Dreißig Jahre war Sonja Chefin eines Hotels am Bodensee; ihr Mann Bruno bekam als Koch sogar einen Stern. Doch dann stirbt Bruno. Sein Bruder Arno ist bereit, alles, und damit auch einen Berg von Schulden, zu übernehmen - vorausgesetzt, sie verschwindet. Also reist sie nach Wales zu Mister Pettibone. Obwohl dieser sie gewarnt hat. Vor der abgetakelten Pension, dem Essen, seinem Onkel, und überhaupt vor diesem traurigen Land: zugige Fenster, zugige Türen, rundum Ödnis. Doch das Meer ist herrlich! Und ist Wales im Regen nicht allemal besser als ein Feinschmeckerhotel ausgerechnet am Bodensee? In Karl-Heinz Otts brillantem, bösem Roman entfaltet sogar das Unglück seinen ironischen, bissigen Reiz.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2018Sonja im Bardo
Karl-Heinz Otts Roman
„Und jeden Morgen das Meer“
Sterneköche haben es schwer. Erst wenn zu Leidenschaft und Können noch Disziplin, Organisation, Selbstvermarktung und das Glück des richtigen Moments kommen, dann fällt ein Stern aus dem Michelin-Himmel. Von da an gibt es nur noch die Mühe, das Erreichte zu halten.
Bruno, das badische Kochgenie, und seine Frau Sonja, die Managerin und Repräsentantin des Hauses, haben den Stern für ihr Bodenseerestaurant „Lindenhof“ verloren. Er starb bald danach, sie zog sich nach Wales zurück, an die Irische See, wo wir sie antreffen zu Beginn des Romans, dessen Titel ebenjenes ferne raue europäische Meer meint, an dem sie jeden Morgen steht, allein im Sturm und in der Gischt, und schon übernimmt die aufgewühlte Natur die Regie im Roman, bildet den amorphen und gewaltigen Protagonisten, dessen Gegenstück, der Bodensee, in märchenhaft idyllische Ferne rückt.
Das ist auch schon der Kern der Romanhandlung. Der Rest des hundertfünfzig Seiten umfassenden kleinen Romans sind herbeigewehte Erinnerungen und kleine Beobachtungen Sonjas am schäumenden Saum des Meeres in Abydyr, wo das heruntergewirtschaftete Hotel steht, in das sie sich zurückgezogen hat, ans „Ende der Welt“. Tatsächlich lässt sich aus diesen halb verwehten Erinnerungen ein großer Gesellschaftsroman rekonstruieren, die schmerzliche Biografie der elternlosen Heldin, ihr Aufstieg zur Gastgeberin für die feinere Gesellschaft im deutschen Gourmetparadies Süd-West, mit den Feinschmeckergästen Jacques Chirac und Helmut Kohl als Gipfel der Geschichte. Und natürlich arbeitet der Weltenbauer im Romanleser unentwegt an dieser Fabel im Präteritum. Doch wird ihm auffallen, dass die wahre Intensität des Romans nicht so sehr vom sozialen Stoff herrührt, sondern von der Rhetorik des Meeres, seiner überwältigenden Performance, lateinisch: actio. Es tobt, es reißt die losen Brocken des zivilisierten Lebens mit sich, es tobt total, unendlich, wie es immer wieder heißt, es reißt das Leben in sich hinein.
Karl-Heinz Ott hat sich auf überschaubarem Raum eine neue Dimension des Schreibens erarbeitet: die dionysisch entfesselte Natur in Worte zu fassen und sie zu verkoppeln mit dem Geschick der Menschen. In einem Aufsatz über Henry David Thoreaus „Walden“ hat er darüber jüngst öffentlich nachgedacht. Die Naturbeschreibung bei Thoreau, so sein Fazit, sei keineswegs eine Rückkehr zur Natur mit sprachlichen Mitteln, gerade umgekehrt sei dieses Nature Writing ein Mittel zur Apotheose der menschlichen Schrift, des Buchs, der Literatur selbst, ganz im Sinne von Nietzsches Zarathustra, dessen Sonnengruß lautet „Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest“. Hier ist die Position des Subjekts in der Erkenntnis ungleich stärker betont als bei der Naturbetrachterin Esther Kinsky, die die Erscheinungen selbst als sprachliche Zeichen liest.
