Produktdetails
- Verlag: P.O.L.
- Erscheinungstermin: Januar 2023
- Französisch
- Abmessung: 19mm x 141mm x 206mm
- Gewicht: 294g
- ISBN-13: 9782818056714
- Artikelnr.: 66445251
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2024Wer war Jérôme Lindon?
Die Nachlese zu 2023 fördert einen spannenden Band über das intellektuelle Leben Frankreichs zutage: Mathieu Lindon berichtet in "Une archive" (P.O.L) über seinen Vater Jérôme Lindon (1925 bis 2001), den berühmten Verleger der Éditions de Minuit. Das im Widerstand gegründete Verlagshaus hat Frankreichs Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend geprägt: Dort publizierten die Autoren des Nouveau Roman wie Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute, Michel Butor oder Jean Ricardou. Lindon verlegte nicht nur die Nobelpreisträger Samuel Beckett und Claude Simon oder Größen von Marguerite Duras bis Marie NDiaye, sondern auch Intellektuelle wie Gilles Deleuze, Pierre Vidal-Naquet oder Pierre Bourdieu - mit Letzterem allerdings hat er sich zerstritten. In den Achtzigerjahren versuchte Lindon, unter dem Etikett "impassible" ("leidenschaftslos") eine zweite Welle Romanciers zu lancieren, darunter Christian Oster und Jean-Philippe Toussaint; die kollektive Dynamik blieb diesmal aus, was Lindon auch finanziell bedauerte. Nichtsdestotrotz, der Erfolg dauerte an, Minuit blieb über Jahrzehnte ein wichtiger unabhängiger Kleinverlag, bis Lindons Tochter Irène ihn 2021 an Gallimard verkaufte.
Mathieu Lindon bietet interessante Einblicke, nicht zuletzt in familiäre Verflechtungen: Ja, der Schauspieler Vincent Lindon ist ein Cousin, und man hat sich mit der Familie von Georges Perec in Südfrankreich vor der Judenverfolgung versteckt. Er erzählt auch die Verlagsgeschichte, geht also über das persönliche Porträt hinaus, das Schriftsteller gezeichnet hatten, Jean Echenoz in "Jérôme Lindon" (2001), Toussaint in "C'est vous l'écrivain" (2022). So erfährt man, wie der junge Großbürgersohn Jérôme - seine drei Kinder André, Irène und Mathieu nennen ihn konsequent beim Vornamen - 1948 zum Verlag kommt wie die Jungfrau zum Kind. Sein Talent zeigt sich früh, er tut den großen Griff: Sam, wie Beckett bei Lindons hieß. Der garantiert jahrzehntelang den finanziellen Erfolg, wird zum Hausheiligen an Schreib- und Küchentisch. Eine ähnlich zentrale Bedeutung kommt nur Robbe-Grillet zu, dem Autor, Freund und Lektor. Ebenfalls spannend sind Lindons Kampf für ein unabhängiges Algerien (die Familienwohnung wird von der OAS gesprengt) oder sein Einsatz für die Palästinenser - bemerkenswert seitens eines jüdischen Widerstandskämpfers.
"Ein Archiv" bietet darüber hinaus scharfe Beobachtungen des Verlegerhandwerks. Sie verdanken sich der Tatsache, dass Mathieu selbst Schriftsteller ist und einem zweiten großen Verleger nahestand, Paul Otchakovsky-Laurens nämlich - die Vergleiche mit ihm oder Jean-Jacques Pauvert sind erhellend. Mathieu begreift sehr konkret, was sein Vater, der "bewunderte Bewunderer", geschaffen hat: eine exklusive Aura. Mit seinen Worten: "Seinen Snobismus schaffen, auch das macht einen Verlag aus, und Jérôme ist es gelungen." Mit Snobismus ist ein charismatisches Verständnis der Verlegerfunktion gemeint, das freilich Familie und Autoren das Leben schwer gemacht hat: Sosehr Jérôme bemüht war, wichtige Bücher rasch zu lesen - dass "Das Badezimmer" von Toussaint wochenlang ungelesen auf Robbe-Grillets Schreibtisch lag, hätte ihn fast verrückt gemacht -, so hart war er mit Autoren, die ihr erstes Buch bei Minuit publiziert hatten. "Die Manipulation war seine Seinsweise", hält der Sohn ungerührt fest. Und: "Es genügte, dass man ihn auf ein Manuskript hinwies, damit er es ablehnte."
