Oliver führt in London ein Leben wie im Film. Nach dem Umzug aus Mannheim hat er Turnstyle Movies erfolgreich umgekrempelt; er hat eine kluge Engländerin geheiratet; und auch seine Affäre mit Anu ist wunderbar unkompliziert. Was ihm fehlt, ist ein Freund, mit dem er seinen Erfolg teilen kann. Bei einer Preview entdeckt er Orlando, jung, schwarz, charismatisch. Gemeinsam streifen sie durch die nächtliche Stadt, und es ist, als wären sie auf der anderen Seite der Leinwand. Aber wohin schaut man von dort aus? Turnstyle soll fusionieren, Olivers Ehe stürzt in eine Krise. Noch dazu ist der junge Freund weit mehr als der begabte Außenseiter, den er in ihm sieht: Orlando braucht kein Publikum, er braucht Hilfe. Und auf einmal ist es an Oliver, nicht nur den Film zu retten, der sein Leben ist, sondern auch seinen einzigen Freund. Elegant und leichtfüßig erzählt Ulf Erdmann Ziegler von Schein und Sein im glitzernden London des Millenniums. Und vom Mut, den es braucht, um man selbst zu sein.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Martin Halter staunt, was Ulf Erdmann Ziegler alles in einen Roman über eine Männerfreundschaft packen kann: Das ganze Reich der Zeichen, das Kino, Renaissancemalerei, Metaphysik und New Economy. Ziegler ist gelernter Kommunikationsdesigner, und das merkt der Rezensent auch. Daran, wie der Autor Zeichen und Bilder verknüpft, wie er vor- und zurückblendet, Handlungsebenen herumschiebt und eine Familiengeschichte mit Essay bestückt, dass dem Rezensenten der Kopf raucht. Das Buch - ein Parlando an der Bar auf höchstem Niveau, meint Halter, voller geistreicher Bonmots und beredtem Schweigen aus den "geöffneten Schleusen der Wortlosigkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2014Die Verrückten und die Eiskalten
Ulf Erdmann Ziegler erzählt in seinem Roman „Und jetzt du, Orlando!“ vom Verliebtsein
und Erwachsenwerden in London seit den Achtzigern. Und was das Kino dazu beigetragen hat
VON FRITZ GÖTTLER
Eine kleine Szene am Rande geht einem ganz besonders nach in diesem Buch, diesem dichten und ziemlich hektischen, die Räume und Zeiten der Moderne und Postmoderne umspannenden Erzählgeflecht. Eine Frau kommt zur Untersuchung zu einem jungen Arzt in einer dieser schrecklichen Polikliniken in London, mit dem dritten Kind schwanger im vierten Monat. „Da sitzt sie vor dir mit ihren wunderbaren hellen Brüsten, die du abtasten musst, Routine, du spürst die Hormone, aber deine musst du unterdrücken. Ein Lichtblick im Arbeitstag. Und du versagst, weil du jung bist und den Widerstand nicht spürst, das winzige Ding, das da nicht sein darf.“ Es ist eine erotische Szene, in die der Tod hineinspielt, ein bisschen wie bei Cronenberg, aber schicksalshaft getönt, mit brutalem Schlussakkord: „Sie ist das Apollinische in Person, später deine meistbedauerte Krebspatientin, und dann ist sie tot.“
Eine imaginäre Szene, entwickelt zwischen den beiden Helden des Buches, dem Deutschen Oliver und dem schwarzen Engländer Orlando. Gemeinsam ziehen sie los, nach Arbeitsende, auf nächtliche Streifzüge durch London, ostwärts, Richtung Stratford, an heruntergekommenen Häusern und auf versteckten Pfaden, sie suchen das Salmon & Ball auf und das Duke of Wellington und das Vortex, die Pubs der Stadt, über denen schon das fürsorglich korrekte Rauchverbot schwebt.