Karl-Heinz Ott bleibt hingegen immer nah am Gemütszustand seiner Heldin Sonja, bis in deren Selbstverlust hinein. Die wogende oder schäumende Unendlichkeit spült immer mehr Teile ihres Lebens nach oben: Sonjas elternlose Kindheit mit der Großmutter; deren frühen Tod; die bittere Zeit im katholischen Internat; ihre Zeit mit dem menschenscheuen Bruno, der sich mit den Provinzlern im Nebenraum des Nobelrestaurants zum Trinken versteckt; der sich nach dem Verlust des Sterns im Keller zu Tode trinkt; die hässliche Geschichte mit Arno, dem arglistigen Bruder ihres Mannes, der sie beschämt und vom Hof jagt; wie sie als Sechzigjährige um eine Anstellung bitten muss, wie sie abgelehnt wird, wie sie ihre Würde verliert; dann ihre Wahl des alten Hotelkastens in Abydyr als letztes Zuhause; ihre Impulse, ins Meer zu gehen; ihr Beisammensein mit dem einzigen Gast Mr. Todd, der ihr, am Fenster sitzend, den Rücken kehrt, um Richtung Wasser zu starren. Er ist unheimlich, nicht ganz von dieser Welt, Gott und Tod, phonetisch zusammengebunden.
Karl-Heinz Ott hat eine Art naturmetaphorischen Gesellschaftsroman in nuce geschrieben. Mit gewaltigem Sprachgeorgel manchmal, wie seinerzeit Theodor Storm im „Schimmelreiter“, aber dann doch wieder ganz selbstverständlich wirkend, fast schon zufällig, als ob er darauf vertraut hätte, dass ihm der raue Wind des Erzählens immer günstig sei. In seinen Roman „Die Auferstehung“ war ein toter Vater der unbewegte Beweger des Geschehens. Hier ist es eine Frau am Ende ihres Lebens. Auch sie nicht mehr ganz im Diesseits. Das Meer hüllt sie mehr und mehr ein. Es ist ihr Limbo, ihr Bardo, ihr bewegtes Grab.
Der Denker Ott hat sich zurückgenommen, um die Rhetorik der Elemente zu inszenieren. Ein Nature Writer will der erklärte Rousseau-Feind und Natürlichkeitshasser keinesfalls sein, aber das kryptometaphorische Potenzial jeder Naturerscheinung will er schon nutzen. Das ist ihm auf der eher kurzen Strecke, die er gewählt hat, sehr wohl gelungen.
HUBERT WINKELS
Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018. 145 Seiten, 18 Euro.
Dieses Nature Writing ist keine
Rückkehr zur Natur,
es ist eine Hymne an die Schrift
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Karl-Heinz Otts Roman
„Und jeden Morgen das Meer“
Sterneköche haben es schwer. Erst wenn zu Leidenschaft und Können noch Disziplin, Organisation, Selbstvermarktung und das Glück des richtigen Moments kommen, dann fällt ein Stern aus dem Michelin-Himmel. Von da an gibt es nur noch die Mühe, das Erreichte zu halten.
Bruno, das badische Kochgenie, und seine Frau Sonja, die Managerin und Repräsentantin des Hauses, haben den Stern für ihr Bodenseerestaurant „Lindenhof“ verloren. Er starb bald danach, sie zog sich nach Wales zurück, an die Irische See, wo wir sie antreffen zu Beginn des Romans, dessen Titel ebenjenes ferne raue europäische Meer meint, an dem sie jeden Morgen steht, allein im Sturm und in der Gischt, und schon übernimmt die aufgewühlte Natur die Regie im Roman, bildet den amorphen und gewaltigen Protagonisten, dessen Gegenstück, der Bodensee, in märchenhaft idyllische Ferne rückt.
