"Wer hat sich nicht schon einmal gefragt, was Schriftstellern beim Lesen der Bücher ihrer Kollegen durch den Kopf geht? Über solche "Lyrischen Momente" gibt die Autorin Silke Scheuermann in ihrem neuen Buch Auskunft. Kritisch und leidenschaftlich erzählt sie von Büchern und Gedichten, die sie beeindruckt und inspiriert haben. Mit Scharfsinn, Witz und Einfühlungsvermögen denkt sie nach über das Schreiben als Entwurf eines anderen Körpers, als Zugang zu etwas Magischem und Geheimnisvollem. Sie nimmt aber auch die Entstehungsbedingungen von Texten und das Leben ihrer Autoren in den Blick.Der Band versammelt Silke Scheuermanns poetologisches Schaffen: Neben ihrer Wiesbadener Poetikvorlesung sind dies ihre für die von Marcel Reich-Ranicki begründete Frankfurter Anthologie verfassten Gedichtinterpretationen sowie Rezensionen, Radiobeiträge, Essays und Reden. Die Texte aus den Jahren 2007 bis 2015 sind nach den Geburtsjahren der behandelten Dichter und Autoren angeordnet. Von der deutschen Romantik bis hin zu internationalen zeitgenössischen Dichtern lassen sie sich als persönliche Literaturgeschichte lesen."
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Kai Sina begibt sich mit Silke Scheuermann auf die Spuren einer Literatur der poetischen Artefakte, der sperrigen Effekte und amplifizierten Gefühle. Die Herangehensweise der Autorin, unterschiedlich abstrakt, unsystematisch, als Artikel, Rede, Poetikvorlesung oder Essay, scheint Sina zu überzeugen. Und wenn Scheuermann bei all dem eng an der Literaturgeschichte in ihrer ganzen Breite bleibt und nicht nur aus der eigenen Werkstatt und dem Privatkanon schöpft und berichtet, fühlt sich Sina gut bedient und angeregt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Das Gedicht als Verstärker: Silke Scheuermanns gesammelte Schriften zur Poetik und Literatur
Tätowierungen bilden den Anfang und das Ende des neuen Buches von Silke Scheuermann: eingangs in Form eines längeren Grundlagenessays, der die Tätigkeit des Tätowierens als Metapher eines existential-authentischen und zugleich handwerklich begriffenen Dichtungsverständnisses begreift (und in ein Stück poetologische Lyrik mündet); ausgangs im Medium eines in den Buchumschlag gedruckten Fotos, das die Autorin lächelnd neben einem volltätowierten, Gitarre spielenden Mann mit ernster Miene zeigt. Die Pointe ist nicht besonders subtil, aber umso effektiver: Das bisweilen etwas überspannte Nachdenken über das Wesen der Kunst zu Beginn, in dem, Bezug nehmend auf Francis Bacon, gar von einer "Art Religion" die Rede ist, relativiert sich in der bildmedialen Autorinszenierung am Schluss. Kult und Komik werden ins Gleichgewicht gebracht.
In unterschiedlichen Perspektiven und mit wechselndem Abstraktionsgrad fragt Scheuermann in den hier versammelten Texten - Poetikvorlesungen, Beiträgen zur "Frankfurter Anthologie", Zeitungsartikeln, Reden und Essays - nach den ersten und letzten Dingen der Literatur: nach Möglichkeiten der persönlichen Metamorphose im Erschaffen von Lyrik ("ein Eintauchen in eine Figur, ein Sichanverwandeln in ein fremdes Ich"); nach der romantischen Vorstellung, sich als Künstler für die Kunst aufzureiben, ja ein bedeutsames Opfer bringen zu müssen; nach Bedingungen und Potentialen einer utopischen und darin zugleich gesellschaftskritischen Literatur (im Anschluss an Nicolas Born ist die Rede von "beunruhigend schönen Vorstellungen"); schließlich und eher implizit: nach Konstellationen einer weiblichen Dichtung.
Bei all dem orientiert sich Scheuermann eng an der Literaturgeschichte, ja sie entwickelt ihre Poetik vornehmlich mit Bezug auf andere Autoren, zunächst um sie und ihre Werke zu verstehen, dann um von ihnen aus weiterzudenken, auch in Bezug auf das eigene literarische Tun. In Zeiten der allgegenwärtigen Poetikdozenturen nimmt dieses Buch, das in zentralen Abschnitten ebenfalls aus diesem Format hervorgegangen ist, eine erfreuliche Sonderstellung ein: Statt nur aus der persönlichen Werkstatt, dem eigenen, mehr oder weniger umfangreichen Privatkanon zu schöpfen (um sich ihm unter der Hand selbst einzugliedern), nimmt Scheuermann die Literatur der vergangenen anderthalb Jahrhunderte in ihrer ganzen Breite in den Blick, von Storm über Benn bis zu Friederike Mayröcker. Von bestimmten Autorinnen ist in den persönlich, zugleich klar und mitunter lakonisch geschriebenen Texten allerdings immer wieder die Rede: Sylvia Plath ist besonders wichtig, auch Anne Sexton und Helga M. Novak, deren gesammelte Liebesgedichte Scheuermann vor einigen Jahren selbst herausgegeben hat.
"Wieso", fragt Scheuermann an einer Stelle, "verlieren die Menschen so leicht den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge, sind besessen von unwichtigen Regeln, die sie so lange zusammenpuzzeln, bis sie ein System über das Große und Ganze gezogen haben und so den Blick auf alles verstellen". Vor dem Hintergrund dieser tiefempfundenen, wenn auch erklärtermaßen "pubertären" Skepsis erweist sich die Form des Bandes als zeichenhaft: Ohne das Interesse an gewissen Allgemeinzusammenhängen der Literatur gänzlich aufzugeben, konzentriert Scheuermann ihre Blicke auf die wertvollen Einzelheiten, auf die poetischen Artefakte in ihrer je eigenen Schönheit, Fremdheit, Sperrigkeit. Es ist ein betont nichtsystematisches Vorgehen, das an den rational kaum erklärlichen Effekten der Literatur interessiert ist, allen voran: der Amplifikation der Empfindung. Denn genau das wollen für Scheuermann die Dichter seit Urzeiten schon: "brennend und lebendig machen". Jeder Text berichtet von einem anderen ihrer mannigfachen Zündwerkzeuge.
KAI SINA
Silke Scheuermann: "Und ich fragte den Vogel". Lyrische Momente.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 200 S., geb., 19,95 [Euro].
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»Silke Scheuermann konzentriert ihre Blicke auf die wertvollen Einzelheiten, auf die poetischen Artefakte in ihrer je eigenen Schönheit, Fremdheit, Sperrigkeit.«Kai Sina, Frankfurter Allgemeine Zeitung»Ein luzider Essayband.«Björn Hayer, Zeit online»Wir haben es mit einer Entdeckerin des wahrhaftigen Tons, einer Verfechterin der Schönheit zu tun (...).«Björn Hayer, Am Erker