohne ihr Leben zu riskieren, Deutschland wüsste genau, wer wann kommt, der Bund könnte die Syrer von Anfang an fair verteilen, und Kommunen und Gemeinden könnten sich und ihre Bewohner entsprechend vorbereiten" - und aus dem unkontrollierbaren Zustrom würde ein "geregelter Zugang wirklich Hilfsbedürftiger".
Mohamed Amjahid berichtet eindrücklich über das Zusammenspiel von Verzweiflung über die alltägliche Gewalt in Syrien und der deutschen Willkommenskultur. Sie erzeugte erhebliche "Sogeffekte", die sich durch die deprimierende Lage in türkischen Lagern und durch falsche Gerüchte noch verstärkten, ohne die Ursache der Flucht zu sein.
"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Der ebenso knappe wie weitreichende erste Satz des Artikels 16a GG stellte bei der Verfassungsschöpfung - als einer der wenigen Fälle, in denen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in nationales Recht überführt wurde - eine bewusste Distanzierung vom Nationalsozialismus dar. Bis in die achtziger Jahre war die Frage des Asyls in erster Linie Teil der globalen Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West, richtete sie sich doch vor allem auf Flüchtlinge aus dem Ostblock, wie Jochen Oltmer skizziert. Seit den siebziger Jahren, begonnen mit den Boat-People nach dem Ende des Vietnam-Kriegs, stammten Asylsuchende jedoch zunehmend aus anderen Weltregionen, während mit der Ausweitung menschenrechtlichen Denkens in einem weiteren Umfang Fluchtursachen akzeptiert wurden. Zugleich wurde die Frage des Asylrechts zu Beginn der neunziger Jahre hinsichtlich der Belastungen für den Sozialstaat der aufnehmenden Gesellschaft diskutiert und die Bewerbung um Asyl kritisch als Vorwand für wirtschaftlich begründete Migration gesehen.
Der deutsche Asylkompromiss von 1992/93 schränkte das Asylrecht für Personen erheblich ein, die aus sicheren Drittstaaten (und somit aus allen deutschen Nachbarstaaten) beziehungsweise aus als sicher eingestuften Herkunftsländern einreisen. Zugleich wurde das deutsche Asylrecht in europäische Regelungen eingebettet: Das 1995 in Kraft getretene Schengener Abkommen schuf Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und verlegte den Schutz der Grenzen an die europäischen Außengrenzen, während nach der Dublin-III-Verordnung von 2013 derjenige Staat für einen Asylantrag zuständig ist, den die schutzsuchende Person zuerst betreten hat. Spätestens 2015 ist dieses für Deutschland sehr komfortable System krachend zusammengebrochen. Schon vorher hatten sich freilich erhebliche Imbalancen eingestellt, wenn vergleichbare Personengruppen als informelle Arbeitskräfte nach Italien, hingegen als Asylbewerber nach Deutschland gingen.
Der in diesem Band nicht vertretene britische Ökonom und Migrationsforscher Paul Collier hat Europa vorgehalten, es habe versäumt, geregelte und funktionsfähige Zugangswege für Asylsuchende einerseits ebenso wie für qualifizierte Einwanderer andererseits zu schaffen. Das Ergebnis ist irreguläre, unkoordinierte und inzwischen unabsehbare Massenzuwanderung. Ob eine "umfassende Reform", wie sie Pauline Endres de Oliveira zu Recht fordert, gelingen wird, ist freilich eine ebenso große wie offene Frage. Es zählt zu den Erfahrungen des frühen 21. Jahrhunderts, dass sich die Europäer systematisch nicht an ihre eigenen Regeln halten, die sie sich mit dem großen Integrationsschub von Maastricht gegeben haben. Als Rechtsgemeinschaft ist die EU massiv erodiert.
Zugleich markieren die Flüchtlingskrise und die politische Implosion des Nahen Ostens zusammen mit den Krisen in der Ukraine und um den Euro den Einbruch der harten Realitäten, wie wir sie aus der Geschichte kennen, in die Theorie der Welt, wie wir sie gerne hätten. Eindrücklich zeigt der Band das Elend der Welt, das Menschen zur Flucht treibt. Zugleich ist die Sensibilität für verschiedene Formen von Verfolgung und Unterdrückung gestiegen, etwa für sexuelle Gewalt gegen und häusliche Unterdrückung von Frauen. Damit tut sich das ganze Dilemma auf: Wenn Fluchtgründe weltweit zunehmen - was heißt das zu Ende gedacht? Kann Europa alle Fluchtberechtigten aufnehmen?
