Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Nur noch einmal hemm!
Ludwig Harigs autobiographische Essays / Von Walter Hinck
Dieser Band ist keine bloße Fortsetzung von Ludwig Harigs drei autobiographischen Romanen, obwohl im Titel "Und wenn sie nicht gestorben sind" ein Sprichwort zitiert wird wie bei den vorhergehenden Romanen "Ordnung ist das ganze Leben" (1986), "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" (1990) und "Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf" (1996). Nein, romanhaft wird hier die Erzählung der Lebensgeschichte nicht fortgesponnen, auch wenn der Untertitel "Aus meinem Leben" diese Erwartung noch wecken mag. Eine alte Regel autobiographischen Schreibens bestätigt sich: Sobald die Phase des Werdens durch die des Etabliertseins abgelöst ist, verliert die Biographie an Spannung; sobald Erreichtes genossen wird, droht die Erzählung fade zu werden, wenn sie sich nicht in Memoirengeplauder und Selbstfeier der Prominenz erschöpfen will.
Harig hat in den Romanen zunächst die Biographie seines saarländischen Vaters erzählt, die noch im Zeichen der französisch-deutschen Konflikte stand, dann die Geschichte seiner eigenen Unterordnung als strammer Hitlerjunge und als "Jungmann" einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt, schließlich seine Entwicklung zum Lehrer und zum Schriftsteller, vor allem in der Schule Max Benses. Was der neue Band hinzufügt, wird von Schriftstellern gern auch "Nachlese" genannt. Es sind kleine Erzählungen oder Skizzen, die autobiographische Linien weiterziehen, Tagebuchnotizen über Lesereisen, bei denen Harig gelegentlich durch kuriose Reaktionen der Hörer überrascht wird, Berichte über Touren, die literarischen Fährten nachgehen, und über Begegnungen mit bekannten Zeitgenossen, auch kleine literarisch-philosophische Essays.
Die Nennung eines Namens kann umfangreiche Recherchen auslösen. Bei einer Lesung aus dem Roman "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" sagt eine Frau in der ersten Reihe plötzlich, die im Roman genannte Freundin eines in Harigs Heimatort Sulzbach bekannten Studenten sei sie gewesen. Und nun wickelt Harig aus dem Geflecht von Erinnerung, Gespräch und Nachforschung die Geschichte des Studenten Willi Graf heraus, der in München zur "Weißen Rose", zur Widerstandsgruppe der Geschwister Scholl, stieß, verhaftet wurde und am 12. Oktober 1943 unter dem Fallbeil starb.
Eine andere Wiederbegegnung mit einer seiner Figuren gibt etwas preis über die Ästhetik autobiographischen Schreibens, über das Verhältnis von Tatsachen und Erfindung, von Fakten und Fiktion. Am Anfang desselben Romans stellt Harig die Figur des Sulzbacher Schülers René vor, den die Mitschüler wie ein "räudiges Schaf" behandeln und in dem sie entweder einen Juden, Zigeuner oder Franzosen vermuten. Nach sechzig Jahren meldet sich dieser René, den er als ängstliches kleines Kind im Gedächtnis hat. Aber kein zartes Männchen öffnet ihm, sondern ein "großer, schwerer Mann mit starker Nase und mit starkem Kinn". René amüsiert sich über die extravaganten Erinnerungsbilder in Harigs Roman. Bunte Kleidung und Schnallenschuhe habe seine Mutter getragen, er sei im Armeleutekittel zur Schule gekommen und von keinem Chauffeur gebracht worden. Aber, so versicherte der alte René, die Verwechslungen, die erzählte Geschichte glaube er lieber als die Wahrheit. Der autobiographische Autor muß seinen Gedächtnisirrtum, seinen Hang zu fabulieren eingestehen, aber der ihn überführt, freut sich der "Verfälschungen". Einen besseren Fürsprecher seiner poetischen Freiheit kann sich ein Romanautor nicht wünschen.