Das ist auch schon der Kern der Romanhandlung. Der Rest des hundertfünfzig Seiten umfassenden kleinen Romans sind herbeigewehte Erinnerungen und kleine Beobachtungen Sonjas am schäumenden Saum des Meeres in Abydyr, wo das heruntergewirtschaftete Hotel steht, in das sie sich zurückgezogen hat, ans „Ende der Welt“. Tatsächlich lässt sich aus diesen halb verwehten Erinnerungen ein großer Gesellschaftsroman rekonstruieren, die schmerzliche Biografie der elternlosen Heldin, ihr Aufstieg zur Gastgeberin für die feinere Gesellschaft im deutschen Gourmetparadies Süd-West, mit den Feinschmeckergästen Jacques Chirac und Helmut Kohl als Gipfel der Geschichte. Und natürlich arbeitet der Weltenbauer im Romanleser unentwegt an dieser Fabel im Präteritum. Doch wird ihm auffallen, dass die wahre Intensität des Romans nicht so sehr vom sozialen Stoff herrührt, sondern von der Rhetorik des Meeres, seiner überwältigenden Performance, lateinisch: actio. Es tobt, es reißt die losen Brocken des zivilisierten Lebens mit sich, es tobt total, unendlich, wie es immer wieder heißt, es reißt das Leben in sich hinein.
Karl-Heinz Ott hat sich auf überschaubarem Raum eine neue Dimension des Schreibens erarbeitet: die dionysisch entfesselte Natur in Worte zu fassen und sie zu verkoppeln mit dem Geschick der Menschen. In einem Aufsatz über Henry David Thoreaus „Walden“ hat er darüber jüngst öffentlich nachgedacht. Die Naturbeschreibung bei Thoreau, so sein Fazit, sei keineswegs eine Rückkehr zur Natur mit sprachlichen Mitteln, gerade umgekehrt sei dieses Nature Writing ein Mittel zur Apotheose der menschlichen Schrift, des Buchs, der Literatur selbst, ganz im Sinne von Nietzsches Zarathustra, dessen Sonnengruß lautet „Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest“. Hier ist die Position des Subjekts in der Erkenntnis ungleich stärker betont als bei der Naturbetrachterin Esther Kinsky, die die Erscheinungen selbst als sprachliche Zeichen liest.
Karl-Heinz Ott bleibt hingegen immer nah am Gemütszustand seiner Heldin Sonja, bis in deren Selbstverlust hinein. Die wogende oder schäumende Unendlichkeit spült immer mehr Teile ihres Lebens nach oben: Sonjas elternlose Kindheit mit der Großmutter; deren frühen Tod; die bittere Zeit im katholischen Internat; ihre Zeit mit dem menschenscheuen Bruno, der sich mit den Provinzlern im Nebenraum des Nobelrestaurants zum Trinken versteckt; der sich nach dem Verlust des Sterns im Keller zu Tode trinkt; die hässliche Geschichte mit Arno, dem arglistigen Bruder ihres Mannes, der sie beschämt und vom Hof jagt; wie sie als Sechzigjährige um eine Anstellung bitten muss, wie sie abgelehnt wird, wie sie ihre Würde verliert; dann ihre Wahl des alten Hotelkastens in Abydyr als letztes Zuhause; ihre Impulse, ins Meer zu gehen; ihr Beisammensein mit dem einzigen Gast Mr. Todd, der ihr, am Fenster sitzend, den Rücken kehrt, um Richtung Wasser zu starren. Er ist unheimlich, nicht ganz von dieser Welt, Gott und Tod, phonetisch zusammengebunden.
