'"Was ist es für ein Gefühl, schwarz und arm zu sein?" Bewaffnet mit seinem Klemmbrett und Fragen wie dieser zieht Sudhir Venkatesh eines Tages los, um das Leben in einem berüchtigten urbanen Ghetto in den USA zu erforschen. Als ihn dort eine Gruppe Jugendlicher eine Nacht lang gewaltsam festhält, merkt er, dass er mit diesem Ansatz nicht weit kommen wird und denkt um: Fast zehn Jahre lang kommt er immer wieder, lebt praktisch im Ghetto. Er freundet sich mit dem charismatischen Anführer der Drogengang an und erhält so spannende Einblicke in das Leben am Rand der Gesellschaft.
Sein Buch ist eine faszinierende Reportage aus einem Viertel, in dem mehr als 90 Prozent der Bewohner von Sozialhilfe leben. Wie lebt eine Gemeinschaft, die von Polizei, Regierung und städtischen Institutionen weitgehend aufgegeben wurde? Was sind die wirtschaftlichen Mechanismen in diesem Umfeld, wer kann womit Geld verdienen und wie arbeitet eine Gang von Drogendealern? Venkateshs Erlebnisse sind spannend,ergreifend und komisch zugleich ein faszinierender Einblick in eine fremde und dennoch durch und durch menschliche Welt.
Sein Buch ist eine faszinierende Reportage aus einem Viertel, in dem mehr als 90 Prozent der Bewohner von Sozialhilfe leben. Wie lebt eine Gemeinschaft, die von Polizei, Regierung und städtischen Institutionen weitgehend aufgegeben wurde? Was sind die wirtschaftlichen Mechanismen in diesem Umfeld, wer kann womit Geld verdienen und wie arbeitet eine Gang von Drogendealern? Venkateshs Erlebnisse sind spannend,ergreifend und komisch zugleich ein faszinierender Einblick in eine fremde und dennoch durch und durch menschliche Welt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2008Lernen vom Gangsterboss
Es ist eine bizarre Geschichte: Ein indischer Soziologiestudent spaziert an einem kühlen Samstagnachmittag in eines der schlimmsten Ghettos in Chicago, um Interviews für seine Doktorarbeit zu machen. Eine Gang bewaffneter Drogendealer nimmt ihn umgehend fest, und es ist nur dem Anführer zu verdanken, dass der Student heil aus der Situation herauskommt. Dieser Gangsterboss namens J. T. wird in den nächsten Jahren zum wichtigsten Gesprächspartner von Sudhir Venkatesh, der heute als Soziologieprofessor in New York auf Karrierepfad ist. J. T. hat ein einfaches Credo: „Du musst verstehen, dass die Black Kings keine Gang sind, sondern eine Community-Organisation – wir befriedigen die Bedürfnisse der Menschen.”
Nichts anderes wollen auch Unternehmen tun. So versucht dieses Buch, die Parallelwelt von Gangster- und Managerwelt zu beleuchten. Die Black Kings beschäftigen etwa 250 „Mitarbeiter”, die vom Crackverkauf bis zum Eintreiben von Schutzgeld die gesamte Palette organisierter Kriminalität beherrschen. Naiv und furchtlos reiht Venkatesh die Ereignisse, Gespräche und Akteure vor dem Leser auf. Auf exzentrische Weise subjektiv, engagiert, mit Leidenschaft erzählt. Ohne Gefühlsduselei und Happy-End-Romantik. Übrigens zu einer Zeit, Anfang der 1990er Jahre, als geschäftlich noch alles im Lot war. Nur am Ende des Buchs brechen die Gang und ihr System dann doch auseinander.
Wie man dieses explosive Umfeld überlebt, ist ein Grundthema des Buches. „Dieser Kapitalismus des Verbrechens lief wie geschmiert, und die Chefs der verschiedenen Gangs wurden reich”, berichtet Venkatesh, der sogar genauen Einblick in den Geldtransfer der Gang bekommen hat. Er erfährt nicht nur, dass die „Laufburschen” auf unterster Ebene am wenigsten Geld bekommen, obwohl sie den gefährlichsten Job machen, sondern auch, dass sich das Einkommen eines örtlichen Gangleaders auf bis zu 100 000 Dollar im Jahr beläuft.
