Am 13. Februar wird die gefeierte Ballerina Amandine in ihrer Garderobe im Berliner Schauspielhaus tot aufgefunden. Mit Grauen wird vermerkt: Der Tänzerin wurden - anscheinend bei lebendigem Leibe - die Füße abgetrennt. Der Kammergerichtsrat, Schriftsteller und Komponist Philipp Kreisler wird zufällig Zeuge des Abtransports der Leiche. Das namenlose Entsetzten im Blick der Toten berührt ihn so tief, daß er sich vornimmt, den Fall auf eigene Faust zu klären, zumal sich Polizei und Justiz sträflich wenig um ihn kümmern. Zusammen mit dem exzentrischen Schauspieler Ludwig Freundt macht sich Kreisler an die Ermittlungen. Dabei stoßen sie auf allerhand merkwürdiges: eine Schminkdose mit einer berauschenden und zugleich lebensbedrohlichen Substanz, einen skandalumwitterten Naturforscher, der eigentlich schon tot ist, einen Theatermaschinisten, der für eine Don-Giovanni-Aufführung einen unheimlichen beweglichen Komtur baut und schließlich Amandines Grab, in dem jede Spur von ihrem Körperfehlt. Während dessen geht das Morden weiter. Und immer sind es Frauen aus dem Theatermillieu, die sterben müssen. "Undines Tod" von Henning Boetius ist ein historischer Kriminalroman ersten Ranges, ein vielschichtiges Schattenspiel und ein facettenreiches Epochengemälde zugleich. Wir flanieren durch das alte Berlin, fürchten die laternenlose Dunkelheit, parlieren beim ästhetischen Mittwoschstee und spüren die seelischen Abgründe am Tor zu einer neuen Epoche.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.1997Zerlegte Stimmen
Versiert: Henning Boetius mordet romantisch
Jahrzehntelang galt als Regel, die von Ausnahmen wie Agatha Christies im alten Theben angesiedelte "Rächende Geister" nur bestätigt wurde: Ein Kriminalroman spielt in der Gegenwart seines Autors. Doch nicht erst seit Umberto Ecos "Der Name der Rose" ist der historische Krimi in Mode gekommen. Die Engländerin Ellis Peters läßt einen gewissen "Bruder Cadfael" als Serien-Detektiv durch mittelalterliche Klostergärten stapfen. Die in Schottland lebende Australierin Anne Perry macht das viktorianische London zum Schauplatz raffinierter Morde. Die Amerikaner Stuart Kaminsky und George Baxt siedeln ihre literarischen Verbrechen mit Vorliebe in den Hollywood-Kulissen der ersten Jahrhunderthälfte an.
Der in Fulda lebende Henning Boetius, als Autor von Schriftstellerbiographien und Kriminalromanen bekannt geworden, verknüpft in "Undines Tod" die beiden Genres, in denen er sich bisher getummelt hat. Im Berlin des Jahres 1817, das die derzeitige verworrene Aufbruchstimmung in der alt-neuen Hauptstadt in gewissem Sinne vorwegnimmt, läßt er eine Reihe von abstrusen Frauenmorden geschehen, die sich sämtlich im Künstlermilieu abspielen. Der Tänzerin Amandine werden - ausgerechnet - die Füße abgehackt, zwei Sängerinnen werden von ihrem anatomisch offenbar vorgebildeten Mörder kunstvoll ausgeschlachtet und ihrer Kehlköpfe beraubt.
Als Detektiv aber, der die Mordfälle löst und den Täter überführt, fungiert ein Alter ego des Dichters, Komponisten und Kammergerichtsrats E. T. A. Hoffmann, der hier zwar - nach einer seiner literarischen Figuren - den Nachnamen Kreisler trägt, von Boetius allerdings auf den Vornamen "Philipp" (statt "Johannes") getauft wurde. Dafür gesteht unser Autor dem exzentrischen Schauspieler, mit dem Kreisler allabendlich im Keller von "Lutter und Wegener" Punsch trinkt und der ihm als eine Art Watson dient, lediglich seinen historischen Vornamen Ludwig zu, wandelt aber den Familiennamen "von Devrient" leicht in "Freundt" ab.
Ansonsten gibt sich Boetius keine große Mühe, Kreislers Lebensumstände und Neigungen zu verschleiern. Abgesehen von manchen Prominenten jener Jahre (dem Architekten Schinkel, dem Dichter Brentano), begegnen wir Hoffmanns literarischem Kater Murr, seiner - aus Polen stammenden, eher gewohnheitsmäßig geliebten Ehefrau - "Mischa" und seiner letzten Liebe, der Sängerin Johanna Eunicke; auch hat Kreisler wie Hoffmann eine "Undine"-Oper komponiert, die ihm in der Berliner Gesellschaft einiges Prestige einträgt. Doch statt an den "Elixieren" schreibt er an einem "Tagebuch des Teufels".
Für das Motiv der zentralen Morde (es gibt noch einige weitere) macht Boetius sich E. T. A. Hoffmanns Faszination an künstlichen Menschen zunutze, die er "Automate" nannte. Weil der Theatermaschinist Spinola, ein Geistesverwandter des Hoffmannschen Coppelius, für eine "Don Giovanni"-Aufführung die perfekten Automate bauen möchte (und die Außensteuerung dieser Automaten in der computerlosen Zeit noch nicht recht funktioniert), müssen einige Menschen, deren Körperteile der wahnsinnige Maschinist zu benötigen glaubt, ihr Leben lassen.