Eine andere Art von Wiederbegegnung sucht Harig im Bericht "Rousseaus vergessene Findelkinder". Die wichtigsten Lebensstationen des Philosophen hatte er in "Rousseau - Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn" (1978) vorgestellt. Im Jahr der Wiederkehr von Rousseaus zweihundertstem Todestag fährt Harig noch einmal diese Stationen des Lebens ab, vergleicht die Orte und Landschaften von einst mit ihrem heutigen Zustand und will herausfinden, was heute von Rousseau noch lebendig erhalten ist. Er findet einen Jünger Rousseaus, einen General, der Landwirt geworden ist, aber in Môtiers ist der Philosoph immer noch unbeliebt - gegenwärtig bleibt er eigentlich nur in den Museen.
Gemeinsame Ansichten über Rousseaus Autobiographie "Bekenntnisse" stellen sich rasch im Gespräch mit Georges-Arthur Goldschmidt her. Wie auch Marcel Reich-Ranickis "Mein Leben" sind die autobiographischen Bücher Goldschmidts für Harig Anlaß, sich der Gegensätzlichkeit der Lebensläufe bewußt zu werden. "Was für ein Abgrund" zwischen seiner "und meiner Welt!" - zwischen dem im französischen Exil überlebenden Sohn eines jüdischen Juristen aus Hamburg, der seine erwachende Sexualität "für das Merkmal des Judeseins" hält, und dem von einer "menschenverachtenden Ideologie" verführten Jungen. Nirgendwo ist in der Rückbesinnung Harigs auf die eigenen autobiographischen Romane der Ernst so sehr von nachträglichem Entsetzen durchdrungen wie in der Konfrontation mit den Autobiographien jüdischer Schriftsteller.
Nicht unbedingt zu literarischen Glanznummern werden Harigs Dialoge mit wichtigen Personen der Zeitgeschichte. Der "Spaziergang mit Oskar" hat drei Wochen nach dem Attentat auf Lafontaine stattgefunden, der Politiker ist noch Rekonvaleszent, und er ist ein Freund. "Ich liebe Oskar, wie er ist." Das sollte freilich kein Grund sein, in den Ton der alten Hofpoesie zu fallen: In Oskars "Augen blitzt jetzt wieder der alte Schalk, auf seinen Lippen blüht das Lächeln, und seine Wangen röten sich so apfelfrisch . . ."
Von blühenden Lippen und Apfelfrische kann nicht mehr die Rede sein bei dem anderen gebürtigen Saarländer: Erich Honecker. Die DDR ist kollabiert, Harig interviewt den Häftling im Untersuchungsgefängnis Moabit. Honecker erträgt seine Krebskrankheit mit überraschender Fassung; nicht überraschen kann Harig, daß der ehemalige Staatsratsvorsitzende die Welt nicht mehr versteht. Das Gespräch bleibt ziemlich unergiebig. Aber dann, zum Abschied, erhält die Szene einen sehr melancholischen, sehr menschlichen Zug, als Honecker seinem saarländischen Landsmann seinen letzten Lebenswunsch zuflüstert: "Nur noch einmal hemm!"
Einen bewegenden Nachruf hat Harig dem Schriftsteller und Übersetzer Eugen Helmlé, dem Freund aus Schülertagen, geschrieben. Aber Trauer ist doch nicht das eigentliche Lebens- und Antriebselement des Schriftstellers Harig. Im Jahr 1977 hat er sein Lesebuch über die "gute Art zu leben und zu denken" veröffentlicht, unter dem Titel "Die saarländische Freude". Im neuen Buch wiederholt er seine Huldigung an saarländische Geselligkeit. Und in einem anmutigen Essay über das Glück setzt er gegen die deutsche Auslegung des Glücks (Oberflächlichkeit, Getändel, Spielerei) die mediterrane (Glückstechnik, Kunstgriff). Ja, in einer Welt, die von Kassandrarufen widerhallt, hat sich Harig die Fähigkeit bewahrt, Glück anzunehmen und sich der glücklichen Momente zu freuen. Das ist nicht Naivität, sondern eine Lebenskunst, die in seiner Dichtung widerscheint.
Ludwig Harig: "Und wenn sie nicht gestorben sind. Aus meinem Leben". Hanser Verlag, München und Wien 2002. 360 S., geb., 21,50 [Euro].