Karl-Heinz Ott hat eine Art naturmetaphorischen Gesellschaftsroman in nuce geschrieben. Mit gewaltigem Sprachgeorgel manchmal, wie seinerzeit Theodor Storm im „Schimmelreiter“, aber dann doch wieder ganz selbstverständlich wirkend, fast schon zufällig, als ob er darauf vertraut hätte, dass ihm der raue Wind des Erzählens immer günstig sei. In seinen Roman „Die Auferstehung“ war ein toter Vater der unbewegte Beweger des Geschehens. Hier ist es eine Frau am Ende ihres Lebens. Auch sie nicht mehr ganz im Diesseits. Das Meer hüllt sie mehr und mehr ein. Es ist ihr Limbo, ihr Bardo, ihr bewegtes Grab.
Der Denker Ott hat sich zurückgenommen, um die Rhetorik der Elemente zu inszenieren. Ein Nature Writer will der erklärte Rousseau-Feind und Natürlichkeitshasser keinesfalls sein, aber das kryptometaphorische Potenzial jeder Naturerscheinung will er schon nutzen. Das ist ihm auf der eher kurzen Strecke, die er gewählt hat, sehr wohl gelungen.
HUBERT WINKELS
Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018. 145 Seiten, 18 Euro.
Dieses Nature Writing ist keine
Rückkehr zur Natur,
es ist eine Hymne an die Schrift
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2018Die Angst kocht immer mit
Schnitzel oder Sterne: Karl-Heinz Ott lässt in seinem neuen Roman "Und jeden Morgen das Meer" auch jenseits der Küche nichts anbrennen.
Vor drei Jahren hat der Schriftsteller Karl-Heinz Ott den Roman für den riskanten Erbfall vorgelegt. Vier Geschwister mit dringendem Geldbedarf gerieten in "Die Auferstehung" in Streit um die Hinterlassenschaften ihres Vaters, eines Unfallchirurgen. In Otts neuem Roman "Und jeden Morgen das Meer" schlägt der Tod wieder zu. Diesmal aber bleibt die weibliche Hauptfigur gänzlich enterbt zurück, um alles gebracht, was ihr Leben zuvor ausmachte.
Sonja hat lange Zeit ein Sterne-Restaurant am Bodensee geleitet, eines der "ersten Häuser zwischen Bregenz und Basel". Sie war für die Organisation und das Repräsentative zuständig, ihr Mann Bruno Bräuning war der begnadete Koch, der im Hintergrund wirkte. Helmut Kohl und Jacques Chirac gehörten zu den Prominenten, die im "Lindenhof" Gaumenfreuden genossen. Dann kam der Niedergang. Der Stern wurde dem Hotelrestaurant entzogen, Bruno, noch nie ein sonniges Gemüt, verfiel in Depressionen. Anfangs wollte er in seiner Wut das Gourmet-Restaurant noch zurückverwandeln in eine "Schnitzelküche für jeden Geldbeutel". Ketchup auf die Tische!
Für Sonja war dieses renitente "Schnitzelgeschwätz" kaum zu ertragen. Dann zog sich der entsternte Bruno für die letzten Jahre seines Lebens mit einem Sessel in den Weinkeller zurück, um sich dort in aller Stille zu Tode zu trinken. Sonja versuchte noch eine Weile, den Schein aufrechtzuerhalten, am Ende aber war der "Lindenhof" pleite. Und der schäbige Schwager drängte sie wenige Tage nach Brunos Tod aus dem Haus.