Als Kriminalroman ist "Undines Tod" nicht sehr ernst zu nehmen. Allzugern und häufig verschenkt Boetius die Logik an phantastische Ereignisse wie aus Hoffmanns Schriften, und die detektivische Deduktion wird letztlich durch die Intuition des genialischen Helden ersetzt. Doch hat der Roman seine Qualitäten als Zeitbild und verkappter biographischer Bericht über die Berliner Jahre des E. T. A. Hoffmann. Der Künstler, gesellschaftlich auf der Höhe seines Ruhmes, wird darin - nicht zum ersten Mal - als ein Zerrissener zwischen bürgerlicher Welt und den Abgründen seiner Psyche porträtiert. JOCHEN SCHMIDT
Henning Boetius: "Undines Tod". Roman. btb Verlag, München 1997, 303 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Versiert: Henning Boetius mordet romantisch
Jahrzehntelang galt als Regel, die von Ausnahmen wie Agatha Christies im alten Theben angesiedelte "Rächende Geister" nur bestätigt wurde: Ein Kriminalroman spielt in der Gegenwart seines Autors. Doch nicht erst seit Umberto Ecos "Der Name der Rose" ist der historische Krimi in Mode gekommen. Die Engländerin Ellis Peters läßt einen gewissen "Bruder Cadfael" als Serien-Detektiv durch mittelalterliche Klostergärten stapfen. Die in Schottland lebende Australierin Anne Perry macht das viktorianische London zum Schauplatz raffinierter Morde. Die Amerikaner Stuart Kaminsky und George Baxt siedeln ihre literarischen Verbrechen mit Vorliebe in den Hollywood-Kulissen der ersten Jahrhunderthälfte an.
Der in Fulda lebende Henning Boetius, als Autor von Schriftstellerbiographien und Kriminalromanen bekannt geworden, verknüpft in "Undines Tod" die beiden Genres, in denen er sich bisher getummelt hat. Im Berlin des Jahres 1817, das die derzeitige verworrene Aufbruchstimmung in der alt-neuen Hauptstadt in gewissem Sinne vorwegnimmt, läßt er eine Reihe von abstrusen Frauenmorden geschehen, die sich sämtlich im Künstlermilieu abspielen. Der Tänzerin Amandine werden - ausgerechnet - die Füße abgehackt, zwei Sängerinnen werden von ihrem anatomisch offenbar vorgebildeten Mörder kunstvoll ausgeschlachtet und ihrer Kehlköpfe beraubt.
Als Detektiv aber, der die Mordfälle löst und den Täter überführt, fungiert ein Alter ego des Dichters, Komponisten und Kammergerichtsrats E. T. A. Hoffmann, der hier zwar - nach einer seiner literarischen Figuren - den Nachnamen Kreisler trägt, von Boetius allerdings auf den Vornamen "Philipp" (statt "Johannes") getauft wurde. Dafür gesteht unser Autor dem exzentrischen Schauspieler, mit dem Kreisler allabendlich im Keller von "Lutter und Wegener" Punsch trinkt und der ihm als eine Art Watson dient, lediglich seinen historischen Vornamen Ludwig zu, wandelt aber den Familiennamen "von Devrient" leicht in "Freundt" ab.
Ansonsten gibt sich Boetius keine große Mühe, Kreislers Lebensumstände und Neigungen zu verschleiern. Abgesehen von manchen Prominenten jener Jahre (dem Architekten Schinkel, dem Dichter Brentano), begegnen wir Hoffmanns literarischem Kater Murr, seiner - aus Polen stammenden, eher gewohnheitsmäßig geliebten Ehefrau - "Mischa" und seiner letzten Liebe, der Sängerin Johanna Eunicke; auch hat Kreisler wie Hoffmann eine "Undine"-Oper komponiert, die ihm in der Berliner Gesellschaft einiges Prestige einträgt. Doch statt an den "Elixieren" schreibt er an einem "Tagebuch des Teufels".
Für das Motiv der zentralen Morde (es gibt noch einige weitere) macht Boetius sich E. T. A. Hoffmanns Faszination an künstlichen Menschen zunutze, die er "Automate" nannte. Weil der Theatermaschinist Spinola, ein Geistesverwandter des Hoffmannschen Coppelius, für eine "Don Giovanni"-Aufführung die perfekten Automate bauen möchte (und die Außensteuerung dieser Automaten in der computerlosen Zeit noch nicht recht funktioniert), müssen einige Menschen, deren Körperteile der wahnsinnige Maschinist zu benötigen glaubt, ihr Leben lassen.
Als Kriminalroman ist "Undines Tod" nicht sehr ernst zu nehmen. Allzugern und häufig verschenkt Boetius die Logik an phantastische Ereignisse wie aus Hoffmanns Schriften, und die detektivische Deduktion wird letztlich durch die Intuition des genialischen Helden ersetzt. Doch hat der Roman seine Qualitäten als Zeitbild und verkappter biographischer Bericht über die Berliner Jahre des E. T. A. Hoffmann. Der Künstler, gesellschaftlich auf der Höhe seines Ruhmes, wird darin - nicht zum ersten Mal - als ein Zerrissener zwischen bürgerlicher Welt und den Abgründen seiner Psyche porträtiert. JOCHEN SCHMIDT
Henning Boetius: "Undines Tod". Roman. btb Verlag, München 1997, 303 S., geb., 39,90 DM.
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