Das Dilemma brachte Horst Seehofer zum Ausdruck, er sagte: "Wir können nicht die ganze Welt retten." Diesen Satz "so dumm wie dreist" zu nennen, wie es Gabriele Gillen tut, offenbart hingegen eine Anleitung zur gesinnungsethisch-selbstgerechten Unterkomplexität. In gleich zwei Beiträgen führt sie einen Rundumschlag gegen alles und jede(n), bis hin zu Angela Merkel, die sich "heuchlerisch" als "Heilige der Flüchtlingskrise" inszeniere, in Wahrheit aber "die alte kalte Kriegspolitik" fortführe - was auch immer das heißen mag. In pauschalen Denkschablonen ist auch Daniela Dahn verhaftet, die in altlinker Tradition alle Übel und Probleme im Westen beziehungsweise im Kapitalismus verortet - bis hin zu afrikanischen Despoten, die sich lediglich das Verhalten der Kolonialmächte abgeschaut hätten. Man kann über vielerlei Fehlleistungen des Westens reden, aber diese dünn belegte Gesinnungsprosa (mit der erwartbaren Schlussfolgerung, der Kapitalismus müsse aufhören zu existieren) fällt gegenüber den wirklich informativen Kapiteln geradezu peinlich ab.
Hier zeigt sich, woran die Debatte in Deutschland krankt: an ideologisch verkürzten und moralisch überheblichen Einseitigkeiten. Ebenso zeigt der Band, was die Debatte dringend braucht: die Verbindung von humanitärer Idee und informiertem Realismus. Denn ohne den schaffen wir gar nichts.
ANDREAS RÖDDER
Anja Reschke (Herausgeberin): Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 334 S., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hilfreicher Sammelband zur öffentlichen Debatte über Flüchtlinge in Deutschland
Rasend schnell hat sich die Debatte über Flüchtlinge in Deutschland in den vergangenen Monaten verändert, und nach der Kölner Silvesternacht droht sie von einem Extrem ins andere zu kippen. Zudem handelt es sich um eine außerordentlich komplexe Materie auf unterschiedlichen Ebenen. Schon das geltende Recht ist zwischen Grundgesetz und Asylgesetz, der Genfer Flüchtlingskonvention und ihrer Qualifikationsrichtlinie mit ihren unterschiedlichen Kriterien für Schutzwürdigkeit, dem Schengener Abkommen und dem Dublin-Verfahren extrem verwirrend. Hinzu kommen rechtliche und moralische Aspekte, die Perspektiven von Migranten und die Situation der aufnehmenden Länder, die grenzenlose Logik des Asylrechts gegenüber begrenzten Aufnahmekapazitäten, humanitäre Ideale und integrationspolitische Realitäten oder die würdige Behandlung von Flüchtlingen gegenüber der Vermeidung falscher Anreizstrukturen. Sicher ist nur eines: Es gibt kein klares Falsch und kein eindeutiges Richtig - es handelt sich um ein echtes Dilemma.
Angesichts der Unübersichtlichkeit der Debatte möchte der von Anja Reschke herausgegebene Band mit 28 sehr unterschiedlichen Beiträgen Sachkenntnisse vermitteln und Denkanstöße liefern, nach Fluchtursachen ebenso wie nach der Verantwortung des Westens fragen, die Bedeutung des Begriffs Asyl thematisieren und das Thema aus anderen als den eingefahrenen Blickwinkeln betrachten. Um es gleich zu sagen: Dies gelingt, dieser Band ist eine Bereicherung und eine Hilfe für die öffentliche Debatte, wenn auch in unterschiedlicher Weise.
