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Frankfurter Hauptbahnhof, Bahnsteige, Gleise, die Eisenbahn nach Gießen. Wie immer in Peter Kurzecks fließender Erinnerungsprosa lässt der Anblick der Züge innere Bilder aufsteigen. Hier nimmt er uns mit auf Bahnfahrten mit der Mutter in das zerstörte Gießen, noch vor der Währungsreform. Der Fünfjährige kommt vom Dorf und ist dort das Flüchtlingskind. Gießen, das heißt Trümmerlandschaften und Schwarzmarkt, beängstigend und aufregend zugleich. Zu Hause lernt die Schwester schreiben, liest der Vater »Faust«, näht die Mutter ununterbrochen. Die Familie immer nur geduldet, angewiesen auf das…mehr

Produktbeschreibung
Frankfurter Hauptbahnhof, Bahnsteige, Gleise, die Eisenbahn nach Gießen. Wie immer in Peter Kurzecks fließender Erinnerungsprosa lässt der Anblick der Züge innere Bilder aufsteigen. Hier nimmt er uns mit auf Bahnfahrten mit der Mutter in das zerstörte Gießen, noch vor der Währungsreform. Der Fünfjährige kommt vom Dorf und ist dort das Flüchtlingskind. Gießen, das heißt Trümmerlandschaften und Schwarzmarkt, beängstigend und aufregend zugleich. Zu Hause lernt die Schwester schreiben, liest der Vater »Faust«, näht die Mutter ununterbrochen. Die Familie immer nur geduldet, angewiesen auf das Wohlwollen der Hauswirte, böhmische Lieder im Ohr. Später geht der Erzähler bei der US Army zusammen mit Osteuropäern absurden Tätigkeiten nach, und so beginnt ein ganz anderes Leben. In diesem von Rudi Deuble mit Originalnotizen aus dem Nachlass herausgegebenen, als Band 8 des »Alten Jahrhunderts« vorgesehenen Roman erzählt Peter Kurzeck aufregend und mit Witz aus dem Gießen der Nachkriegszeit und den Displaced Persons bei der US Army.
Autorenporträt
Peter Kurzeck geboren 1943 in Böhmen, aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen. Später lebte er in Frankfurt am Main und Uzès (Südfrankreich). Von dieser Anfangszeit in Frankfurt und der Arbeit an seinem ersten Roman handelt das Parisbuch. Ab 1992 schrieb er an der autobiografischen Romanfolge Das alte Jahrhundert. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise, u. a. den Alfred-Döblin- und den Robert Gernhardt-Preis. Peter Kurzeck starb 2013 in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2022

Keine Einzelheit je vergessen

Großes Glück der deutschen Literatur: Mit "Und wo mein Haus? - Kde domov muj" erscheint ein weiterer Nachlassroman von Peter Kurzeck.

Peter Kurzeck hatte einen Plan. Sein Romanzyklus "Das alte Jahrhundert" sollte bis zu zwölf Teile umfassen, und immer wieder neu versicherte sich der Schriftsteller des Ablaufs dieses 1997 mit "Übers Eis" begonnenen Riesenprojekts auf Zetteln und in Notizbüchern. Einmal, so zeigte es mir sein damaliger Verleger KD Wolff (Stroemfeld/ Roter Stern) noch vor dem Tod Kurzecks, plante der in einem dieser Ablaufschemata sogar den Erhalt des Literaturnobelpreises nach Abschluss des großen Vorhabens ein. Leider erlebte er beides nicht: Kurzeck starb 2013, kurz nachdem "Vorabend", der fünfte und mit mehr als tausend Seiten umfangreichste Band, erschienen war. Was blieb, waren die Vorarbeiten des Autors zu den noch ausstehenden Teilen, wohlgeordnet nach den geplanten Büchern.

