Als Netty Reiling, wie Anna Seghers mit ihrem Mädchennamen hieß, ihr Studium an der Universität Heidelberg abschloß und am 4. November 1924 in Kunstgeschichte promovierte, wußte sie sehr genau, was sie wollte: ihren gleichaltrigen Studiengefährten László Radványi heiraten und schreiben, nicht wissenschaftlich, sondern als Erzählerin. So unsicher, selbstkritisch, verträumt und kindlich die junge Frau manchmal erscheint, die uns in ihrem Tagebuch aus dieser Zeit entgegentritt - dem einzigen, das Anna Seghers je führte -, so sicher, man ist versucht zu sagen traumsicher, verfolgt sie ihre Ziele - und erreicht sie. Der Mann, den sie, gegen den Wunsch ihrer Eltern, gewählt hat, wird ihr lebenslanger Partner und sie selbst eine der bedeutendsten, wenn nicht die bedeutendste deutschsprachige Erzählerin des zwanzigsten Jahrhunderts."Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d'Aigremont von St. Anne in Rouen" ist ein faszinierender Text, der zeigt, wie sehr die Phanasie der jungen Autorin von mythischen und im breitesten Sinne religiösen Quellen gespeist wurde und welche Rolle tiefenpsychologische Momente und die intensive Beschäftigung mit mittelalterlicher Kunst für sie spielten. Aber auch die Spuren ihrer Lektüre - neben Legenden und Kierkegaard vor allem Dostojewski - lassen sich erkennen. Wenn aber Seghers ihren "Bischof" auch "vergaß" und nie mehr explizit eine Legende schrieb oder einen Lustmord behandelte, so ist der kleine Text heute ein höchst interessantes und lesenswertes Zeugnis für die Arbeit der jungen Autorin.Zwei Entdeckungen im Nachlaß zeigen eine unbekannte Anna SeghersVon Anna Seghers gibt es nur dieses eine Tagebuch. Sie schrieb es zwischen November 1924 und Mai 1925, als sie nach dem Studium in ihr Elternhaus zurückgekehrt war und auf ihre Hochzeit mit Lázló Radványi wartete. Hier offenbart sich eine junge, suchende Frau, die höchst sensibel ist für den dunklen Grund des Lebens, für Trauer und Existenzangst.Am 22. Dezember notiert sie: "Bischof vollendet". Es ist die geheimnisvolle Geschichte von einem einst mächtigen Bischof, der zum Lustmörder wurde. Zusammen mit dem Tagebuch offenbaren sich hier faszinierende Einblicke in die Phantasie und in die Gefühlswelt der jungen Autorin, die heute zu den bedeutendsten deutschsprachigen Erzählern des 20. Jahrhunderts gehört.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aus dem Nachlass haben die Hüter und Verwalter desselben nun ein kurzes Tagebuch und eine kurze Erzählung Annas Seghers zutage gefördert, die bislang unbekannt waren. Beides, informiert uns Sabine Brandt, stammt aus dem Jahren 1924/25. Anna Seghers, die damals noch Netty Reiling hieß, habe danach nie wieder Tagebuch geführt. Die Verfasserin des Tagebuchs war zu dieser Zeit 24 Jahre alt, sie hatte bereits promoviert, war verlobt und stand am Anfang ihrer Schriftstellerkarriere, steckt Brandt das biografische Umfeld ab. Literarischer Ruhm, politisches Engagement, Emigration und Exil lagen damals noch in weiter Ferne. Brandt erscheinen die Tagebuchaufzeichnungen denn auch eher von einer noch unfertigen Persönlichkeit zu stammen, die über Unverständnis der Eltern oder die Abwesenheit des Freundes klagt und sich ansonsten - man staune - mit Glaubensfragen beschäftigt. Hierzu merkt Brandt spitz an, dass man ja von dem weiteren Lebensweg der Autorin wüsste, das sie ohne den Trost einer Verheißung schlecht habe leben können, womit die Rezensentin auf Seghers Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei anspielt. Auch habe die Autorin im Laufe der Jahre an Präzision dazu gewonnen, kritisiert Brandt milde und fragt sich, ob Netty Reiling wohl fromm war?
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Herausgeberin und ausgewiesenen Seghers-Biographin Christiane Zehl Romero sind diese beiden Fundstücke zu verdanken. Sie eröffnen einen neuen Blick auf eine große Autorin, von der wir noch lange nicht genug wissen.« Fachzeitschrift /-magazin 20040208