Ein Einblick in hundert Jahre Erzählkunst aus Kolumbien
Kolumbien - wahrscheinlich ist die Literatur der beste Weg, um dieses einzigartige, widersprüchliche, grossartige Land zu verstehen. Mit diesem Leitgedanken hat der Herausgeber Peter Schultze-Kraft eine spannende Sammlung von 70 Geschichten zusammengestellt, die einen guten Einblick nicht nur in hundert Jahre Erzählkunst, sondern auch in die politische, soziale und psychologische Problematik Kolumbiens vermitteln.
Wie kommt es, dass Kolumbien so schön und so schrecklich zugleich sein kann? Der weltweit bekannteste lebende Maler ist Kolumbianer (Fernando Botero) und der weltweit bekannteste lebende Schriftsteller auch (Gabriel Garcia Marquez). Kolumbien hat der Welt viel geschenkt, doch die täglichen Nachrichten von Morden, Entführungen, Drogenkartellen und Korruption sind dazu angetan, einen das Fürchten zu lehren. Kolumbien ist ein Land der Extreme. Das gilt für die Geografie, das Klima, die Vegetation: schneebedeckte Andengipfel und tropische Regenwälder, fruchtbare Täler, weite Savannen, Wüste; Berge und Meer. Und es gilt für die Menschen: Indios und Nachkommen der Spanier, Mestizen, Schwarze, "Chinos" (Asiaten) und "Turcos" (Einwanderer aus dem Libanon und Syrien). Und wer Kolumbien ein Land der Superlative nennt - der zartesten Liebeslieder, der grössten Gastfreundschaft, der geschicktesten Handwerker, ein Land der Dichter und Denker -, der hat Recht, muss aber hinzufügen, dass in diesem schönen Land "die statistische Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, grösser ist als die, in der Lotterie zu gewinnen". Seit seiner Unabhängigkeit von Spanien hat Kolumbien fast ununterbrochen Krieg gegen sich selbst geführt, einen Krieg, dem allein in den letzten 50 Jahren über eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen sind. Wer die politische Entwicklung Lateinamerikas in jüngerer Zeit verfolgt hat, die Kubanische Revolution, die Militärdiktaturen in Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay, schliesslich die sandinistische Revolution und den Krieg der Contra in Nicaragua, kann unschwer voraussehen, dass der nächste Hauptschauplatz der Zeitgeschichte auf diesem Kontinent Kolumbien sein wird. Denn mit dem "Plan Colombia" wird die Armee des Landes, wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen selbst im Kreuzfeuer der Kritik, derzeit für den grossen Krieg gegen die Guerrilla gerüstet, eine Guerrilla, die man in Europa immer noch romantisch verklärt sieht, deren Kampf um soziale Gerechtigkeit aber längst zu einem Machtkampf mit terroristischen und kriminellen Methoden pervertiert ist. "Wahrscheinlich ist die Literatur der beste Weg, um dieses einzigartige, widersprüchliche, grossartige Land zu verstehen", sagt der jüdisch-österreichische Buchhändler Hans Ungar in Bogota. Mit diesem Leitgedanken hat der Herausgeber Peter Schultze-Kraft, der vor 40 Jahren selbst im Herzen der Bananenzone, in Garcia Marquez` Welt Macondo, gelebt hat und der das Schaffen der kolumbianischen Schriftsteller seither als Freund und Förderer verfolgt, eine spannende Sammlung von 70 Geschichten zusammengestellt, die einen guten Einblick nicht nur in hundert Jahre Erzählkunst, sondern auch in die politische, soziale und psychologische Problematik Kolumbiens vermitteln. Die Fülle des Materials ist übersichtlich gegliedert, so dass Leser und Leserin neben den Zeitgenossen des Nobelpreisträgers auch die Klassiker und Vorläufer kennen lernen und die erfrischend universellen "jungen Löwen" entdecken können. Die meisten AutorInnen und fast alle Erzählungen werden zum ersten Mal in deutscher Spache vorgestellt. Ein besonderes Merkmal des Bandes ist die Maßstäbe setzende Qualität der Übersetzungen aus der Hand renommierter Schriftsteller.
