Rom zu Beginn der achtziger Jahre. Drei junge Frauen, Luciana, Valentina und Cecilia, an einem sehr schwierigen Punkt ihres Lebens: sie sind ungewollt schwanger. Drei parallel verlaufende Lebensgeschichten, die sich ähneln und doch ganz unterschiedlich sind. Luciana arbeitet für eine Zeitung, die geschlossen wird, sie ist in einen Mann verliebt, der nichts mehrvon ihr wissen will; Valentina ist siebzehn, geht noch zur Schule und träumt davon, Psychologin zu werden; Cecilia lebt in einem besetzten Haus und auf der Straße, stets begleitet von ihrem Hund. Alle drei sind verunsichert, verletzlich und verwirrt angesichts des radikalen Umbruchs, der ihnen bevorsteht. Verwirrt, wenn nicht sogar völlig abwesend sind auch die zukünftigen Väter.Die Geschichten der Frauen erfahren wir von einem aufmerksamen und mitfühlenden Erzähler, der sie aus nächster Nähe begleitet, um schließlich sein eigenes Geheimnis preiszugeben. "Und doch so fern" ist eine berührende Geschichte über die Ungewissheit der eigenen Herkunft und die Last der eigenen Wurzeln.Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis Premio Viareggio RèpaciAus dem Italienischen von: Christiane BurkhardtTitel der italienischen Originalausgabe: Lontano dagli occhi"Er taucht ein in die dunkle Höhle des Unbewussten, um mit seinem zitternden Lichtkegel, wenn auch vielleicht nur für einen Moment, unsere verborgensten Gefühle zu erhellen. Die Romane von Paolo Di Paolo und die Jugend - sie vergehen wie im Flug."Serena Dandini, Io Donna - Corriere della Sera
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2022Drei kleine Italiener
Elternschaft in Varianten: Paolo Di Paolos neuer Roman
Sommer, Sonne, Schwangerschaft. Italien im Jahr 1983. Die AS Rom wird italienischer Fußballmeister, Andreotti Außenminister. Tätowierungen und Nasenringe spielen ausschließlich in der Punkszene eine Rolle. Drei Frauen erwarten ihr erstes Kind. Die jüngste, Valentina, hat die Schule noch nicht beendet und wohnt bei ihren Eltern; die älteste, Luciana, ist erfolgreiche Journalistin. Cecilia ist von zu Hause abgehauen, lebt in besetzten Häusern und hat nur einen ständigen Begleiter, ihren Hund Giobbe. Für eine Abtreibung ist es in allen drei Fällen mittlerweile zu spät.
Nicht nur Valentina steckt noch in der Abnabelung von den eigenen Eltern. Zwischen Luciana und ihrer Mutter fliegen gelegentlich die Fetzen, dann knallt sie "wütend den Hörer auf die Gabel und denkt, dass sie nicht so sein will, nicht so wie sie - und dass es besser wäre, gar nicht erst Mutter zu werden, um das von vorneherein auszuschließen". Für die werdenden Väter gilt das Gleiche, angereichert mit einigen Mutmaßungen. Luciana weiß nicht sicher, ob das Kind von Ettore oder "dem Iren" ist. Aber sie weiß ganz genau, dass sie den ebenso hochanständigen wie hochblassen Ettore nicht als Vater will. Weder als biologischen noch als sozialen.
Paolo Di Paolo, ebenfalls in diesem Jahr 1983 geboren, lässt in "Und doch so fern" einen namenlosen Icherzähler die Geschichten der drei Frauen schildern. Schon zu Beginn hält er fest: "Etwas von alledem hat mit mir zu tun." Er lässt es sehr ruhig angehen, immer gefällig, nie wertend. Der Konflikt zwischen einem Begehren, das jede Selbstkontrolle überwindet, und der Vernunft, die immer noch ans Kondom denken lässt, interessiert ihn nicht. Selbst die Frage, wie sich Kind und Karriere vereinbaren lassen, ist von nachrangiger Bedeutung, impliziert sie doch, dass ein viel wesentlicheres Dilemma bereits gelöst ist. "Habt ihr nie das Gefühl, dass jetzt alles vorbei ist?", geht es Luciana beim Anblick anderer schwangerer Frauen durch den Kopf. "Alles unwiderruflich festgelegt, ohne jede Alternative?" Lassen sich Kind und eigene Neuerfindung vereinbaren? Ist dann noch ein Ausstieg aus dem bisherigen Leben möglich?