Mit Anfang sechzig steht sie vor dem Nichts, muss in Hotels wieder Bewerbungsgespräche führen und spürt dabei die spöttischen Blicke der Altersdiskriminierung. Weil sie diese Demütigung nicht mehr erträgt, ergreift sie eine letzte kleine Chance, die sich ihr durch die Vermittlung eines früheren Gastes bietet: Es ist die Leitung eines alten, fast schon zur Bruchbude heruntergekommenen Strandhotels in Abydyr an der walisischen Küste, einem rauhen, windschiefen Örtchen, wo sich nicht viele Touristen hin verirren und wo die Küche vor allem aus einer Mikrowelle besteht. Dort verbringt Sonja nun ihre tristen Tage zwischen einer Handvoll schrulliger Gäste und ihren Erinnerungen an die drei Jahrzehnte mit Bruno.
Es war eine Ehe, deren Gemeinsamkeit sich in der aufreibenden Arbeit im Hotelrestaurant erschöpfte. In erotischer Hinsicht blieb die Küche kalt. Meist lag Bruno im Ehebett wie ein Unberührbarer. Er wird gezeichnet als Künstlerfigur ohne Begabung zur menschlichen Wärme, von einer gewissen romantisch-biedermeierlichen Verschrobenheit, die sich am deutlichsten offenbart, als er einmal eine Dankesrede für eine Auszeichnung halten soll und kein Wort herausbringt, stattdessen mit der Nase fast das Mikrofon umstößt.
Es gehört zum Reiz dieses Romans, dass er in den Rückblenden die selten zu Romanehren kommenden Mühen des Mittelstands vor Augen führt. Ein Nobel-Restaurant mit Dutzenden Mitarbeitern zu leiten - für die aus kleinen Verhältnissen stammende, erst bei ihrer Großmutter, dann in einem katholischen Nonnen-Internat aufgewachsene Sonja ist es eine beachtliche Karriere, deren Pflichten sie mit Ehrgeiz und einem geradezu erbitterten Ernst erfüllt, um später das Vergebliche ihrer Anstrengungen umso schmerzlicher zu empfinden.
Die Beschreibungen des Romans zeigen auch, dass der Alltag sogenannter Spitzenköche wenig mit dem Glamour zu tun hat, der in Fernsehshows vermittelt wird. Bei Bruno kocht die Angst immer mit. Jeder Teller, der die Küche verlässt, muss perfekt sein, denn er könnte auf dem Tisch eines unerkannten Testessers oder Gastrokritikers landen. Organisation und Logistik (frische Ware vom Pariser Fischmarkt) stellen hohe Anforderungen, und es ist keineswegs selbstverständlich, dass der Betrieb die Kosten für die teuren Zutaten wieder einspielt. Mit einer "Knorrsoßenkneipe", wie sie noch Brunos Eltern betrieben haben, lässt sich womöglich leichter Geld verdienen; auf jeden Fall macht sie weniger Mühe.
Während der letzte Roman des 1957 geborenen Schriftstellers nicht ohne Weitschweifigkeiten war, überzeugt "Und jeden Morgen das Meer" mit einer knappen, prägnanten und verdichteten Erzählweise, die ihre Motive auf mehreren Zeitebenen wie ein Musikstück entfaltet. Eine tiefe Melancholie ist dem Buch eingeschrieben, dennoch blitzt gelegentlich groteske Komik auf, etwa wenn geschildert wird, wie Sonja in der Zeit des "Lindenhof"-Untergangs einen Vortrag über das Thema "Der Sinn des Lebens" besucht und dabei schon den Dozenten als Zumutung empfindet: "Dieser Mann war so dick, dass sie dachte, er sollte abnehmen, bevor er über den Sinn des Lebens sprach." Fast panikartig flieht aus dem spärlich besetzten Saal.
Diesen kleinen, feinen Roman ein existentielles Kammerspiel zu nennen - daran hindert einen allerdings die wuchtige Naturszenerie von Abydyr, die eine Antithese bildet zur Bodenseewelt mit ihren gezähmten Gärten und ihrem schönen Schein. Immer wieder beschwört der Roman das Meer wie eine unersättliche, allen Zivilisationszinnober verschlingende Urkraft, mit haushohen Brechern, die raubtierhaft die Küste anfallen und Straßen überspülen, dazu ein zorniger Sturmwind, der Stühle an den Fenstern vorbeifliegen lässt und Laternen niederbiegt.