Kolumbien - wahrscheinlich ist die Literatur der beste Weg, um dieses einzigartige, widersprüchliche, grossartige Land zu verstehen. Mit diesem Leitgedanken hat der Herausgeber Peter Schultze-Kraft eine spannende Sammlung von 70 Geschichten zusammengestellt, die einen guten Einblick nicht nur in hundert Jahre Erzählkunst, sondern auch in die politische, soziale und psychologische Problematik Kolumbiens vermitteln.
Wie kommt es, dass Kolumbien so schön und so schrecklich zugleich sein kann? Der weltweit bekannteste lebende Maler ist Kolumbianer (Fernando Botero) und der weltweit bekannteste lebende Schriftsteller auch (Gabriel Garcia Marquez). Kolumbien hat der Welt viel geschenkt, doch die täglichen Nachrichten von Morden, Entführungen, Drogenkartellen und Korruption sind dazu angetan, einen das Fürchten zu lehren. Kolumbien ist ein Land der Extreme. Das gilt für die Geografie, das Klima, die Vegetation: schneebedeckte Andengipfel und tropische Regenwälder, fruchtbare Täler, weite Savannen, Wüste; Berge und Meer. Und es gilt für die Menschen: Indios und Nachkommen der Spanier, Mestizen, Schwarze, "Chinos" (Asiaten) und "Turcos" (Einwanderer aus dem Libanon und Syrien). Und wer Kolumbien ein Land der Superlative nennt - der zartesten Liebeslieder, der grössten Gastfreundschaft, der geschicktesten Handwerker, ein Land der Dichter und Denker -, der hat Recht, muss aber hinzufügen, dass in diesem schönen Land "die statistische Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, grösser ist als die, in der Lotterie zu gewinnen". Seit seiner Unabhängigkeit von Spanien hat Kolumbien fast ununterbrochen Krieg gegen sich selbst geführt, einen Krieg, dem allein in den letzten 50 Jahren über eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen sind. Wer die politische Entwicklung Lateinamerikas in jüngerer Zeit verfolgt hat, die Kubanische Revolution, die Militärdiktaturen in Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay, schliesslich die sandinistische Revolution und den Krieg der Contra in Nicaragua, kann unschwer voraussehen, dass der nächste Hauptschauplatz der Zeitgeschichte auf diesem Kontinent Kolumbien sein wird. Denn mit dem "Plan Colombia" wird die Armee des Landes, wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen selbst im Kreuzfeuer der Kritik, derzeit für den grossen Krieg gegen die Guerrilla gerüstet, eine Guerrilla, die man in Europa immer noch romantisch verklärt sieht, deren Kampf um soziale Gerechtigkeit aber längst zu einem Machtkampf mit terroristischen und kriminellen Methoden pervertiert ist. "Wahrscheinlich ist die Literatur der beste Weg, um dieses einzigartige, widersprüchliche, grossartige Land zu verstehen", sagt der jüdisch-österreichische Buchhändler Hans Ungar in Bogota. Mit diesem Leitgedanken hat der Herausgeber Peter Schultze-Kraft, der vor 40 Jahren selbst im Herzen der Bananenzone, in Garcia Marquez` Welt Macondo, gelebt hat und der das Schaffen der kolumbianischen Schriftsteller seither als Freund und Förderer verfolgt, eine spannende Sammlung von 70 Geschichten zusammengestellt, die einen guten Einblick nicht nur in hundert Jahre Erzählkunst, sondern auch in die politische, soziale und psychologische Problematik Kolumbiens vermitteln. Die Fülle des Materials ist übersichtlich gegliedert, so dass Leser und Leserin neben den Zeitgenossen des Nobelpreisträgers auch die Klassiker und Vorläufer kennen lernen und die erfrischend universellen "jungen Löwen" entdecken können. Die meisten AutorInnen und fast alle Erzählungen werden zum ersten Mal in deutscher Spache vorgestellt. Ein besonderes Merkmal des Bandes ist die Maßstäbe setzende Qualität der Übersetzungen aus der Hand renommierter Schriftsteller.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.04.2002Des Patriarchen Allergie gegen Nähe
Die Guerilla als Konzern: „Und träumten vom Leben” ist eine erstaunliche Anthologie kolumbianischer Erzählungen jenseits des magischen Realismus
Kolumbien ist eine der ältesten Demokratien Lateinamerikas und ein Inbegriff des Schreckens. Wie von den meisten Begriffen haben wir auch von diesem kaum eine Anschauung. Natürlich, die Nachrichten vermelden es ja: da teilen sich Regierung, Drogenkartelle, Guerilla und paramilitärische Verbände das Land, und bei ihren Verteilungskämpfen sterben jedes Jahr rund 3000 Zivilisten. Aber wie es ist, in diesem Staat zu leben, in dem die Wahrscheinlichkeit, entführt zu werden, größer ist als die, sein Leben lang unbehelligt von Gewalttaten zu bleiben, können die Nachrichten nicht vermitteln.