Venkatesh schlittert als leidenschaftlicher Beobachter immer mehr in ein Dilemma. Er bewegt sich wie ein Gangmitglied, nimmt an Besprechungen teil, wird um Rat gefragt, aber er versucht Distanz zu wahren. „Manchmal sprach J. T. von seinem Job mit der gleichen selbstverständlichen Sachlichkeit, als sei er der Geschäftsführer einer Firma, die irgendwelche Dinge herstellte – eine Einstellung, die ich angesichts der Gewalt und Zerstörung, die seine Geschäfte mit sich brachten, ziemlich schwerverdaulich fand.”
Doch die Faszination darüber, dass Kriminelle und Manager viel gemeinsam haben, lässt ihn nicht los. So liest man ohne große Aufregung, dass sich Gangster mit ihrem „Geschäftsmodell” genauso intensiv beschäftigen wie Manager. Es geht um Mitarbeiterführung, gerechte Löhne, Karriereplanung, Investitionen und um werteorientierte Führung. Der Gangsterboss stößt an ähnliche Grenzen wie jeder Geschäftsführer. Wie können Werte wie Respekt, Vertrauen, Verantwortung, Leistung und Kundennähe in der Organisation umgesetzt werden? Die Black Kings sind zwar Kriminelle, aber auch Menschen, die sich um das Wohl der Ausgegrenzten und Armen kümmern. In einem Viertel, in dem 90 Prozent der Bewohner von Sozialhilfe leben und das von der Polizei fast aufgegeben ist.
Am Ende des Buchs erläutert J. T. dann seinerseits, was er von dem verrückten Soziologiestudenten hält, der ihm ans Herz gewachsen ist. „Du kannst nichts reparieren, du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet. Das Einzige, was du kannst, ist mit uns . . . herumzuhängen.” Das wiederum unterscheidet sich wohl nur unwesentlich von manchem Managertreffen auf Golfplätzen oder in Clubs. Peter Felixberger
Sudhir Venkatesh: Underground Economy. Was Gangs und
Unternehmen gemeinsam haben.
331 Seiten, Econ Verlag,
Berlin 2008, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Es ist eine bizarre Geschichte: Ein indischer Soziologiestudent spaziert an einem kühlen Samstagnachmittag in eines der schlimmsten Ghettos in Chicago, um Interviews für seine Doktorarbeit zu machen. Eine Gang bewaffneter Drogendealer nimmt ihn umgehend fest, und es ist nur dem Anführer zu verdanken, dass der Student heil aus der Situation herauskommt. Dieser Gangsterboss namens J. T. wird in den nächsten Jahren zum wichtigsten Gesprächspartner von Sudhir Venkatesh, der heute als Soziologieprofessor in New York auf Karrierepfad ist. J. T. hat ein einfaches Credo: „Du musst verstehen, dass die Black Kings keine Gang sind, sondern eine Community-Organisation – wir befriedigen die Bedürfnisse der Menschen.”
Nichts anderes wollen auch Unternehmen tun. So versucht dieses Buch, die Parallelwelt von Gangster- und Managerwelt zu beleuchten. Die Black Kings beschäftigen etwa 250 „Mitarbeiter”, die vom Crackverkauf bis zum Eintreiben von Schutzgeld die gesamte Palette organisierter Kriminalität beherrschen. Naiv und furchtlos reiht Venkatesh die Ereignisse, Gespräche und Akteure vor dem Leser auf. Auf exzentrische Weise subjektiv, engagiert, mit Leidenschaft erzählt. Ohne Gefühlsduselei und Happy-End-Romantik. Übrigens zu einer Zeit, Anfang der 1990er Jahre, als geschäftlich noch alles im Lot war. Nur am Ende des Buchs brechen die Gang und ihr System dann doch auseinander.