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Ludwig Harigs autobiographische Essays / Von Walter Hinck
Dieser Band ist keine bloße Fortsetzung von Ludwig Harigs drei autobiographischen Romanen, obwohl im Titel "Und wenn sie nicht gestorben sind" ein Sprichwort zitiert wird wie bei den vorhergehenden Romanen "Ordnung ist das ganze Leben" (1986), "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" (1990) und "Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf" (1996). Nein, romanhaft wird hier die Erzählung der Lebensgeschichte nicht fortgesponnen, auch wenn der Untertitel "Aus meinem Leben" diese Erwartung noch wecken mag. Eine alte Regel autobiographischen Schreibens bestätigt sich: Sobald die Phase des Werdens durch die des Etabliertseins abgelöst ist, verliert die Biographie an Spannung; sobald Erreichtes genossen wird, droht die Erzählung fade zu werden, wenn sie sich nicht in Memoirengeplauder und Selbstfeier der Prominenz erschöpfen will.
Harig hat in den Romanen zunächst die Biographie seines saarländischen Vaters erzählt, die noch im Zeichen der französisch-deutschen Konflikte stand, dann die Geschichte seiner eigenen Unterordnung als strammer Hitlerjunge und als "Jungmann" einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt, schließlich seine Entwicklung zum Lehrer und zum Schriftsteller, vor allem in der Schule Max Benses. Was der neue Band hinzufügt, wird von Schriftstellern gern auch "Nachlese" genannt. Es sind kleine Erzählungen oder Skizzen, die autobiographische Linien weiterziehen, Tagebuchnotizen über Lesereisen, bei denen Harig gelegentlich durch kuriose Reaktionen der Hörer überrascht wird, Berichte über Touren, die literarischen Fährten nachgehen, und über Begegnungen mit bekannten Zeitgenossen, auch kleine literarisch-philosophische Essays.
Die Nennung eines Namens kann umfangreiche Recherchen auslösen. Bei einer Lesung aus dem Roman "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" sagt eine Frau in der ersten Reihe plötzlich, die im Roman genannte Freundin eines in Harigs Heimatort Sulzbach bekannten Studenten sei sie gewesen. Und nun wickelt Harig aus dem Geflecht von Erinnerung, Gespräch und Nachforschung die Geschichte des Studenten Willi Graf heraus, der in München zur "Weißen Rose", zur Widerstandsgruppe der Geschwister Scholl, stieß, verhaftet wurde und am 12. Oktober 1943 unter dem Fallbeil starb.
Eine andere Wiederbegegnung mit einer seiner Figuren gibt etwas preis über die Ästhetik autobiographischen Schreibens, über das Verhältnis von Tatsachen und Erfindung, von Fakten und Fiktion. Am Anfang desselben Romans stellt Harig die Figur des Sulzbacher Schülers René vor, den die Mitschüler wie ein "räudiges Schaf" behandeln und in dem sie entweder einen Juden, Zigeuner oder Franzosen vermuten. Nach sechzig Jahren meldet sich dieser René, den er als ängstliches kleines Kind im Gedächtnis hat. Aber kein zartes Männchen öffnet ihm, sondern ein "großer, schwerer Mann mit starker Nase und mit starkem Kinn". René amüsiert sich über die extravaganten Erinnerungsbilder in Harigs Roman. Bunte Kleidung und Schnallenschuhe habe seine Mutter getragen, er sei im Armeleutekittel zur Schule gekommen und von keinem Chauffeur gebracht worden. Aber, so versicherte der alte René, die Verwechslungen, die erzählte Geschichte glaube er lieber als die Wahrheit. Der autobiographische Autor muß seinen Gedächtnisirrtum, seinen Hang zu fabulieren eingestehen, aber der ihn überführt, freut sich der "Verfälschungen". Einen besseren Fürsprecher seiner poetischen Freiheit kann sich ein Romanautor nicht wünschen.