Die Statistik bilanziert, dass die Hälfte aller Entführungen der Welt in Kolumbien verübt wird, wo derlei nachgerade als Geschäftszweig floriert. Die Guerilla, die in den letzten fünfzehn Jahren von einer sozialrevolutionären Bewegung zum Konzern verkam, der einen Teil des Landes kontrolliert und mit den Drogenbossen ein Geschäftsabkommen geschlossen hat, erteilt Kriminellen in den Städten gut dotierte Aufträge: das Opfer wird von gewöhnlichen Verbrechern entführt und an die Guerilla verkauft, die dann als Revolutionssteuer hohes Lösegeld eintreibt.
Die Gewalt hat Kolumbien seit über hundert Jahren im Griff. Zwischen 1899 und 1902 tobte der Bürgerkrieg der „Tausend Tage”, der 100000 Menschen das Leben kostete; nach einem Regierungswechsel im Jahr 1946 wurden die Anhänger der Liberalen Partei von denen der Konservativen ausgeplündert, aus ihren Häusern verjagt, bis der Ära der „violencia” geschätzte 300000 Menschen zum Opfer gefallen waren. In all den von Exzessen der Gewalt geprägten Jahren seither war Kolumbien zugleich ein Staat, in dem es reguläre Wahlen, zivile Regierungen, Fußballmeisterschaften, staatlich finanzierte Lyrikfestivals und das gab, was man Alltag nennt. Wie lebt man in Kolumbien, was tun die Leute, außer sich Gewalt zuzufügen oder sich vor Gewalt zu schützen?
Nicht nur der Zauberer
Die kolumbianische Literatur zeigt, dass die Gewalt auch das private Leben durchdringt; aber die Literatur zeigt auch, dass sich das Leben des einzelnen gleichwohl nicht in der Reaktion auf die omnipräsente violencia erschöpft. Indes, diese Literatur, wer kennt sie schon? Gewiss, da gibt es „den Zauberer”, Gabriel García-Márquez, aber sonst? Peter Schultze-Kraft ist vor 40 Jahren zum ersten Mal nach Kolumbien gekommen; nach Dutzenden Übersetzungen und Editionen hat er sich jetzt neuerlich darangemacht, „Erzählungen aus Kolumbien” zu sammeln und für ein unbekanntes Land und seine nicht minder unbekannte Literatur zu werben.