Wie man dieses explosive Umfeld überlebt, ist ein Grundthema des Buches. „Dieser Kapitalismus des Verbrechens lief wie geschmiert, und die Chefs der verschiedenen Gangs wurden reich”, berichtet Venkatesh, der sogar genauen Einblick in den Geldtransfer der Gang bekommen hat. Er erfährt nicht nur, dass die „Laufburschen” auf unterster Ebene am wenigsten Geld bekommen, obwohl sie den gefährlichsten Job machen, sondern auch, dass sich das Einkommen eines örtlichen Gangleaders auf bis zu 100 000 Dollar im Jahr beläuft.
Venkatesh schlittert als leidenschaftlicher Beobachter immer mehr in ein Dilemma. Er bewegt sich wie ein Gangmitglied, nimmt an Besprechungen teil, wird um Rat gefragt, aber er versucht Distanz zu wahren. „Manchmal sprach J. T. von seinem Job mit der gleichen selbstverständlichen Sachlichkeit, als sei er der Geschäftsführer einer Firma, die irgendwelche Dinge herstellte – eine Einstellung, die ich angesichts der Gewalt und Zerstörung, die seine Geschäfte mit sich brachten, ziemlich schwerverdaulich fand.”
Doch die Faszination darüber, dass Kriminelle und Manager viel gemeinsam haben, lässt ihn nicht los. So liest man ohne große Aufregung, dass sich Gangster mit ihrem „Geschäftsmodell” genauso intensiv beschäftigen wie Manager. Es geht um Mitarbeiterführung, gerechte Löhne, Karriereplanung, Investitionen und um werteorientierte Führung. Der Gangsterboss stößt an ähnliche Grenzen wie jeder Geschäftsführer. Wie können Werte wie Respekt, Vertrauen, Verantwortung, Leistung und Kundennähe in der Organisation umgesetzt werden? Die Black Kings sind zwar Kriminelle, aber auch Menschen, die sich um das Wohl der Ausgegrenzten und Armen kümmern. In einem Viertel, in dem 90 Prozent der Bewohner von Sozialhilfe leben und das von der Polizei fast aufgegeben ist.
Am Ende des Buchs erläutert J. T. dann seinerseits, was er von dem verrückten Soziologiestudenten hält, der ihm ans Herz gewachsen ist. „Du kannst nichts reparieren, du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet. Das Einzige, was du kannst, ist mit uns . . . herumzuhängen.” Das wiederum unterscheidet sich wohl nur unwesentlich von manchem Managertreffen auf Golfplätzen oder in Clubs. Peter Felixberger
Sudhir Venkatesh: Underground Economy. Was Gangs und
Unternehmen gemeinsam haben.
331 Seiten, Econ Verlag,
Berlin 2008, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Beeindruckt zeigt sich Rezensent Arno Widmann von der Welt, in die ihn Sudhir Venkatesh, Professor für Soziologie und Afroamerikanische Studien an der Columbia University, entführt. Ein Soziologiestudent zieht vom geschützten Chicagoer Seminar hinaus ins Feld des afroamerikanischen Underground, das nur einen Steinwurf entfernt auf der anderen Straßenseite beginnt. Doch den Fragebogen muss er bald zur Seite legen, als er in die Hände einer Drogengang fällt. Nun lernt er die Welt aus Drogen, Prostitution und Gewalt hautnah kennen, aus dem Statistiker wird ein teilnehmender Beobachter. Er berichtet von einer Welt, die dem Rezensenten trotz ihrer Alltäglichkeit exotisch fern vorkommt. Doch ein Märchen ist es nicht, das Sudhir Venkatesh hier erzählt: Die Geschichte des jungen, in Indien geborenen und in den USA aufgewachsenen Soziologiestudenten ist seine eigene. Was Venkatesh über die Ähnlichkeit von Gangs und Unternehmen zu sagen hat, verrät der Rezensent jedoch leider nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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