Jérômes Machthunger macht vor der Familie nicht halt: Insofern kann der Kontaktabbruch durch das dritte Kind, den Regisseur André Lindon, kaum überraschen. Er trifft den Verleger hart, denn mit André verliert er den Zugang zu den Enkelkindern: "Er, der vorgab, dass man nur der Verleger einer einzigen Generation sein könne, sah sich zu seiner großen Freude als Verleger mehrerer. Aber zu seinem großen Leidwesen war er familiär der Großvater keiner einzigen." Den Enkeln schreibt er Briefe, die sie erst nach seinem Tod erhalten werden. Überhaupt zeigt Jérôme, Nachkomme von André Citroën, Teil einer "intellektuellen jüdischen Bourgeoisie", ein überraschend traditionelles Familienverständnis, das schlecht zu einem Avantgarde-Verleger passen will. Seine kluge Frau zieht sich aus dem geistigen Leben weitgehend zurück, um ihm den Rücken freizuhalten. Zum Dank betrügt er sie als guter Bourgeois in Seelenruhe, unter anderem mit einer Journalistin - ein Berufsstand, den er zu verachten vorgibt.
Diese auf den ersten Blick kalte, machiavellistische Figur beweist jedoch nicht nur große Leidenschaft in der Sache, sondern letzten Endes auch Unsicherheit: "Sein Werk war unbeständig. Bei Sams Tod war er äußerst angegriffen." Darum legt Jérôme ein Archiv für heikle Angelegenheiten sowie für die Enkel an - und zeigt nun in der Rückschau des lebenden Archivs, das Mathieu seiner Aussage nach selbst ist, seine vielen Facetten, darunter auch Schwächen, wie die seltenen Tränen, die eine scharfe Bemerkung des Sohnes provozieren können. Dessen unerbittliche Liebe trifft den richtigen Ton und hat mit dem Begriff "Archiv" eine Klammer gefunden, um seine Erinnerungen an einen großen Mann des Buchs zusammenzuhalten, lose, aber inspirierend. NIKLAS BENDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Nachlese zu 2023 fördert einen spannenden Band über das intellektuelle Leben Frankreichs zutage: Mathieu Lindon berichtet in "Une archive" (P.O.L) über seinen Vater Jérôme Lindon (1925 bis 2001), den berühmten Verleger der Éditions de Minuit. Das im Widerstand gegründete Verlagshaus hat Frankreichs Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend geprägt: Dort publizierten die Autoren des Nouveau Roman wie Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute, Michel Butor oder Jean Ricardou. Lindon verlegte nicht nur die Nobelpreisträger Samuel Beckett und Claude Simon oder Größen von Marguerite Duras bis Marie NDiaye, sondern auch Intellektuelle wie Gilles Deleuze, Pierre Vidal-Naquet oder Pierre Bourdieu - mit Letzterem allerdings hat er sich zerstritten. In den Achtzigerjahren versuchte Lindon, unter dem Etikett "impassible" ("leidenschaftslos") eine zweite Welle Romanciers zu lancieren, darunter Christian Oster und Jean-Philippe Toussaint; die kollektive Dynamik blieb diesmal aus, was Lindon auch finanziell bedauerte. Nichtsdestotrotz, der Erfolg dauerte an, Minuit blieb über Jahrzehnte ein wichtiger unabhängiger Kleinverlag, bis Lindons Tochter Irène ihn 2021 an Gallimard verkaufte.