Zwei Familiengeschichten, die sich hier vagierend austauschen, sie beginnen mit den Eltern und Großeltern in der Vorkriegs- und Kriegszeit, nehmen Fahrt auf nach Kriegsende und entwickeln ihren eigenen Swing, wenn Oliver und Orlando in Aktion treten – die Nach-68-Jahre und dann die deutsche Wiedervereinigung, irgendwann steht schließlich dort, wo sie sich auf ihren nächtlichen Touren einst durchs Dickicht schlugen, das gigantische Olympiastadion. Aber auch von der Kinogeschichte wird die private markiert, es ist die große Zeit der Cineasten, die auch die Endphase des Zelluloidkinos ist, das von der digitalen Produktion und Projektion abgelöst wird. Oliver arbeitet in einem kleinen britischen Kinoverleih, der mit Arthouse-Produkten erstaunlich gute Geschäfte macht – die echte Welt des Films, wo „die Verrückten mit den Eiskalten gemeinsame Sache machen“. Er arbeitet als Buchhalter der Firma, nicht nur im Büro, sondern auch auf Fahrten übers Land, zu Kinobetreibern oder auf Festivals. In Zukunft wird er nicht Kartons mit Filmrollen zur Post bringen, sondern kleine Umschläge mit kleinen silbernen Digitalscheiben. Orlando arbeitet gleich nebenan in einer assoziierten Firma, einem Musiklabel, beide tragen den programmatischen Namen Turnstyle. „Mir wurde erst jetzt so richtig klar, was für eine große Zeit das war“, erklärt Oliver. „Noch ist.“ Es ist dann aber eine sehr britische, recht ordentliche Vorstellung vom Kino als Hochamt, die er vertritt, von den Ekstasen, die das Kino uns bietet – Stephen Frears, Kurosawa, Tarkowski –, und vom Ikonoklasmus, von den der wilden Anarchie, mit der die Franzosen in den Fünfzigern sich für die Nouvelle Vague rüsteten, ist da nichts zu spüren. Besonders leicht funktioniert die Kommunikation über Filme von Lars von Trier, von „Dancer in the Dark“ über „Breaking the Waves“ hin zu „Melancholia“ – „leider haben wir ihn nicht im Verleih, LMD hat ihn uns weggeschnappt“.
Parallel zur Passion der Arbeit am Kino läuft die Ehe- und Familiengeschichte von Oliver und Barbara – sie ist Kunsthistorikerin, die sich des Themas der Beweinung in der Kunst annimmt. Eine Ehe, in die die kulturelle Differenz zwischen England und Deutschland hineinspielt. Olivers Vater war Assistent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, erhielt dann einen Lehrauftrag in Stuttgart und eine Wohnung in der Weißenhofsiedlung. Oliver studierte in Mannheim, Betriebswirtschaft. Barbara konnte einen einzigen deutschen Satz, „Mein Lieber! Du hast aber eine Fahne“ , den Oliver ihr beigebracht hatte. Bei Orlando gibt es ein versifftes Elternpaar, eine Großmutter namens Mitzi – bei deren Beerdigung singt er den Kurt-Weill-Song „Es regnet“ – und einen intriganten Zwillingsbruder Jason. Sie sind am gleichen Tag geboren, aber mit einem Jahr Unterschied.
Ulf Erdmann Ziegler steckt auch beim Romaneschreiben der Kultur- und Kunstwissenschaftler im Blut, also lässt er seine unsteten Helden immer schnell ins Schwadronieren kommen, sie verkörpern die Postmoderne in Bewegung, immer wird, wenn der andere etwas beobachtet, erinnert, erzählt hat, vom andern Kontext und Kommentar geliefert. Es ist eine männliche Euphorie, dieser Furor des Formulierens, Reflektieren als Leibesübung, die von Wilde oder Nietzsche inspiriert ist und meistens etwas Wagnerianisches hat. „Er trug meine Sprache bei sich, wie andere Münzen klimpernd in der Hosentasche tragen.“
Gayle heißt die junge Frau mit dem Knoten in der Brust, die Schwester Barbaras, die Heiterkeit steckt ihr schon im Namen, Dieser Heiterkeit, ihrer Ausstrahlung und Aura ist sie schließlich – siehe oben – zum Opfer gefallen. Mit Gayle gibt es einen der schönsten Momente der Kommunikation in diesem Buch, in dem die magnificent obsession des Kinos sich bewährt und Ulf Erdmann Ziegler keine Scheu hat, womöglich als sentimental zu gelten. In einem Sommerurlaub am Windermere-See kommt Oliver ins Haus, wo Gayle gerade einen Pullover überstreift. Er muss an eine Kinoszene mit Melanie Griffith und dem alten Paul Newman denken. Kennst du „Nobody’s Fool“, fragt er Gayle, und die zieht zur Antwort ihren Pullover hoch. „Sie war wie ein Licht, man sah sie und wurde selbst heller . . . Sie wollte mich nicht verführen. Sie wollte mich trösten. Ihre schon kranke Brust, aber wunderschön, man sah das nicht, überhaupt nicht. Sie war das Leben selbst.“
Ulf Erdmann Ziegler: Und jetzt du, Orlando! Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 219 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Barbara konnte einen einzigen
deutschen Satz, „Mein Lieber!