Eine andere Art von Wiederbegegnung sucht Harig im Bericht "Rousseaus vergessene Findelkinder". Die wichtigsten Lebensstationen des Philosophen hatte er in "Rousseau - Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn" (1978) vorgestellt. Im Jahr der Wiederkehr von Rousseaus zweihundertstem Todestag fährt Harig noch einmal diese Stationen des Lebens ab, vergleicht die Orte und Landschaften von einst mit ihrem heutigen Zustand und will herausfinden, was heute von Rousseau noch lebendig erhalten ist. Er findet einen Jünger Rousseaus, einen General, der Landwirt geworden ist, aber in Môtiers ist der Philosoph immer noch unbeliebt - gegenwärtig bleibt er eigentlich nur in den Museen.
Gemeinsame Ansichten über Rousseaus Autobiographie "Bekenntnisse" stellen sich rasch im Gespräch mit Georges-Arthur Goldschmidt her. Wie auch Marcel Reich-Ranickis "Mein Leben" sind die autobiographischen Bücher Goldschmidts für Harig Anlaß, sich der Gegensätzlichkeit der Lebensläufe bewußt zu werden. "Was für ein Abgrund" zwischen seiner "und meiner Welt!" - zwischen dem im französischen Exil überlebenden Sohn eines jüdischen Juristen aus Hamburg, der seine erwachende Sexualität "für das Merkmal des Judeseins" hält, und dem von einer "menschenverachtenden Ideologie" verführten Jungen. Nirgendwo ist in der Rückbesinnung Harigs auf die eigenen autobiographischen Romane der Ernst so sehr von nachträglichem Entsetzen durchdrungen wie in der Konfrontation mit den Autobiographien jüdischer Schriftsteller.
Nicht unbedingt zu literarischen Glanznummern werden Harigs Dialoge mit wichtigen Personen der Zeitgeschichte. Der "Spaziergang mit Oskar" hat drei Wochen nach dem Attentat auf Lafontaine stattgefunden, der Politiker ist noch Rekonvaleszent, und er ist ein Freund. "Ich liebe Oskar, wie er ist." Das sollte freilich kein Grund sein, in den Ton der alten Hofpoesie zu fallen: In Oskars "Augen blitzt jetzt wieder der alte Schalk, auf seinen Lippen blüht das Lächeln, und seine Wangen röten sich so apfelfrisch . . ."
Von blühenden Lippen und Apfelfrische kann nicht mehr die Rede sein bei dem anderen gebürtigen Saarländer: Erich Honecker. Die DDR ist kollabiert, Harig interviewt den Häftling im Untersuchungsgefängnis Moabit. Honecker erträgt seine Krebskrankheit mit überraschender Fassung; nicht überraschen kann Harig, daß der ehemalige Staatsratsvorsitzende die Welt nicht mehr versteht. Das Gespräch bleibt ziemlich unergiebig. Aber dann, zum Abschied, erhält die Szene einen sehr melancholischen, sehr menschlichen Zug, als Honecker seinem saarländischen Landsmann seinen letzten Lebenswunsch zuflüstert: "Nur noch einmal hemm!"
Einen bewegenden Nachruf hat Harig dem Schriftsteller und Übersetzer Eugen Helmlé, dem Freund aus Schülertagen, geschrieben. Aber Trauer ist doch nicht das eigentliche Lebens- und Antriebselement des Schriftstellers Harig. Im Jahr 1977 hat er sein Lesebuch über die "gute Art zu leben und zu denken" veröffentlicht, unter dem Titel "Die saarländische Freude". Im neuen Buch wiederholt er seine Huldigung an saarländische Geselligkeit. Und in einem anmutigen Essay über das Glück setzt er gegen die deutsche Auslegung des Glücks (Oberflächlichkeit, Getändel, Spielerei) die mediterrane (Glückstechnik, Kunstgriff). Ja, in einer Welt, die von Kassandrarufen widerhallt, hat sich Harig die Fähigkeit bewahrt, Glück anzunehmen und sich der glücklichen Momente zu freuen. Das ist nicht Naivität, sondern eine Lebenskunst, die in seiner Dichtung widerscheint.
Ludwig Harig: "Und wenn sie nicht gestorben sind. Aus meinem Leben". Hanser Verlag, München und Wien 2002. 360 S., geb., 21,50 [Euro].
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