Sie werden seitdem aus diesem Material rekonstruiert - Marcel Proust lässt grüßen, denn seine "Recherche" wurde ja ebenfalls erst postum komplettiert. In Kurzecks Fall wird das allerdings noch etwas dauern, weil die Abstände zwischen den weiteren Einzelbänden jeweils mehrere Jahre dauern, und es handelt sich bei ihnen auch nicht wie bei Prousts Hinterlassenschaft um komplette Romanmanuskripte, denen "nur" die letzten Überarbeitungen gefehlt haben. Es geht vielmehr hier darum, zu dokumentieren, wie weit Kurzeck mit den jeweiligen Büchern vor seinem Tod gekommen war, und so sprachen seine beiden früheren Lektoren Rudi Deuble und Alexander Losse, die sich an diese Arbeit gemacht haben, bei der ersten Nachlassveröffentlichung, dem 2015 erschienenen Band "Bis er kommt" (Teil sechs des "Alten Jahrhunderts"), noch zutreffend von einem Romanfragment. "Der vorige Sommer und der Sommer davor" (Teil sieben) wurde dagegen 2019 als vollwertiger Roman ausgewiesen, und so verhält es sich jetzt auch wieder beim achten Teil, "Und wo mein Haus?" (für den Deuble erstmals allein als Herausgeber verantwortlich zeichnet), obwohl das der fragmentarischste der nunmehr drei postum publizierten Romane ist. Zwischen der Veröffentlichung der Teile sechs und sieben lagen das traurige Ende des Stroemfeld-Verlags und der daraus resultierende, höchst erfreuliche Wechsel von Kurzecks Gesamtwerk zu Schöffling. Auffällig jedoch, dass bei den beiden dort erschienenen Romanen nicht von Fragmenten die Rede ist, obwohl sie es sind.

Aber macht das etwas aus? Beim nun erschienenen "Und wo mein Haus?" ganz entschieden nicht, obwohl die zweite Hälfte dieses "Romans" mehr aus Notizen zum weiteren Handlungsverlauf als aus ausgeschriebenen Passagen besteht. Aber die erste Hälfte gehört zum Besten, was Kurzeck überhaupt geschrieben hat - kein Wunder, waren diese vier Kapitel doch gedacht als Bestandteile von "Vorabend", bis sie sich beim Schreiben thematisch und vom Umfang her verselbständigten, sodass ihr Autor sie aussonderte und zur Keimzelle eines anderen von ihm geplanten Romans machte. In diesen hundert Seiten steckt alles, was Kurzecks Sonderstellung in der deutschen Literaturgeschichte ausmacht: sein unnachahmlicher Gedanken- und Assoziationsfluss, die beschwörende Erzählstimme und eine bei aller Melancholie des Erinnerns rücksichtslose (weil rückhaltlose) Selbstanalyse. Es gibt wenige psychologisch derart interessante Erzählprojekte wie "Das alte Jahrhundert".

Dessen achter Teil ist mit "Und wo mein Haus?" eigentlich unzutreffend knapp benannt, denn Kurzeck fügte dem Titel diese Frage noch in einer anderen Sprache bei: "Kde domov muj" - die erste Zeile der tschechischen Nationalhymne, dort zu verstehen als Sehnsucht nach der Heimat. Kurzeck stammte aus Böhmen, geboren wurde er 1943 im egerländischen Tachau, dem heutigen Tachov. Als Kleinkind wurde er mit Mutter und älterer Schwester vertrieben, der Vater kam erst Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft zurück, als die Familie schon in der Nähe von Gießen lebte. Und Gießen ist denn auch der Hauptschauplatz des Romans "Und wo mein Haus? - Kde domov muj", dessen Hauptgeschehen in den späten Vierziger- und den Fünfzigerjahren angesiedelt ist, während die eigentliche Handlungszeit im Februar 1983 hätte spielen sollen: wie im Zyklus üblich als monologische Erinnerung des Ich-Erzählers im trauten Kreis von Freundin, kleiner Tochter und einem befreundeten Paar. Erinnerungen an sein Leben. Und an seine Beobachtungen: "Siehst du einen Menschen, gleich mußt du spüren, wie er sich fühlt. Wie es für ihn ist, daß er jetzt dieser Mensch ist. Jeden einzelnen Tag hast du dir gemerkt und die vielen Gesichter. Keine Einzelheit je vergessen." Das ist das Erzählprogramm - narrativ wie psychologisch - von Peter Kurzeck und seinem Alter Ego im Romanzyklus.