Du hast aber eine Fahne.“
Die Braut hat recht, als sie alles zerstört, läppisch und gemein zugleich . . . Kirsten Dunst und Charlotte Gainsbourg in Lars von Triers Film „Melancholia“, der den Helden Ulf Erdmann Zieglers bei der finalen Welterklärung hilft.
Foto: Concorde
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ulf Erdmann Ziegler erzählt in seinem Roman „Und jetzt du, Orlando!“ vom Verliebtsein
und Erwachsenwerden in London seit den Achtzigern. Und was das Kino dazu beigetragen hat
VON FRITZ GÖTTLER
Eine kleine Szene am Rande geht einem ganz besonders nach in diesem Buch, diesem dichten und ziemlich hektischen, die Räume und Zeiten der Moderne und Postmoderne umspannenden Erzählgeflecht. Eine Frau kommt zur Untersuchung zu einem jungen Arzt in einer dieser schrecklichen Polikliniken in London, mit dem dritten Kind schwanger im vierten Monat. „Da sitzt sie vor dir mit ihren wunderbaren hellen Brüsten, die du abtasten musst, Routine, du spürst die Hormone, aber deine musst du unterdrücken. Ein Lichtblick im Arbeitstag. Und du versagst, weil du jung bist und den Widerstand nicht spürst, das winzige Ding, das da nicht sein darf.“ Es ist eine erotische Szene, in die der Tod hineinspielt, ein bisschen wie bei Cronenberg, aber schicksalshaft getönt, mit brutalem Schlussakkord: „Sie ist das Apollinische in Person, später deine meistbedauerte Krebspatientin, und dann ist sie tot.“
Eine imaginäre Szene, entwickelt zwischen den beiden Helden des Buches, dem Deutschen Oliver und dem schwarzen Engländer Orlando. Gemeinsam ziehen sie los, nach Arbeitsende, auf nächtliche Streifzüge durch London, ostwärts, Richtung Stratford, an heruntergekommenen Häusern und auf versteckten Pfaden, sie suchen das Salmon & Ball auf und das Duke of Wellington und das Vortex, die Pubs der Stadt, über denen schon das fürsorglich korrekte Rauchverbot schwebt.
Zwei Familiengeschichten, die sich hier vagierend austauschen, sie beginnen mit den Eltern und Großeltern in der Vorkriegs- und Kriegszeit, nehmen Fahrt auf nach Kriegsende und entwickeln ihren eigenen Swing, wenn Oliver und Orlando in Aktion treten – die Nach-68-Jahre und dann die deutsche Wiedervereinigung, irgendwann steht schließlich dort, wo sie sich auf ihren nächtlichen Touren einst durchs Dickicht schlugen, das gigantische Olympiastadion. Aber auch von der Kinogeschichte wird die private markiert, es ist die große Zeit der Cineasten, die auch die Endphase des Zelluloidkinos ist, das von der digitalen Produktion und Projektion abgelöst wird. Oliver arbeitet in einem kleinen britischen Kinoverleih, der mit Arthouse-Produkten erstaunlich gute Geschäfte macht – die echte Welt des Films, wo „die Verrückten mit den Eiskalten gemeinsame Sache machen“. Er arbeitet als Buchhalter der Firma, nicht nur im Büro, sondern auch auf Fahrten übers Land, zu Kinobetreibern oder auf Festivals. In Zukunft wird er nicht Kartons mit Filmrollen zur Post bringen, sondern kleine Umschläge mit kleinen silbernen Digitalscheiben. Orlando arbeitet gleich nebenan in einer assoziierten Firma, einem Musiklabel, beide tragen den programmatischen Namen Turnstyle. „Mir wurde erst jetzt so richtig klar, was für eine große Zeit das war“, erklärt Oliver. „Noch ist.“ Es ist dann aber eine sehr britische, recht ordentliche Vorstellung vom Kino als Hochamt, die er vertritt, von den Ekstasen, die das Kino uns bietet – Stephen Frears, Kurosawa, Tarkowski –, und vom Ikonoklasmus, von den der wilden Anarchie, mit der die Franzosen in den Fünfzigern sich für die Nouvelle Vague rüsteten, ist da nichts zu spüren. Besonders leicht funktioniert die Kommunikation über Filme von Lars von Trier, von „Dancer in the Dark“ über „Breaking the Waves“ hin zu „Melancholia“ – „leider haben wir ihn nicht im Verleih, LMD hat ihn uns weggeschnappt“.
