Produktdetails
  • Verlag: Plon, P.
  • Seitenzahl: 290
  • Französisch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 386g
  • ISBN-13: 9782259203555
  • ISBN-10: 2259203558
  • Artikelnr.: 20866962
Autorenporträt
André Glucksmann, geboren 1937 in Boulogne-Billancourt, war Philosoph und Essayist im Kontext der französischen Gruppe der "Nouveaux Philosophes" und zählte mit seinen ideologiekritischen Publikationen seit den 1970er Jahren zu den führenden politischen Denkern in Europa. André Glucksmann verstarb im November 2015.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2006

Am Anfang war eine Kinderwut

Die französische Denkergeneration, die das Intellektuellenengagement seit dreißig Jahren medienwirksam auf den Höhepunkt narzißtischer Selbstdarstellung brachte, hatte stets eine ganz eigene Art, "ich" zu sagen. Die erste Person verschwand hinter der Humanität schlechthin, in deren Namen die Wortführer des Kampfs gegen die totalitären Ideologien auftraten - und die erste Person erschien dadurch noch breiter. Heute, wo diese Generation das Rentneralter erreicht, schrumpft das Ich zum Subjekt. Bernard-Henri Lévy, der in seinem Reisebericht aus Amerika auf den Spuren Tocquevilles - Titel: "American Vertigo" - die literarische Selbststilisierung gerade auf die Spitze trieb, wird durch die über ihn erschienenen Biographien auch mit anderen Seiten seiner Person konfrontiert, etwa mit der Art, wie er sein erhebliches Privatvermögen verwaltet oder seinen Einfluß in französischen Verlagen und Zeitungsredaktionen spielen läßt. Alain Finkielkraut, der originellere, verworrenere Denker, begnügt sich in den jüngsten Büchern damit, sich vermehrt auf seine jüdische Herkunft zu besinnen.

Am offensten kommt die Selbstbesinnung bei André Glucksmann daher, dem neunundsechzigjährigen Veteranen dieser Generation. Dieser unermüdliche Mahner, eine Art Einmannbetrieb des öffentlichen Kommentierens, Kritisierens, Protestierens, der im Unterschied zu den Kollegen keine Machtposition in den Redaktionsbüros und politischen Parteizirkeln innehat, kann vielleicht gerade deshalb so unbefangen ein Foto von sich selbst als Kind mit geballten Fäusten, verkniffenem Blick und verzogenem Mund auf den Einband seines neusten Buchs setzen lassen. "Une rage d'enfant" - Eine Kinderwut - heißt der Titel (Editions Plon, Paris 2006. 291 S., br., 19,50 [Euro]). Es ist eine Umkehrung der Perspektive gegenüber Glucksmanns bisherigem Werk. War dort hinter dem Thema des Vietnam-Kriegs, des Marxismus, Kommunismus und des GULags, des Pazifismus, Terrorismus und Antisemitismus das eigene Subjekt mit seiner pointierten Meinung nie weit, so bleiben in den Episoden dieser persönlichen Lebensgeschichte die großen Weltereignisse allgegenwärtig.

Wo das auf dem Land verborgene Judenkind als Joseph André Rivière im Meßgewand am Altar die lateinischen Liturgietexte herunterraspelt, drückt die Last der Besatzungszeit. Wenn der Junge, statt seiner Mutter nach der Befreiung nach Wien zu folgen, lieber in Frankreich bleibt, lebt der Geist der Libération auf - und doch will das Kind weiter jene Sprache lernen, in der seine nur deutsch sprechende "Großmutti" es unter der Nazi-Besatzung einst in den Schlaf gewiegt hatte. Die revolutionäre Euphorie der unmittelbaren Nachkriegszeit blüht und verblüht schnell im Kopf des Heranwachsenden angesichts des doktrinären Kleinkriegs zwischen den Lagern. Die Dissidenz gegenüber idealistischer Verblendung und zynischer Realpolitik, die in der Laudatio auf Václav Havel 1989 in der Frankfurter Paulskirche ihre rhetorische Vollendung fand, prägte schließlich den bis heute maßgebenden Denkhorizont des Autors.

Für das dahinterstehende unerschöpfliche Empörungspotential gibt es eine Urszene in der Kindheit. Vor dem Schloß Ferrière, das die Familie Rothschild nach dem Krieg als Heim für überlebende jüdische Kinder eingerichtet hatte, steigen an einem sonnigen Nachmittag Baron und Baronin aus der Limousine, um vor dem versammelten, sonntäglich herausgeputzten Personal das Wohltätigkeitswerk zu feiern. Ohne ersichtlichen Grund tritt da plötzlich der kleine Joseph André aus der Reihe und schleudert den vom Fuß gezogenen Schuh in die Reihe der Wohltäter. Mehr als eine kindliche Wurfübung für spätere Molotowcocktails deutet Glucksmann diese Szene als frühes Aufbegehren dagegen, gute Miene zu machen zum Versöhnungs- und Vergessensritual.

Aufschlußreich ist diese Selbstbetrachtung im Kontext der anderer Publikationen. Wo manche Intellektuelle wie Alain Finkielkraut heute nachträglich ihr jüdisches vor das französische Zugehörigkeitsgefühl setzen, geht Glucksmann den umgekehrten Weg. Zweimal, schreibt er, habe er als Kind sich spontan für Frankreich entschieden: mit zehn Jahren, als er von einer Kindheit in Wien nichts wissen wollte, vier Jahre später, als er die Erbschaft eines reichen Onkels in Chile ausschlug. Franzose sein bedeutet für den national Bindungslosen, der dem existentiellen Pathos mancher Zeitgenossen angesichts ihrer doppelten Herkunft kaum mehr als ein ironisches Lächeln abgewinnen kann, vor allem einen geistigen Bezugshorizont. "Descartes, c'est la France" hieß 1987 der kuriose Titel eines seiner Bücher: Franzose sein mehr im Kopf als mit den Füßen, wie Descartes in Amsterdam, de Gaulle in London. Im neuen Werk heißen die Referenzautoren Victor Hugo, Baudelaire, Mallarmé.

Die in Mode gekommene Identitätsemphase über die Herkunft - ich weiß nicht, wer ich bin, also berufe ich mich auf die Vorfahren - sei in Mallarmés Kurzerzählung "Igitur" vorgezeichnet, schreibt Glucksmann: Einer steigt über die "Stufen des Menschengeists" in die Tiefe hinab, bläst die Kerze aus und bettet sich auf die Asche der Ahnen. André Glucksmann quartiert sein Ich lieber auf der Etage ein.

JOSEPH HANIMANN

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