Und so ist dieses gigantische Rekonstruktionsprogramm des Erzählers auch kein solipsistisches, sondern ein weltzugewandtes, in dem der naive Kinder- oder Jugendlichenblick seiner Erinnerungen abwechselt mit dem nostalgisch-abgeklärten eines zum Handlungszeitpunkt knapp Vierzigjährigen. Der wie sein Autor nach dem Lehrabschluss zehn Jahre lang in der Personalabteilung für Zivilangestellte der amerikanischen Armee in Deutschland angestellt war und deshalb auch diesen Mikrokosmos der westdeutschen Nachkriegsgeschichte mit einer Intensität beschreiben kann, wie wir es von seinen Schilderungen des damaligen Alltags in den früheren Romanen kennen und lieben. Kurzeck öffnet literarisch die Welt, indem er eigenes Leben und Gesellschaft kurzschließt. Diese Romankunst wird als umso größer erkennbar, je mehr "Das alte Jahrhundert" anwächst. Hoffentlich ist er auch mit den anderen angedachten Bänden weit genug gekommen. ANDREAS PLATTHAUS

Peter Kurzeck: "Und wo mein Haus? - Kde domov muj". Roman.

Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 174 S., 3 Abb., geb., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Wer nach spannungsreicher Handlung sucht, wird mit Peter Kurzeck nicht glücklich werden, warnt Rezensent Ulrich Rüdenauer, wer sich aber für minutiöse poetische Erinnerungs- und Entdeckungsarbeit interessiert, dem kann er die posthume Veröffentlichung "Und wo mein Haus?" nur ans Herz legen. Über den Autor, ein "manischer Chronist", weiß der Rezensent einiges zu erzählen, etwa, dass der vorliegende Band als achter Teil eines auf zwölf Bücher angelegten Kosmos geplant war, aber aufgrund des Todes Kurzecks 2013 nur als Fragment vorhanden war. Dieser Fragmente habe sich sein Freund und Lektor Rudi Deuble angenommen, um sie zugänglich zu machen. Zum Inhalt verrät Rüdenauer, dass der Schriftsteller sich, selbst ein Flüchtlingskind aus Tschechien, mit dem Schicksal der Displaced Persons und der US-Army in Gießen, in deren Personalabteilung Kurzeck lange arbeitete, befasst. Der Kritiker empfiehlt diese eindrückliche Beschäftigung mit dem Vergangenen als Monument für die Erinnerung.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Eine Welt ohne Kurzeck ist, nachdem man ihn kennt, nicht mehr denkbar. Die Welt bekommt seinen Ton.«Andreas Maier»Was Kurzeck hier an Erinnerungsarbeit leistet, ist einmal mehr grandios [...], all das in seinem bekannt kurzatmigen Prosasound mit den vielen elliptischen Sätzen.«Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel, 23.08.2022»In den [ersten] hundert Seiten steckt alles, was Kurzecks Sonderstellung in der deutschen Literaturgeschichte ausmacht: sein unnachahmlicher Gedanken- und Assoziationsfluss [...] und eine [...] rücksichtslose Selbstanalyse.«Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.09.2022»Auch in diesem Band [gibt es] jene sanfte Melancholie, die dem Erinnernden eigen ist. So wird Kurzeck zum Bewahrer des Schwindenden, zum Chronisten.«Ulrich Rüdenauer, Deutschlandfunk Büchermarkt, 07.09.2022»Kurzecks Erinnerungen verdichten sich auf wundersame Weise in einen grandiosen Lesesog.«Joachim Dicks, NDR»Von den Überlebenden, von der Heimatlosigkeit: Peter Kurzecks Romanfragment 'Und wo mein Haus?' ist ergreifend und sehr aktuell.«Claus-Jürgen Göpfert, Frankfurter Rundschau, 21.09.2022»Kurzecks Erinnerungen verdichten sich [...] in einen grandiosen Lesesog.«Joachim Dicks, NDR, 23.09.22 »[...] und es muss gesagt werden, dass dieses Fragment zu den schönsten Texten gehört, die Peter Kurzeck je geschrieben hat [...].«Christoph Schröder, ZEIT online, 26.09.22»Kurzeck ist der Bewahrer des Schwindenden.«Ulrich Rüdenauer, taz, 05.01.23»Schon der Beginn dieses Romans ist ein sprachlich funkelndes Meisterstück.«Björn Gauges, Gießener Anzeiger, 23.12.23 »Wie alle Kurzeck-Bücher ein kleines Juwel.«Christoph Schreiner, Saarbrücker Zeitung, 03.01.23…mehr