Parallel zur Passion der Arbeit am Kino läuft die Ehe- und Familiengeschichte von Oliver und Barbara – sie ist Kunsthistorikerin, die sich des Themas der Beweinung in der Kunst annimmt. Eine Ehe, in die die kulturelle Differenz zwischen England und Deutschland hineinspielt. Olivers Vater war Assistent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, erhielt dann einen Lehrauftrag in Stuttgart und eine Wohnung in der Weißenhofsiedlung. Oliver studierte in Mannheim, Betriebswirtschaft. Barbara konnte einen einzigen deutschen Satz, „Mein Lieber! Du hast aber eine Fahne“ , den Oliver ihr beigebracht hatte. Bei Orlando gibt es ein versifftes Elternpaar, eine Großmutter namens Mitzi – bei deren Beerdigung singt er den Kurt-Weill-Song „Es regnet“ – und einen intriganten Zwillingsbruder Jason. Sie sind am gleichen Tag geboren, aber mit einem Jahr Unterschied.
Ulf Erdmann Ziegler steckt auch beim Romaneschreiben der Kultur- und Kunstwissenschaftler im Blut, also lässt er seine unsteten Helden immer schnell ins Schwadronieren kommen, sie verkörpern die Postmoderne in Bewegung, immer wird, wenn der andere etwas beobachtet, erinnert, erzählt hat, vom andern Kontext und Kommentar geliefert. Es ist eine männliche Euphorie, dieser Furor des Formulierens, Reflektieren als Leibesübung, die von Wilde oder Nietzsche inspiriert ist und meistens etwas Wagnerianisches hat. „Er trug meine Sprache bei sich, wie andere Münzen klimpernd in der Hosentasche tragen.“
Gayle heißt die junge Frau mit dem Knoten in der Brust, die Schwester Barbaras, die Heiterkeit steckt ihr schon im Namen, Dieser Heiterkeit, ihrer Ausstrahlung und Aura ist sie schließlich – siehe oben – zum Opfer gefallen. Mit Gayle gibt es einen der schönsten Momente der Kommunikation in diesem Buch, in dem die magnificent obsession des Kinos sich bewährt und Ulf Erdmann Ziegler keine Scheu hat, womöglich als sentimental zu gelten. In einem Sommerurlaub am Windermere-See kommt Oliver ins Haus, wo Gayle gerade einen Pullover überstreift. Er muss an eine Kinoszene mit Melanie Griffith und dem alten Paul Newman denken. Kennst du „Nobody’s Fool“, fragt er Gayle, und die zieht zur Antwort ihren Pullover hoch. „Sie war wie ein Licht, man sah sie und wurde selbst heller . . . Sie wollte mich nicht verführen. Sie wollte mich trösten. Ihre schon kranke Brust, aber wunderschön, man sah das nicht, überhaupt nicht. Sie war das Leben selbst.“
Ulf Erdmann Ziegler: Und jetzt du, Orlando! Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 219 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Barbara konnte einen einzigen
deutschen Satz, „Mein Lieber!
Du hast aber eine Fahne.“
Die Braut hat recht, als sie alles zerstört, läppisch und gemein zugleich . . . Kirsten Dunst und Charlotte Gainsbourg in Lars von Triers Film „Melancholia“, der den Helden Ulf Erdmann Zieglers bei der finalen Welterklärung hilft.
Foto: Concorde
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2015Der Mann, der die Bilder liebte
Ikonographische Kneipentour: Ulf Erdmann Zieglers Roman "Und jetzt du, Orlando!" ist eine großartige Hommage an das analoge Kino, in dem das Wünschen und Weinen noch geholfen haben.