Immerhin 74 Erzählungen legt er vor, um zweierlei zu zeigen: dass die kolumbianische Literatur mehr aufzubieten hat als nur den einen Nobelpreisträger und dass sich ein Land nicht mit dem Schrecken identifizieren lässt, unter dessen Herrschaft es doch zweifellos steht. Im ersten der vier großen Abschnitte, in die Schultze-Kraft seinen Stoff gliedert, deutet er an, welche Vielfalt an literarischen Strategien die Altersgenossen, Weggefährten und, ja, oft auch Gegenspieler, Konkurrenten von García Márquez entwickelt haben. Eine Entdeckung ist zumal der im deutschsprachigen Raum völlig unbekannte Héctor Rojas Herazo, den in seiner Heimat viele für den bedeutendsten Autor des 20. Jahrhunderts halten. Der Herausgeber hat von ihm ein Prosastück ausgewählt, das von einer merkwürdigen Begebenheit aus dem Krieg der Tausend Tage handelt, deren sich auch García Márquez angenommen hat, und Schultze-Kraft weist in seinem Nachwort auf die markanten Unterschiede in der Gestaltung des historischen Stoffes hin: Rojas Herazo ist der schwierigere Autor, ein unergründlicher Erzähler, der den entschiedenen Wunsch hat, das grausame Geschehen in möglichst vielen Facetten zu erfassen und es nicht mit der Aura des „magischen Realismus” zu verklären.
Beziehungen zur Literatur von García Márquez, die auf diese Weise in ihren Voraussetzungen auch selbst klarer zu erfassen ist, lassen sich in der Sammlung immer wieder erkennen. Etwa in der grandiosen Erzählung „Die Verwandlung seiner Exzellenz”, die wie eine Paraphrase auf den „Herbst des Patriarchen” anmutet, deren Verfasser Jorge Zalamea aber, wie wir im zweiten, der klassischen Literatur gewidmeten Abschnitt erfahren, bereits gestorben war, ehe García Márquez seine großen Werke überhaupt begonnen hatte. Zalameas Patriarch erwirbt mit der Macht eine Allergie gegen Nähe, seine „Nase hatte angefangen, unabhängig von ihm, Gerüche aufzunehmen”, die ihm widerlich waren, und ein penetrantes Gefühl von Ekel nötigt ihn, sich immer weiter von seinen Ministern, Untergebenen, Anhängern zu entfernen: „ohne Ankündigung oder Verordnung hatte Seine Exzellenz ein neues Protokoll eingeführt, in dem das oberste Gebot Abstand war und Annäherung als Mangel an Respekt ausgelegt wurde. ”
Ein eigenes Kapitel ist jener Gegenwartsliteratur gewidmet, auf die das Etikett des magischen Realismus so gar nicht passen will. Darunter sind exemplarische Erzählungen, die der Gattung des „Testimonio” zugehören: das sind Chroniken und Lebenszeugnisse, in denen jenen eine Stimme gegeben werden soll, die ohne Stimme sind. In der europäischen Literatur gibt es wenig, das dem „Testimonio” vergleichbar wäre, vielleicht am ehesten ist ihm die polnische Dokumentaristenliteratur verwandt, die von Hanna Krall bis zu Ryszard Kapuscinski reicht und sehr viele verschiedene Tonlagen kennt.
Die jungen Löwen
Kaum bekannt ist hierzulande, dass in Lateinamerika, namentlich in Argentinien oder eben auch in Kolumbien, die jüdische Literatur eine wichtige Rolle spielt. Zahlreiche osteuropäische Juden, die Europa, ihren Kontinent der Verfolgung, entrinnen wollten, flüchteten sich nach Lateinamerika, um dort ihren Kontinent der Freiheit zu suchen. In der Buchhandlung des Österreichers Hans Ungar treffen sich in Bogotá seit Jahrzehnten die aus Europa Vertriebenen, die sich nach Europa sehnen, und Antonio, der 1974 geborene Enkel Ungars, ist der jüngste Autor der Anthologie. Seine Generation der so genannten „jungen Löwen” lässt Schultze-Kraft abschließend zu ihrem Wort kommen, und außer Antonio Ungar sind auch Harold Kremer, Esther Fleisacher, Marco Schwartz und andere die Nachfahren polnischer, rumänischer, russischer oder österreichischer Juden, die einst vor Pogrom und Verfolgung nach Kolumbien geflohen waren. Freilich, die Freiheit, die die Großeltern suchten und in einem Land fanden, das „einzigartig, widersprüchlich, großartig” ist, wie es der greise Buchhändler Hans Ungar formuliert, ist für sie, die Kindeskiner der einst Geretteten, prekär geworden. Und so ist längst eine Emigration entstanden, die in die Gegenrichtung verläuft und viele verfolgte, bedrohte Autoren außer Landes hat gehen lassen. Sie leben in Israel wie Harold Kremer, sterben in Frankreich wie die wohl bedeutendste kolumbianische Erzählerin der Moderne, Marvel Moreno, oder arbeiten in Deutschland wie Louis Fayad, dessen Romane in Berlin entstehen und in Kolumbien veröffentlicht und gelesen werden. Was sie in die Fremde getrieben hat, ist eine Heimat, die zu ewiger Wiederholung verdammt scheint und von der der früh verstorbene Gonzalo Arango einmal geschrieben hat: „ihre Vergangenheit und ihre Zukunft sind schon lange eins.”