Sehr informativ und eingängig liest sich der Beitrag von Kristin Helberg über Syrien. Die dortigen Rebellengruppen unterscheidet sie nach syrischen und ausländischen Verbänden, unter Letzteren insbesondere den IS und die Nusra-Front. Während die Nusra-Front vor allem gegen das Assad-Regime kämpft, zielt der "Islamische Staat" auf die Errichtung des Kalifats - und hat sich in den Regionen etabliert, aus denen das Assad-Regime die syrische Opposition vertrieben hatte. Assad und der IS, so ihre pointierte Aussage, sind "die zwei Seiten der gleichen Terrormedaille in Syrien. Der einzige Unterschied ist, dass die Dschihadisten ihre Greueltaten medial inszenieren, während die Machthaber in Damaskus sie vertuschen." Daher warnt sie auch vor einer militärischen Koalition mit Assad als dem vermeintlich kleineren Übel und rät stattdessen zur Einrichtung und Sicherstellung von Flugverbots- und Schutzzonen in Syrien. Und was die Flüchtlinge angeht, so plädiert sie für "großzügige Kontingente, mit denen man die Menschen nach humanitären Kriterien aussuchen und geregelt und sicher nach Deutschland bringen könnte, und zwar an Orte, wo man bereits die notwendigen Voraussetzungen für Unterkunft, Integration, Spracherwerb und Bildung geschaffen hat. Die Menschen kämen, ohne ihr Leben zu riskieren, Deutschland wüsste genau, wer wann kommt, der Bund könnte die Syrer von Anfang an fair verteilen, und Kommunen und Gemeinden könnten sich und ihre Bewohner entsprechend vorbereiten" - und aus dem unkontrollierbaren Zustrom würde ein "geregelter Zugang wirklich Hilfsbedürftiger".
Mohamed Amjahid berichtet eindrücklich über das Zusammenspiel von Verzweiflung über die alltägliche Gewalt in Syrien und der deutschen Willkommenskultur. Sie erzeugte erhebliche "Sogeffekte", die sich durch die deprimierende Lage in türkischen Lagern und durch falsche Gerüchte noch verstärkten, ohne die Ursache der Flucht zu sein.
"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Der ebenso knappe wie weitreichende erste Satz des Artikels 16a GG stellte bei der Verfassungsschöpfung - als einer der wenigen Fälle, in denen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in nationales Recht überführt wurde - eine bewusste Distanzierung vom Nationalsozialismus dar. Bis in die achtziger Jahre war die Frage des Asyls in erster Linie Teil der globalen Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West, richtete sie sich doch vor allem auf Flüchtlinge aus dem Ostblock, wie Jochen Oltmer skizziert. Seit den siebziger Jahren, begonnen mit den Boat-People nach dem Ende des Vietnam-Kriegs, stammten Asylsuchende jedoch zunehmend aus anderen Weltregionen, während mit der Ausweitung menschenrechtlichen Denkens in einem weiteren Umfang Fluchtursachen akzeptiert wurden. Zugleich wurde die Frage des Asylrechts zu Beginn der neunziger Jahre hinsichtlich der Belastungen für den Sozialstaat der aufnehmenden Gesellschaft diskutiert und die Bewerbung um Asyl kritisch als Vorwand für wirtschaftlich begründete Migration gesehen.
Der deutsche Asylkompromiss von 1992/93 schränkte das Asylrecht für Personen erheblich ein, die aus sicheren Drittstaaten (und somit aus allen deutschen Nachbarstaaten) beziehungsweise aus als sicher eingestuften Herkunftsländern einreisen. Zugleich wurde das deutsche Asylrecht in europäische Regelungen eingebettet: Das 1995 in Kraft getretene Schengener Abkommen schuf Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und verlegte den Schutz der Grenzen an die europäischen Außengrenzen, während nach der Dublin-III-Verordnung von 2013 derjenige Staat für einen Asylantrag zuständig ist, den die schutzsuchende Person zuerst betreten hat. Spätestens 2015 ist dieses für Deutschland sehr komfortable System krachend zusammengebrochen. Schon vorher hatten sich freilich erhebliche Imbalancen eingestellt, wenn vergleichbare Personengruppen als informelle Arbeitskräfte nach Italien, hingegen als Asylbewerber nach Deutschland gingen.