Wenn zwei leitende Angestellte eines kleinen, aber feinen Londoner Filmverleihs am Freitagabend um die Häuser ziehen, ist es natürlich keine ordinäre Afterwork-Kneipentour. London ist in den neunziger Jahren noch nicht die gentrifizierte, globalisierte Glitzermetropole von heute, das "Lego-Ufo" der Shopping Malls und Bankenpaläste. Und Oliver Hoelzle und sein Freund Orlando treffen sich jedenfalls nicht in den Yuppie-Bars der City, sondern weit draußen in den Docklands, zwischen Flohmärkten, Baracken und Müllhalden, in verräucherten, versifften Schuppen und plüschigen Pubs wie dem "Duke of Wellington". Atmosphäre und Publikum nehmen sie allerdings nur aus den Augenwinkeln wahr: Wenn Orlando und Oliver miteinander trinken und reden, ist es immer ein kleines kunst- und kulturgeschichtliches Kolloquium, Tresen-Parlando auf höchstem Niveau. Cineasten aus Profession und Leidenschaft, haben sie für jede Erfahrung, jedes Bild, jede Station ihres Lebens ein passendes Filmzitat, ein geistreiches Bonmot ("Die Mystik ist ja die Esoterik des Mittelalters") oder wenigstens ein beredtes Schweigen aus den "geöffneten Schleusen der Wortlosigkeit" parat. Die Welt ist ein Fleischwolf: "Egal was man oben reintut, unten kommt immer ein Woody-Allen-Film heraus."
Oliver, der Erzähler, wuchs im pietistischen Schwaben auf, in seinem Elternhaus herrschte eine calvinistische Bauhaus-Pädagogik und die Liebe zur rechtwinkligen Vernunft. Als Kind kam er mit roten Ohren aus Filmen wie "Her mit den kleinen Engländerinnen"; in Mannheim, wo er Betriebswirtschaft studierte, machte ihn eine Robert-Altman-Werkreihe zum Filmfreak, und in London dann wurden die Bilder endgültig zu seinem Schicksal: Oliver wurde Prokurist bei Turnstyle Movies und heiratete eine englische Kunsthistorikerin. Barbaras Spezialgebiet ist die Beweinung Christi vom dreizehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung von Genderaspekten, für Oliver war das Weinen der Männer im Kino mehr als ein akademisches "Motiv". Er lernte Orlando bei der Preview von Lars von Triers "Breaking the Waves" kennen, als die beiden Männer sich ihrer Tränen nicht schämten. Am Ende wird er seinen toten Freund beweinen.
Orlando ist deutlich rätselhafter als Oliver: geborener Kosmopolit, bisexuell, charismatisch, ein schwarzer Jude, der akzentfrei Deutsch spricht, verstoßen von seiner Hippiemutter und gehasst von seinem Bruder Jason. "Du bist eben du, Orlando", sagt Oliver über seinen Freund, "du bist jüdisch, verbildet, elegant, schwul, einsam, all das. Oder all das nicht. Nein, ich werde dich sein lassen, was du sein willst." Orlando ist alles, was Oliver nicht ist. Er spricht wenig, aber er kann Olivers Redefluss mit knappen Worten resümieren und sogar antizipieren, und das macht ihn zu seinem Wunschbruder. Oliver ist manchmal sentimental und nostalgisch, aber er ist vor allem der "Technokrat mit Herz", der Turnstyle Movies nüchtern und umsichtig in die Ära der Digitalisierung steuert. Er ist der Buchhalter, der vor seinem Deutschtum nach England, ins Land der kultivierten Anarchie, floh; jetzt erzählt er Orlandos Geschichte, als wäre es seine eigene: "Du weißt, was ich meine, nicht wahr?" Oliver ist der Narziss im Spiegel, hörbar begeistert von seiner eigenen Rede, aber er kann auch im rechten Moment einen Schritt zurücktreten: Ich habe genug geredet, jetzt bist du dran.
Ulf Erdmann Ziegler hat visuelle Kommunikation in Dortmund und Berlin studiert; davon profitierte er als Journalist und auch in seiner zweiten Karriere als Schriftsteller. In seinem letzten Roman "Nichts Weißes" setzte er sich auf originelle Weise mit Schrift und Typographie auseinander, diesmal beschreibt er Möglichkeiten und Grenzen visueller Kommunikation durch Bilder in Öffentlichkeit und Privatleben. Ziegler bewegt sich sehr souverän im Reich der Zeichen und Bilder, er verknüpft elegant Vor- und Rückblenden, Zeit- und Realitätsebenen, deutsche und englische Familiengeschichten und streut immer wieder beiläufig kleine Essays über Androgynität in der Renaissancemalerei oder den Mini Cooper als Mythos der Moderne ein.