Immer wieder geht Sonja hinaus auf die Klippen, starrt in die wütenden Fluten und gibt sich ihren Gefühlen der Verlorenheit hin. "Man geht nur nach Wales, wenn man vom Leben nichts mehr erwartet", wurde sie gewarnt. Das Meer aber lehrt Sonja, dass das wahre Leben nicht aus Erwartungen besteht. Karl-Heinz Ott ist ein außergewöhnliches, sehr herbstliches Buch geglückt.
WOLFGANG SCHNEIDER
Karl-Heinz Ott: "Und jeden Morgen das Meer". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2018. 145 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schnitzel oder Sterne: Karl-Heinz Ott lässt in seinem neuen Roman "Und jeden Morgen das Meer" auch jenseits der Küche nichts anbrennen.
Vor drei Jahren hat der Schriftsteller Karl-Heinz Ott den Roman für den riskanten Erbfall vorgelegt. Vier Geschwister mit dringendem Geldbedarf gerieten in "Die Auferstehung" in Streit um die Hinterlassenschaften ihres Vaters, eines Unfallchirurgen. In Otts neuem Roman "Und jeden Morgen das Meer" schlägt der Tod wieder zu. Diesmal aber bleibt die weibliche Hauptfigur gänzlich enterbt zurück, um alles gebracht, was ihr Leben zuvor ausmachte.
Sonja hat lange Zeit ein Sterne-Restaurant am Bodensee geleitet, eines der "ersten Häuser zwischen Bregenz und Basel". Sie war für die Organisation und das Repräsentative zuständig, ihr Mann Bruno Bräuning war der begnadete Koch, der im Hintergrund wirkte. Helmut Kohl und Jacques Chirac gehörten zu den Prominenten, die im "Lindenhof" Gaumenfreuden genossen. Dann kam der Niedergang. Der Stern wurde dem Hotelrestaurant entzogen, Bruno, noch nie ein sonniges Gemüt, verfiel in Depressionen. Anfangs wollte er in seiner Wut das Gourmet-Restaurant noch zurückverwandeln in eine "Schnitzelküche für jeden Geldbeutel". Ketchup auf die Tische!
Für Sonja war dieses renitente "Schnitzelgeschwätz" kaum zu ertragen. Dann zog sich der entsternte Bruno für die letzten Jahre seines Lebens mit einem Sessel in den Weinkeller zurück, um sich dort in aller Stille zu Tode zu trinken. Sonja versuchte noch eine Weile, den Schein aufrechtzuerhalten, am Ende aber war der "Lindenhof" pleite. Und der schäbige Schwager drängte sie wenige Tage nach Brunos Tod aus dem Haus.
Mit Anfang sechzig steht sie vor dem Nichts, muss in Hotels wieder Bewerbungsgespräche führen und spürt dabei die spöttischen Blicke der Altersdiskriminierung. Weil sie diese Demütigung nicht mehr erträgt, ergreift sie eine letzte kleine Chance, die sich ihr durch die Vermittlung eines früheren Gastes bietet: Es ist die Leitung eines alten, fast schon zur Bruchbude heruntergekommenen Strandhotels in Abydyr an der walisischen Küste, einem rauhen, windschiefen Örtchen, wo sich nicht viele Touristen hin verirren und wo die Küche vor allem aus einer Mikrowelle besteht. Dort verbringt Sonja nun ihre tristen Tage zwischen einer Handvoll schrulliger Gäste und ihren Erinnerungen an die drei Jahrzehnte mit Bruno.