KARL-MARKUS GAUSS
PETER SCHULTZE-KRAFT (Hrsg.): Und träumten vom Leben. Erzählungen aus Kolumbien. Deutsch von Erich Hackl, Gert Loschütz, Dieter Masuhr, Peter Stamm und anderen. Edition 8, Zürich 2001. 430 Seiten, 23,50 Euro.
Am 26. März 2002 präsentierten sich kolumbianische Kinder in den Polizeiuniformen der „Carabineros”, um den amerikanischen Antidrogen- Beauftragten zu empfangen.
Foto: Luis Acosta / AFP
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Die Guerilla als Konzern: „Und träumten vom Leben” ist eine erstaunliche Anthologie kolumbianischer Erzählungen jenseits des magischen Realismus
Kolumbien ist eine der ältesten Demokratien Lateinamerikas und ein Inbegriff des Schreckens. Wie von den meisten Begriffen haben wir auch von diesem kaum eine Anschauung. Natürlich, die Nachrichten vermelden es ja: da teilen sich Regierung, Drogenkartelle, Guerilla und paramilitärische Verbände das Land, und bei ihren Verteilungskämpfen sterben jedes Jahr rund 3000 Zivilisten. Aber wie es ist, in diesem Staat zu leben, in dem die Wahrscheinlichkeit, entführt zu werden, größer ist als die, sein Leben lang unbehelligt von Gewalttaten zu bleiben, können die Nachrichten nicht vermitteln.
Die Statistik bilanziert, dass die Hälfte aller Entführungen der Welt in Kolumbien verübt wird, wo derlei nachgerade als Geschäftszweig floriert. Die Guerilla, die in den letzten fünfzehn Jahren von einer sozialrevolutionären Bewegung zum Konzern verkam, der einen Teil des Landes kontrolliert und mit den Drogenbossen ein Geschäftsabkommen geschlossen hat, erteilt Kriminellen in den Städten gut dotierte Aufträge: das Opfer wird von gewöhnlichen Verbrechern entführt und an die Guerilla verkauft, die dann als Revolutionssteuer hohes Lösegeld eintreibt.
Die Gewalt hat Kolumbien seit über hundert Jahren im Griff. Zwischen 1899 und 1902 tobte der Bürgerkrieg der „Tausend Tage”, der 100000 Menschen das Leben kostete; nach einem Regierungswechsel im Jahr 1946 wurden die Anhänger der Liberalen Partei von denen der Konservativen ausgeplündert, aus ihren Häusern verjagt, bis der Ära der „violencia” geschätzte 300000 Menschen zum Opfer gefallen waren. In all den von Exzessen der Gewalt geprägten Jahren seither war Kolumbien zugleich ein Staat, in dem es reguläre Wahlen, zivile Regierungen, Fußballmeisterschaften, staatlich finanzierte Lyrikfestivals und das gab, was man Alltag nennt. Wie lebt man in Kolumbien, was tun die Leute, außer sich Gewalt zuzufügen oder sich vor Gewalt zu schützen?