Allerdings wirkt es doch ziemlich prätentiös, wie er bewegte Bilder und bewegende Szenen zu Standfotos einfriert und mit klugen Reflexionen und Zitaten zu Menetekeln aufdonnert. "Der ist ja schlau", staunen die Leute über den Buchhalter-Künstler, der vom Hölzle aufs Stöckchen, von Antonioni auf Leonardo und von den alten Holländern zu Godard, Truffaut und Fassbinder kommt. Zieglers leichtfüßige Nouvelle Vague wird von seiner Neigung zu Bedeutungs- und Bildungshuberei gelegentlich fast erdrückt.
"Und jetzt du, Orlando" ist die Geschichte einer (leicht homoerotisch getönten) Männerfreundschaft und nicht zuletzt ein Abgesang auf das alte, analoge Kino, in dem das Wünschen und Weinen noch geholfen haben. Die Welt der Nickelodeons und Programmkinos, der Filmvorführer, Autorenfilmer und Kinospinner ist dem Untergang geweiht, und das macht die Männer einsam. Oliver weiß alles über Metaphysik und New Economy, Tarkowski und die Beweinung Christi, aber Barbara, die "Miss Marple der Ikonographie", und seine Tochter Kathy entgleiten ihm zunehmend. "Der Mann, der die Bilder liebt, versteht nichts von der Welt." Aber wer ins Kino geht, hat jedenfalls immer Freunde zum Reden, Lachen und Beweinen. Es wird noch eine Zeit kommen, "in der wir um das Kino weinen werden".
MARTIN HALTER.
Ulf Erdmann Ziegler: "Und jetzt du, Orlando!" Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 214 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ikonographische Kneipentour: Ulf Erdmann Zieglers Roman "Und jetzt du, Orlando!" ist eine großartige Hommage an das analoge Kino, in dem das Wünschen und Weinen noch geholfen haben.
Wenn zwei leitende Angestellte eines kleinen, aber feinen Londoner Filmverleihs am Freitagabend um die Häuser ziehen, ist es natürlich keine ordinäre Afterwork-Kneipentour. London ist in den neunziger Jahren noch nicht die gentrifizierte, globalisierte Glitzermetropole von heute, das "Lego-Ufo" der Shopping Malls und Bankenpaläste. Und Oliver Hoelzle und sein Freund Orlando treffen sich jedenfalls nicht in den Yuppie-Bars der City, sondern weit draußen in den Docklands, zwischen Flohmärkten, Baracken und Müllhalden, in verräucherten, versifften Schuppen und plüschigen Pubs wie dem "Duke of Wellington". Atmosphäre und Publikum nehmen sie allerdings nur aus den Augenwinkeln wahr: Wenn Orlando und Oliver miteinander trinken und reden, ist es immer ein kleines kunst- und kulturgeschichtliches Kolloquium, Tresen-Parlando auf höchstem Niveau. Cineasten aus Profession und Leidenschaft, haben sie für jede Erfahrung, jedes Bild, jede Station ihres Lebens ein passendes Filmzitat, ein geistreiches Bonmot ("Die Mystik ist ja die Esoterik des Mittelalters") oder wenigstens ein beredtes Schweigen aus den "geöffneten Schleusen der Wortlosigkeit" parat. Die Welt ist ein Fleischwolf: "Egal was man oben reintut, unten kommt immer ein Woody-Allen-Film heraus."
Oliver, der Erzähler, wuchs im pietistischen Schwaben auf, in seinem Elternhaus herrschte eine calvinistische Bauhaus-Pädagogik und die Liebe zur rechtwinkligen Vernunft. Als Kind kam er mit roten Ohren aus Filmen wie "Her mit den kleinen Engländerinnen"; in Mannheim, wo er Betriebswirtschaft studierte, machte ihn eine Robert-Altman-Werkreihe zum Filmfreak, und in London dann wurden die Bilder endgültig zu seinem Schicksal: Oliver wurde Prokurist bei Turnstyle Movies und heiratete eine englische Kunsthistorikerin. Barbaras Spezialgebiet ist die Beweinung Christi vom dreizehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung von Genderaspekten, für Oliver war das Weinen der Männer im Kino mehr als ein akademisches "Motiv". Er lernte Orlando bei der Preview von Lars von Triers "Breaking the Waves" kennen, als die beiden Männer sich ihrer Tränen nicht schämten. Am Ende wird er seinen toten Freund beweinen.