Di Paolo schafft es, diese Frage jenseits der Ängste, nach nur wenigen Stunden Schlaf von einem Lebendwecker lautstark zum Bespaßen aufgefordert zu werden, auszuloten. Solche pränatalen Verunsicherungen sind nicht neu, doch stellt er sie plastisch, einfühlsam und packend dar, für die Väter und die Mütter, was ihm in Italien teils als eine Art "biologischer Aneignung" angekreidet wurde - eine formale Herangehensweise, die schlimmstenfalls dazu führt, sich einen anregenden Roman entgehen zu lassen.
Allen drei Frauen setzt innere Rastlosigkeit zu, Valentina veranlasst sie sogar, von zu Hause zu fliehen, denn vor allem ihr Vater wirft ihr die Schande vor und drängt darauf, das Kind zur Adoption freizugeben. Selbst nach der Geburt. "Das schlimmstmögliche Urteil wurde erneut gefällt: zu ihrem Besten." Nur ihre Mutter deutet mit Weinen die Hoffnung auf einen anderen Weg an.
An dieser Stelle kommt der Icherzähler wieder ins Spiel, denn eines der drei Kinder wurde tatsächlich freigegeben, doch er verrät nicht welches, dafür aber, dass er selbst adoptiert wurde. Das ist der zweite starke Moment in Di Paolos Roman. Der Icherzähler forscht seiner Vorgeschichte mit dem gleichen Interesse nach, das er der Vor- und Frühgeschichte der gesamten Menschheit entgegenbringt, ohne Larmoyanz, ohne Tadel, ohne Vorwurf. Er ist glücklich bei seinen Eltern, denn letztlich "weiß das Kind gar nichts, hat sich nichts davon ausgesucht. Eine Bindung wird es erst zu dem Körper entwickeln, der es annimmt und nährt, zu Geruch oder Stimme des Menschen, der es beruhigt." So endet dieser stille Roman. Mit einem Erzähler, der mit sich selbst im Reinen ist. Adoptiert, akzeptiert, aufgeschlossen. CHRISTIANE PÖHLMANN
Paolo Di Paolo: "Und doch so fern". Roman.
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt. Nonsolo Verlag, Freiburg 2022. 232 S., br., 19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elternschaft in Varianten: Paolo Di Paolos neuer Roman
Sommer, Sonne, Schwangerschaft. Italien im Jahr 1983. Die AS Rom wird italienischer Fußballmeister, Andreotti Außenminister. Tätowierungen und Nasenringe spielen ausschließlich in der Punkszene eine Rolle. Drei Frauen erwarten ihr erstes Kind. Die jüngste, Valentina, hat die Schule noch nicht beendet und wohnt bei ihren Eltern; die älteste, Luciana, ist erfolgreiche Journalistin. Cecilia ist von zu Hause abgehauen, lebt in besetzten Häusern und hat nur einen ständigen Begleiter, ihren Hund Giobbe. Für eine Abtreibung ist es in allen drei Fällen mittlerweile zu spät.
Nicht nur Valentina steckt noch in der Abnabelung von den eigenen Eltern. Zwischen Luciana und ihrer Mutter fliegen gelegentlich die Fetzen, dann knallt sie "wütend den Hörer auf die Gabel und denkt, dass sie nicht so sein will, nicht so wie sie - und dass es besser wäre, gar nicht erst Mutter zu werden, um das von vorneherein auszuschließen". Für die werdenden Väter gilt das Gleiche, angereichert mit einigen Mutmaßungen. Luciana weiß nicht sicher, ob das Kind von Ettore oder "dem Iren" ist. Aber sie weiß ganz genau, dass sie den ebenso hochanständigen wie hochblassen Ettore nicht als Vater will. Weder als biologischen noch als sozialen.
Paolo Di Paolo, ebenfalls in diesem Jahr 1983 geboren, lässt in "Und doch so fern" einen namenlosen Icherzähler die Geschichten der drei Frauen schildern. Schon zu Beginn hält er fest: "Etwas von alledem hat mit mir zu tun." Er lässt es sehr ruhig angehen, immer gefällig, nie wertend. Der Konflikt zwischen einem Begehren, das jede Selbstkontrolle überwindet, und der Vernunft, die immer noch ans Kondom denken lässt, interessiert ihn nicht. Selbst die Frage, wie sich Kind und Karriere vereinbaren lassen, ist von nachrangiger Bedeutung, impliziert sie doch, dass ein viel wesentlicheres Dilemma bereits gelöst ist. "Habt ihr nie das Gefühl, dass jetzt alles vorbei ist?", geht es Luciana beim Anblick anderer schwangerer Frauen durch den Kopf. "Alles unwiderruflich festgelegt, ohne jede Alternative?" Lassen sich Kind und eigene Neuerfindung vereinbaren? Ist dann noch ein Ausstieg aus dem bisherigen Leben möglich?