Nicht nur der Zauberer
Die kolumbianische Literatur zeigt, dass die Gewalt auch das private Leben durchdringt; aber die Literatur zeigt auch, dass sich das Leben des einzelnen gleichwohl nicht in der Reaktion auf die omnipräsente violencia erschöpft. Indes, diese Literatur, wer kennt sie schon? Gewiss, da gibt es „den Zauberer”, Gabriel García-Márquez, aber sonst? Peter Schultze-Kraft ist vor 40 Jahren zum ersten Mal nach Kolumbien gekommen; nach Dutzenden Übersetzungen und Editionen hat er sich jetzt neuerlich darangemacht, „Erzählungen aus Kolumbien” zu sammeln und für ein unbekanntes Land und seine nicht minder unbekannte Literatur zu werben.
Immerhin 74 Erzählungen legt er vor, um zweierlei zu zeigen: dass die kolumbianische Literatur mehr aufzubieten hat als nur den einen Nobelpreisträger und dass sich ein Land nicht mit dem Schrecken identifizieren lässt, unter dessen Herrschaft es doch zweifellos steht. Im ersten der vier großen Abschnitte, in die Schultze-Kraft seinen Stoff gliedert, deutet er an, welche Vielfalt an literarischen Strategien die Altersgenossen, Weggefährten und, ja, oft auch Gegenspieler, Konkurrenten von García Márquez entwickelt haben. Eine Entdeckung ist zumal der im deutschsprachigen Raum völlig unbekannte Héctor Rojas Herazo, den in seiner Heimat viele für den bedeutendsten Autor des 20. Jahrhunderts halten. Der Herausgeber hat von ihm ein Prosastück ausgewählt, das von einer merkwürdigen Begebenheit aus dem Krieg der Tausend Tage handelt, deren sich auch García Márquez angenommen hat, und Schultze-Kraft weist in seinem Nachwort auf die markanten Unterschiede in der Gestaltung des historischen Stoffes hin: Rojas Herazo ist der schwierigere Autor, ein unergründlicher Erzähler, der den entschiedenen Wunsch hat, das grausame Geschehen in möglichst vielen Facetten zu erfassen und es nicht mit der Aura des „magischen Realismus” zu verklären.
Beziehungen zur Literatur von García Márquez, die auf diese Weise in ihren Voraussetzungen auch selbst klarer zu erfassen ist, lassen sich in der Sammlung immer wieder erkennen. Etwa in der grandiosen Erzählung „Die Verwandlung seiner Exzellenz”, die wie eine Paraphrase auf den „Herbst des Patriarchen” anmutet, deren Verfasser Jorge Zalamea aber, wie wir im zweiten, der klassischen Literatur gewidmeten Abschnitt erfahren, bereits gestorben war, ehe García Márquez seine großen Werke überhaupt begonnen hatte. Zalameas Patriarch erwirbt mit der Macht eine Allergie gegen Nähe, seine „Nase hatte angefangen, unabhängig von ihm, Gerüche aufzunehmen”, die ihm widerlich waren, und ein penetrantes Gefühl von Ekel nötigt ihn, sich immer weiter von seinen Ministern, Untergebenen, Anhängern zu entfernen: „ohne Ankündigung oder Verordnung hatte Seine Exzellenz ein neues Protokoll eingeführt, in dem das oberste Gebot Abstand war und Annäherung als Mangel an Respekt ausgelegt wurde. ”
Ein eigenes Kapitel ist jener Gegenwartsliteratur gewidmet, auf die das Etikett des magischen Realismus so gar nicht passen will. Darunter sind exemplarische Erzählungen, die der Gattung des „Testimonio” zugehören: das sind Chroniken und Lebenszeugnisse, in denen jenen eine Stimme gegeben werden soll, die ohne Stimme sind. In der europäischen Literatur gibt es wenig, das dem „Testimonio” vergleichbar wäre, vielleicht am ehesten ist ihm die polnische Dokumentaristenliteratur verwandt, die von Hanna Krall bis zu Ryszard Kapuscinski reicht und sehr viele verschiedene Tonlagen kennt.