Mathieu Lindon bietet interessante Einblicke, nicht zuletzt in familiäre Verflechtungen: Ja, der Schauspieler Vincent Lindon ist ein Cousin, und man hat sich mit der Familie von Georges Perec in Südfrankreich vor der Judenverfolgung versteckt. Er erzählt auch die Verlagsgeschichte, geht also über das persönliche Porträt hinaus, das Schriftsteller gezeichnet hatten, Jean Echenoz in "Jérôme Lindon" (2001), Toussaint in "C'est vous l'écrivain" (2022). So erfährt man, wie der junge Großbürgersohn Jérôme - seine drei Kinder André, Irène und Mathieu nennen ihn konsequent beim Vornamen - 1948 zum Verlag kommt wie die Jungfrau zum Kind. Sein Talent zeigt sich früh, er tut den großen Griff: Sam, wie Beckett bei Lindons hieß. Der garantiert jahrzehntelang den finanziellen Erfolg, wird zum Hausheiligen an Schreib- und Küchentisch. Eine ähnlich zentrale Bedeutung kommt nur Robbe-Grillet zu, dem Autor, Freund und Lektor. Ebenfalls spannend sind Lindons Kampf für ein unabhängiges Algerien (die Familienwohnung wird von der OAS gesprengt) oder sein Einsatz für die Palästinenser - bemerkenswert seitens eines jüdischen Widerstandskämpfers.
"Ein Archiv" bietet darüber hinaus scharfe Beobachtungen des Verlegerhandwerks. Sie verdanken sich der Tatsache, dass Mathieu selbst Schriftsteller ist und einem zweiten großen Verleger nahestand, Paul Otchakovsky-Laurens nämlich - die Vergleiche mit ihm oder Jean-Jacques Pauvert sind erhellend. Mathieu begreift sehr konkret, was sein Vater, der "bewunderte Bewunderer", geschaffen hat: eine exklusive Aura. Mit seinen Worten: "Seinen Snobismus schaffen, auch das macht einen Verlag aus, und Jérôme ist es gelungen." Mit Snobismus ist ein charismatisches Verständnis der Verlegerfunktion gemeint, das freilich Familie und Autoren das Leben schwer gemacht hat: Sosehr Jérôme bemüht war, wichtige Bücher rasch zu lesen - dass "Das Badezimmer" von Toussaint wochenlang ungelesen auf Robbe-Grillets Schreibtisch lag, hätte ihn fast verrückt gemacht -, so hart war er mit Autoren, die ihr erstes Buch bei Minuit publiziert hatten. "Die Manipulation war seine Seinsweise", hält der Sohn ungerührt fest. Und: "Es genügte, dass man ihn auf ein Manuskript hinwies, damit er es ablehnte."
Jérômes Machthunger macht vor der Familie nicht halt: Insofern kann der Kontaktabbruch durch das dritte Kind, den Regisseur André Lindon, kaum überraschen. Er trifft den Verleger hart, denn mit André verliert er den Zugang zu den Enkelkindern: "Er, der vorgab, dass man nur der Verleger einer einzigen Generation sein könne, sah sich zu seiner großen Freude als Verleger mehrerer. Aber zu seinem großen Leidwesen war er familiär der Großvater keiner einzigen." Den Enkeln schreibt er Briefe, die sie erst nach seinem Tod erhalten werden. Überhaupt zeigt Jérôme, Nachkomme von André Citroën, Teil einer "intellektuellen jüdischen Bourgeoisie", ein überraschend traditionelles Familienverständnis, das schlecht zu einem Avantgarde-Verleger passen will. Seine kluge Frau zieht sich aus dem geistigen Leben weitgehend zurück, um ihm den Rücken freizuhalten. Zum Dank betrügt er sie als guter Bourgeois in Seelenruhe, unter anderem mit einer Journalistin - ein Berufsstand, den er zu verachten vorgibt.
Diese auf den ersten Blick kalte, machiavellistische Figur beweist jedoch nicht nur große Leidenschaft in der Sache, sondern letzten Endes auch Unsicherheit: "Sein Werk war unbeständig. Bei Sams Tod war er äußerst angegriffen." Darum legt Jérôme ein Archiv für heikle Angelegenheiten sowie für die Enkel an - und zeigt nun in der Rückschau des lebenden Archivs, das Mathieu seiner Aussage nach selbst ist, seine vielen Facetten, darunter auch Schwächen, wie die seltenen Tränen, die eine scharfe Bemerkung des Sohnes provozieren können. Dessen unerbittliche Liebe trifft den richtigen Ton und hat mit dem Begriff "Archiv" eine Klammer gefunden, um seine Erinnerungen an einen großen Mann des Buchs zusammenzuhalten, lose, aber inspirierend. NIKLAS BENDER
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