Di Paolo schafft es, diese Frage jenseits der Ängste, nach nur wenigen Stunden Schlaf von einem Lebendwecker lautstark zum Bespaßen aufgefordert zu werden, auszuloten. Solche pränatalen Verunsicherungen sind nicht neu, doch stellt er sie plastisch, einfühlsam und packend dar, für die Väter und die Mütter, was ihm in Italien teils als eine Art "biologischer Aneignung" angekreidet wurde - eine formale Herangehensweise, die schlimmstenfalls dazu führt, sich einen anregenden Roman entgehen zu lassen.
Allen drei Frauen setzt innere Rastlosigkeit zu, Valentina veranlasst sie sogar, von zu Hause zu fliehen, denn vor allem ihr Vater wirft ihr die Schande vor und drängt darauf, das Kind zur Adoption freizugeben. Selbst nach der Geburt. "Das schlimmstmögliche Urteil wurde erneut gefällt: zu ihrem Besten." Nur ihre Mutter deutet mit Weinen die Hoffnung auf einen anderen Weg an.
An dieser Stelle kommt der Icherzähler wieder ins Spiel, denn eines der drei Kinder wurde tatsächlich freigegeben, doch er verrät nicht welches, dafür aber, dass er selbst adoptiert wurde. Das ist der zweite starke Moment in Di Paolos Roman. Der Icherzähler forscht seiner Vorgeschichte mit dem gleichen Interesse nach, das er der Vor- und Frühgeschichte der gesamten Menschheit entgegenbringt, ohne Larmoyanz, ohne Tadel, ohne Vorwurf. Er ist glücklich bei seinen Eltern, denn letztlich "weiß das Kind gar nichts, hat sich nichts davon ausgesucht. Eine Bindung wird es erst zu dem Körper entwickeln, der es annimmt und nährt, zu Geruch oder Stimme des Menschen, der es beruhigt." So endet dieser stille Roman. Mit einem Erzähler, der mit sich selbst im Reinen ist. Adoptiert, akzeptiert, aufgeschlossen. CHRISTIANE PÖHLMANN
Paolo Di Paolo: "Und doch so fern". Roman.
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt. Nonsolo Verlag, Freiburg 2022. 232 S., br., 19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Christiane Pöhlmann findet Gefallen an Paolo Die Paolos Roman "Und doch so fern". Der 1983 geborene Autor lässt darin einen namenlosen Ich-Erzähler ohne Wertung und stets gefällig von den Leben dreier Frauen erzählen, die vor dem Hintergrund ungünstiger Rahmenbedingungen Schwangerschaften durchmachen, denn für Abtreibungen ist es im Fall von der Schülerin Valentina, der erfolgreichen Journalistin Luciana und der Häuser besetzenden Cecilia bereits zu spät. Dass es sich bei dem Erzähler vermutlich um eines dieser ausgetragenen Kinder handelt, findet die Rezensentin stark, die hier behandelten "pränatalen Verunsicherungen" würden ihr zufolge zudem plastisch, einfühlsam und ergreifend. Wer den Roman aufgrund der Kritik hinsichtlich "biologischer Aneignung" nicht lesen sollte, verpasse einen anregenden und stillen Roman, resümiert Pöhlmann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein aufrichtiges Buch über das Trauma der eigenen Herkunft, das Anlass zu Hoffnung gibt - in seiner Not heraufbeschworen von einem Autor mit kristallklarer Sprache." Margaret Mazzantini "Er taucht ein in die dunkle Höhle des Unbewussten, um mit seinem zitternden Lichtkegel, wenn auch vielleicht nur für einen Moment, unsere verborgensten Gefühle zu erhellen. Die Romane von Paolo Di Paolo und die Jugend - sie vergehen wie im Flug." Serena Dandini, Io Donna - Corriere della Sera "Es enthüllt essenzielle Wahrheiten, die wir uns nicht zu sagen trauen - unsere Hilflosigkeit angesichts der schwindelerregenden Erkenntnis, Eltern zu werden, von Fremden zur Welt gebracht zu werden mitsamt unserem Bedürfnis nach Liebe - und zwar in einer ganz offenen, verletzlichen Sprache." Silvia Avallone