Der in diesem Band nicht vertretene britische Ökonom und Migrationsforscher Paul Collier hat Europa vorgehalten, es habe versäumt, geregelte und funktionsfähige Zugangswege für Asylsuchende einerseits ebenso wie für qualifizierte Einwanderer andererseits zu schaffen. Das Ergebnis ist irreguläre, unkoordinierte und inzwischen unabsehbare Massenzuwanderung. Ob eine "umfassende Reform", wie sie Pauline Endres de Oliveira zu Recht fordert, gelingen wird, ist freilich eine ebenso große wie offene Frage. Es zählt zu den Erfahrungen des frühen 21. Jahrhunderts, dass sich die Europäer systematisch nicht an ihre eigenen Regeln halten, die sie sich mit dem großen Integrationsschub von Maastricht gegeben haben. Als Rechtsgemeinschaft ist die EU massiv erodiert.
Zugleich markieren die Flüchtlingskrise und die politische Implosion des Nahen Ostens zusammen mit den Krisen in der Ukraine und um den Euro den Einbruch der harten Realitäten, wie wir sie aus der Geschichte kennen, in die Theorie der Welt, wie wir sie gerne hätten. Eindrücklich zeigt der Band das Elend der Welt, das Menschen zur Flucht treibt. Zugleich ist die Sensibilität für verschiedene Formen von Verfolgung und Unterdrückung gestiegen, etwa für sexuelle Gewalt gegen und häusliche Unterdrückung von Frauen. Damit tut sich das ganze Dilemma auf: Wenn Fluchtgründe weltweit zunehmen - was heißt das zu Ende gedacht? Kann Europa alle Fluchtberechtigten aufnehmen?
Das Dilemma brachte Horst Seehofer zum Ausdruck, er sagte: "Wir können nicht die ganze Welt retten." Diesen Satz "so dumm wie dreist" zu nennen, wie es Gabriele Gillen tut, offenbart hingegen eine Anleitung zur gesinnungsethisch-selbstgerechten Unterkomplexität. In gleich zwei Beiträgen führt sie einen Rundumschlag gegen alles und jede(n), bis hin zu Angela Merkel, die sich "heuchlerisch" als "Heilige der Flüchtlingskrise" inszeniere, in Wahrheit aber "die alte kalte Kriegspolitik" fortführe - was auch immer das heißen mag. In pauschalen Denkschablonen ist auch Daniela Dahn verhaftet, die in altlinker Tradition alle Übel und Probleme im Westen beziehungsweise im Kapitalismus verortet - bis hin zu afrikanischen Despoten, die sich lediglich das Verhalten der Kolonialmächte abgeschaut hätten. Man kann über vielerlei Fehlleistungen des Westens reden, aber diese dünn belegte Gesinnungsprosa (mit der erwartbaren Schlussfolgerung, der Kapitalismus müsse aufhören zu existieren) fällt gegenüber den wirklich informativen Kapiteln geradezu peinlich ab.
Hier zeigt sich, woran die Debatte in Deutschland krankt: an ideologisch verkürzten und moralisch überheblichen Einseitigkeiten. Ebenso zeigt der Band, was die Debatte dringend braucht: die Verbindung von humanitärer Idee und informiertem Realismus. Denn ohne den schaffen wir gar nichts.
ANDREAS RÖDDER
Anja Reschke (Herausgeberin): Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 334 S., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Zeithistoriker Andreas Rödder betont die Unterschiedlichkeit der Beiträge in dem von Anja Reschke herausgegebenen Band zum Thema Flüchtlingskrise. Für Rödder ein wichtiges Buch zur Zeit und zur öffentlichen Debatte, das zeigt, dass in diesem Kontext kein Falsch und kein Richtig zählt, sondern Sachkenntnis und kluge Fragen. Etwa nach der Verantwortung des Westens, den Fluchtursachen oder Begriffen wie Asyl. Meistenteils, wie in Kristin Helbergs und Mohamed Amjahids Berichten aus Syrien, findet Rödder, gelingt es, dem Leser informativ und eingängig die Problemlage darzustellen. Andere Beiträge, wie der von Gabriele Gillen und der von Daniela Dahn offenbaren dem Rezensenten eher gesinnungsethische und pauschale Unterkomplexität. Für Rödder der Beweis, wie wichtig die Verbindung von humanitärer Idee und informiertem Realismus in der Debatte ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Dieser Band ist eine Bereicherung und eine Hilfe für die öffentliche Debatte. FAZ.NET