Die jungen Löwen
Kaum bekannt ist hierzulande, dass in Lateinamerika, namentlich in Argentinien oder eben auch in Kolumbien, die jüdische Literatur eine wichtige Rolle spielt. Zahlreiche osteuropäische Juden, die Europa, ihren Kontinent der Verfolgung, entrinnen wollten, flüchteten sich nach Lateinamerika, um dort ihren Kontinent der Freiheit zu suchen. In der Buchhandlung des Österreichers Hans Ungar treffen sich in Bogotá seit Jahrzehnten die aus Europa Vertriebenen, die sich nach Europa sehnen, und Antonio, der 1974 geborene Enkel Ungars, ist der jüngste Autor der Anthologie. Seine Generation der so genannten „jungen Löwen” lässt Schultze-Kraft abschließend zu ihrem Wort kommen, und außer Antonio Ungar sind auch Harold Kremer, Esther Fleisacher, Marco Schwartz und andere die Nachfahren polnischer, rumänischer, russischer oder österreichischer Juden, die einst vor Pogrom und Verfolgung nach Kolumbien geflohen waren. Freilich, die Freiheit, die die Großeltern suchten und in einem Land fanden, das „einzigartig, widersprüchlich, großartig” ist, wie es der greise Buchhändler Hans Ungar formuliert, ist für sie, die Kindeskiner der einst Geretteten, prekär geworden. Und so ist längst eine Emigration entstanden, die in die Gegenrichtung verläuft und viele verfolgte, bedrohte Autoren außer Landes hat gehen lassen. Sie leben in Israel wie Harold Kremer, sterben in Frankreich wie die wohl bedeutendste kolumbianische Erzählerin der Moderne, Marvel Moreno, oder arbeiten in Deutschland wie Louis Fayad, dessen Romane in Berlin entstehen und in Kolumbien veröffentlicht und gelesen werden. Was sie in die Fremde getrieben hat, ist eine Heimat, die zu ewiger Wiederholung verdammt scheint und von der der früh verstorbene Gonzalo Arango einmal geschrieben hat: „ihre Vergangenheit und ihre Zukunft sind schon lange eins.”
KARL-MARKUS GAUSS
PETER SCHULTZE-KRAFT (Hrsg.): Und träumten vom Leben. Erzählungen aus Kolumbien. Deutsch von Erich Hackl, Gert Loschütz, Dieter Masuhr, Peter Stamm und anderen. Edition 8, Zürich 2001. 430 Seiten, 23,50 Euro.
Am 26. März 2002 präsentierten sich kolumbianische Kinder in den Polizeiuniformen der „Carabineros”, um den amerikanischen Antidrogen- Beauftragten zu empfangen.
Foto: Luis Acosta / AFP
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Georg Sütterlin stellt in seiner Rezension die dritte von Peter Schultze-Kraft herausgegebene Anthologie zur Literatur Kolumbiens vor. Diese sei in vier chronologisch geordnete Teile gegliedert, wobei die herausragende Stellung Gabriel Garcia Marquez' durchaus hervorgehoben werde. Dennoch kommen hier auch viele größtenteils unbekannte Autoren zu Wort, deren Erzählungen teilweise noch nicht einmal auf Spanisch erschienen sind, lobt der Rezensent. Sprachlich und inhaltlich unterscheiden sich diese oft deutlich von Márquez und seiner "Fabulierfreude", stattdessen geht es besonders um urbane Themen, wobei "sprachliche und formale Mittel fast durchgehend von beachtlichem Niveau" sind, so der Rezensent. Erleichtert werde der Zugang zur kolumbianischen Literatur zudem durch ein Nachwort des Herausgebers, in dem nicht nur die literarische sondern auch die soziale und historische Situation des Landes sowie die persönliche Situation der Autoren skizziert werden, wie Sütterlin begeistert feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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