Es war eine Ehe, deren Gemeinsamkeit sich in der aufreibenden Arbeit im Hotelrestaurant erschöpfte. In erotischer Hinsicht blieb die Küche kalt. Meist lag Bruno im Ehebett wie ein Unberührbarer. Er wird gezeichnet als Künstlerfigur ohne Begabung zur menschlichen Wärme, von einer gewissen romantisch-biedermeierlichen Verschrobenheit, die sich am deutlichsten offenbart, als er einmal eine Dankesrede für eine Auszeichnung halten soll und kein Wort herausbringt, stattdessen mit der Nase fast das Mikrofon umstößt.
Es gehört zum Reiz dieses Romans, dass er in den Rückblenden die selten zu Romanehren kommenden Mühen des Mittelstands vor Augen führt. Ein Nobel-Restaurant mit Dutzenden Mitarbeitern zu leiten - für die aus kleinen Verhältnissen stammende, erst bei ihrer Großmutter, dann in einem katholischen Nonnen-Internat aufgewachsene Sonja ist es eine beachtliche Karriere, deren Pflichten sie mit Ehrgeiz und einem geradezu erbitterten Ernst erfüllt, um später das Vergebliche ihrer Anstrengungen umso schmerzlicher zu empfinden.
Die Beschreibungen des Romans zeigen auch, dass der Alltag sogenannter Spitzenköche wenig mit dem Glamour zu tun hat, der in Fernsehshows vermittelt wird. Bei Bruno kocht die Angst immer mit. Jeder Teller, der die Küche verlässt, muss perfekt sein, denn er könnte auf dem Tisch eines unerkannten Testessers oder Gastrokritikers landen. Organisation und Logistik (frische Ware vom Pariser Fischmarkt) stellen hohe Anforderungen, und es ist keineswegs selbstverständlich, dass der Betrieb die Kosten für die teuren Zutaten wieder einspielt. Mit einer "Knorrsoßenkneipe", wie sie noch Brunos Eltern betrieben haben, lässt sich womöglich leichter Geld verdienen; auf jeden Fall macht sie weniger Mühe.
Während der letzte Roman des 1957 geborenen Schriftstellers nicht ohne Weitschweifigkeiten war, überzeugt "Und jeden Morgen das Meer" mit einer knappen, prägnanten und verdichteten Erzählweise, die ihre Motive auf mehreren Zeitebenen wie ein Musikstück entfaltet. Eine tiefe Melancholie ist dem Buch eingeschrieben, dennoch blitzt gelegentlich groteske Komik auf, etwa wenn geschildert wird, wie Sonja in der Zeit des "Lindenhof"-Untergangs einen Vortrag über das Thema "Der Sinn des Lebens" besucht und dabei schon den Dozenten als Zumutung empfindet: "Dieser Mann war so dick, dass sie dachte, er sollte abnehmen, bevor er über den Sinn des Lebens sprach." Fast panikartig flieht aus dem spärlich besetzten Saal.
Diesen kleinen, feinen Roman ein existentielles Kammerspiel zu nennen - daran hindert einen allerdings die wuchtige Naturszenerie von Abydyr, die eine Antithese bildet zur Bodenseewelt mit ihren gezähmten Gärten und ihrem schönen Schein. Immer wieder beschwört der Roman das Meer wie eine unersättliche, allen Zivilisationszinnober verschlingende Urkraft, mit haushohen Brechern, die raubtierhaft die Küste anfallen und Straßen überspülen, dazu ein zorniger Sturmwind, der Stühle an den Fenstern vorbeifliegen lässt und Laternen niederbiegt.
Immer wieder geht Sonja hinaus auf die Klippen, starrt in die wütenden Fluten und gibt sich ihren Gefühlen der Verlorenheit hin. "Man geht nur nach Wales, wenn man vom Leben nichts mehr erwartet", wurde sie gewarnt. Das Meer aber lehrt Sonja, dass das wahre Leben nicht aus Erwartungen besteht. Karl-Heinz Ott ist ein außergewöhnliches, sehr herbstliches Buch geglückt.