Orlando ist deutlich rätselhafter als Oliver: geborener Kosmopolit, bisexuell, charismatisch, ein schwarzer Jude, der akzentfrei Deutsch spricht, verstoßen von seiner Hippiemutter und gehasst von seinem Bruder Jason. "Du bist eben du, Orlando", sagt Oliver über seinen Freund, "du bist jüdisch, verbildet, elegant, schwul, einsam, all das. Oder all das nicht. Nein, ich werde dich sein lassen, was du sein willst." Orlando ist alles, was Oliver nicht ist. Er spricht wenig, aber er kann Olivers Redefluss mit knappen Worten resümieren und sogar antizipieren, und das macht ihn zu seinem Wunschbruder. Oliver ist manchmal sentimental und nostalgisch, aber er ist vor allem der "Technokrat mit Herz", der Turnstyle Movies nüchtern und umsichtig in die Ära der Digitalisierung steuert. Er ist der Buchhalter, der vor seinem Deutschtum nach England, ins Land der kultivierten Anarchie, floh; jetzt erzählt er Orlandos Geschichte, als wäre es seine eigene: "Du weißt, was ich meine, nicht wahr?" Oliver ist der Narziss im Spiegel, hörbar begeistert von seiner eigenen Rede, aber er kann auch im rechten Moment einen Schritt zurücktreten: Ich habe genug geredet, jetzt bist du dran.
Ulf Erdmann Ziegler hat visuelle Kommunikation in Dortmund und Berlin studiert; davon profitierte er als Journalist und auch in seiner zweiten Karriere als Schriftsteller. In seinem letzten Roman "Nichts Weißes" setzte er sich auf originelle Weise mit Schrift und Typographie auseinander, diesmal beschreibt er Möglichkeiten und Grenzen visueller Kommunikation durch Bilder in Öffentlichkeit und Privatleben. Ziegler bewegt sich sehr souverän im Reich der Zeichen und Bilder, er verknüpft elegant Vor- und Rückblenden, Zeit- und Realitätsebenen, deutsche und englische Familiengeschichten und streut immer wieder beiläufig kleine Essays über Androgynität in der Renaissancemalerei oder den Mini Cooper als Mythos der Moderne ein.
Allerdings wirkt es doch ziemlich prätentiös, wie er bewegte Bilder und bewegende Szenen zu Standfotos einfriert und mit klugen Reflexionen und Zitaten zu Menetekeln aufdonnert. "Der ist ja schlau", staunen die Leute über den Buchhalter-Künstler, der vom Hölzle aufs Stöckchen, von Antonioni auf Leonardo und von den alten Holländern zu Godard, Truffaut und Fassbinder kommt. Zieglers leichtfüßige Nouvelle Vague wird von seiner Neigung zu Bedeutungs- und Bildungshuberei gelegentlich fast erdrückt.
"Und jetzt du, Orlando" ist die Geschichte einer (leicht homoerotisch getönten) Männerfreundschaft und nicht zuletzt ein Abgesang auf das alte, analoge Kino, in dem das Wünschen und Weinen noch geholfen haben. Die Welt der Nickelodeons und Programmkinos, der Filmvorführer, Autorenfilmer und Kinospinner ist dem Untergang geweiht, und das macht die Männer einsam. Oliver weiß alles über Metaphysik und New Economy, Tarkowski und die Beweinung Christi, aber Barbara, die "Miss Marple der Ikonographie", und seine Tochter Kathy entgleiten ihm zunehmend. "Der Mann, der die Bilder liebt, versteht nichts von der Welt." Aber wer ins Kino geht, hat jedenfalls immer Freunde zum Reden, Lachen und Beweinen. Es wird noch eine Zeit kommen, "in der wir um das Kino weinen werden".
MARTIN HALTER.
Ulf Erdmann Ziegler: "Und jetzt du, Orlando!" Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 214 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ulf Erdmann Zieglers Roman Und jetzt du, Orlando! ist eine großartige Hommage an das analoge Kino, in dem das Wünschen und Weinen noch geholfen haben.« Martin Halter Frankfurter Allgemeine Zeitung 20150311