WOLFGANG SCHNEIDER
Karl-Heinz Ott: "Und jeden Morgen das Meer". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2018. 145 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein außerordentlicher Roman... Wie die einzelnen Bestandteile des Buchs unaufdringlich und kunstvoll zum Psychogramm einer zerbröselten Existenz arrangiert werden und wie in einer Gegenbewegung dargestellt wird, wie die Protagonistin eben diese Scherben aufliest und neu zusammenfügt, um sich zu retten, das ist große Kunst." Christoph Schröder, Zeit Online, 12.11.18
"Ott versteht sich als Beobachter aufs sprechende Detail. Ein schmales, aber reichhaltiges Buch." Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 11.11.18
"Der Roman überzeugt mit einer knappen, prägnanten und verdichteten Erzählweise, die ihre Motive auf mehreren Zeitebenen wie ein Musikstück entfaltet. Eine tiefe Melancholie ist dem Buch eingeschrieben, dennoch blitzt gelegentlich groteske Komik auf ... Karl-Heinz Ott ist ein außergewöhnliches, sehr herbstliches Buch geglückt." Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.18
"Karl-Heinz Ott hat sich auf überschaubarem Raum eine neue Dimension des Schreibens erarbeitet: die dionysisch entfesselte Natur in Worte zu fassen und sie zu verkoppeln mit dem Geschick der Menschen." Hubert Winkels, Süddeutsche Zeitung 01.10.18
"Die Stärke des Autors besteht darin, in kleinen Details das ganze Leben verdichten zu können. Es wird knapp erzählt, mit präzisen Momenten, in denen alles zum Vorschein kommt... Ein Roman, der viel schwerer wiegt, als er anfangs wirkt, und der lange nachhallt." Helmut Böttiger, Dlf Kultur Lesart, 05.09.18
"Karl-Heinz Ott ist nicht nur literarischer Fachmann für die leisen bürgerlichen Zwangslagen und Zwickmühlen; der Virtuose des gewöhnlichen Scheiterns, der unauffälligen Katastrophen. Er ist auch ein Autor, der seine Figuren beim Denken zeigt." Julia Schröder, SWR 2 Lesenswert, 31.08.18
"Ott versteht sich als Beobachter aufs sprechende Detail. Ein schmales, aber reichhaltiges Buch." Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 11.11.18
"Der Roman überzeugt mit einer knappen, prägnanten und verdichteten Erzählweise, die ihre Motive auf mehreren Zeitebenen wie ein Musikstück entfaltet. Eine tiefe Melancholie ist dem Buch eingeschrieben, dennoch blitzt gelegentlich groteske Komik auf ... Karl-Heinz Ott ist ein außergewöhnliches, sehr herbstliches Buch geglückt." Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.18
"Karl-Heinz Ott hat sich auf überschaubarem Raum eine neue Dimension des Schreibens erarbeitet: die dionysisch entfesselte Natur in Worte zu fassen und sie zu verkoppeln mit dem Geschick der Menschen." Hubert Winkels, Süddeutsche Zeitung 01.10.18
"Die Stärke des Autors besteht darin, in kleinen Details das ganze Leben verdichten zu können. Es wird knapp erzählt, mit präzisen Momenten, in denen alles zum Vorschein kommt... Ein Roman, der viel schwerer wiegt, als er anfangs wirkt, und der lange nachhallt." Helmut Böttiger, Dlf Kultur Lesart, 05.09.18
"Karl-Heinz Ott ist nicht nur literarischer Fachmann für die leisen bürgerlichen Zwangslagen und Zwickmühlen; der Virtuose des gewöhnlichen Scheiterns, der unauffälligen Katastrophen. Er ist auch ein Autor, der seine Figuren beim Denken zeigt." Julia Schröder, SWR 2 Lesenswert, 31.08.18
Ein Buch wie der reißender Sog des Meeres. carpegusta.de 20200619