Jonathan Littell erzählt in klassischer Manier die alte Geschichte vom Drama des Menschseins in einem labyrinthischen und abgründigen Text, der eine Reise von Traum zu Traum, von Alptraum zu Alptraum ist. Der unbestimmte Ich-Erzähler, lässt sich von seinen Fantasien und Lüsten treiben und zerstört seine Familie und sich selbst. Mal Mann, mal Frau, mal Täter, mal Opfer, ist er aber auch eine Personifizierung des menschlichen Unbewussten, das sich in unzähligen Spiegeln dieses kunstvollen Textes selbst erzählt. Durch Türen, Gänge und Hotelzimmer wandert der Ich-Erzähler und stößt immer wieder Türen in neue Abgründe seiner Fantasmen auf. In Gewalt, Sex und Macht bricht sich das Prinzip des Lebens Bahn bis es sich selbst zerstört; sexuelle Identitäten lösen sich hier auf wie der Erzähler selbst, der sich durch einen Sprung in klares kaltes Wasser vor sich selbst rettet, bevor er neue orgiastische Räume voll überhitzter Sexualität, Perversion und extremer Gewalt betritt. Begleitet vonMusik, die der Erzähler hört und Bildern, die er sich wie dem Leser ins Gedächtnis ruft, gerät der Text gleichsam ins Schweben. In Wiederholungen, die wie Déjà-vus wirken, und eigene Bilder, die Erinnerungen evozieren, wird der Leser zu den Spiegeln und Blicken dieser Erzählung, und nimmt die ewiggleichen Tableaus der Gewalt und Perversion auf, die so menschlich sind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.07.2016Nacktes Grauen
Jonathan Littell gibt sich
doppelmondsüchtig
Ein Mann joggt vom Schwimmbad nach Hause, er begrüßt seine Frau, badet den kleinen Sohn. Man isst gemeinsam zu Abend, trinkt Wein, hört klassische Musik, bringt das Kind ins Bett, dann schläft der Mann mit seiner Frau, im Fenster spiegelt sich der weiße „Doppelmond“ seines Gesäßes, das ihm so feminin vorkommt wie das einer Frau. Und plötzlich ist er wieder auf der Straße unterwegs, biegt erneut in einen Hauseingang ein, und abermals begrüßt ihn eine Frau. Nur ist es diesmal nicht seine eigene, sondern eine exotische Unbekannte mit einem umgeschnallten Gummi-Dildo, die ihn empfängt. Und das ist erst der Anfang von Jonathan Littells zweiteiliger Erzählung „Eine alte Geschichte“.
Wieder und wieder wird dieses Setting variiert, und jedes Mal verformt sich die Familienidylle des Anfangs zu einem krasseren Lust- und Schreckenskabinett. Als nächstes gerät der Ich-Erzähler an einen Stricher, der ihn nach dem Sex zusammenschlägt, dann findet er sich auf einer mondänen Party wieder, umgeben von lauter schönen Frauen, die sich jedoch als Männer herausstellen, als die Party in eine Orgie übergeht. Dann lenkt er seine Schritte in einen Schwulenklub, wo ihn ein brutaler Gangbang erwartet. Immer tiefer taucht der Erzähler ein ins Stahlbad der Wollust, ist mal Mann, mal Frau, mal Täter, mal Opfer, und manchmal einfach nur Voyeur. Jeder der beiden Teile der Erzählung kulminiert in einer exzessiven, kaum zu ertragenden Gewaltfantasie, bevor sich das erzählende Ich mit einem Sprung ins kühle Schwimmbecken aus der Hölle rettet.
Jonathan Littells Erzählung ist eine Reise in des Autors Herz der Finsternis. Er will sich seinen Dämonen und dunklen Lüsten stellen und gibt diesem Selbstversuch die Form einer Traumnovelle. In einer Art literarischem Tetris-Spiel fügt er wiederkehrende Wendungen und Motive – eine mit grünen Grashalmen auf Goldgrund bestickte Tagesdecke, Erinnerungsfetzen an einen Stromausfall, den Duft von Heidekraut, Moos und Mandeln – wie Spolien in die fließenden Metamorphosen des Textes ein. Und er wählt eine extrem unterkühlte Sprache, die das Pathos der Distanz steigern soll.
Doch es ist eben auch mit diesem Autor eine alte Geschichte. Der in New York geborene und auf Französisch schreibende Littell wurde mit seinem monströsen 1400-Seiten-Roman „Die Wohlgesinnten“ (2006), einem Gewaltporno über einen SS-Sturmbannführer, zu einer Skandalberühmtheit. Danach verlegte er sich auf die kleine Form und sagte der Petitesse Bonjour. In kurzen Texten umspielte er seine Lieblingsthemen, Gewalt und Leidenschaft, und gerierte sich als ruchloser Superästhet. Auch „Einealte Geschichte“ ist eine krude nihilistische Lebensfeier. Und eine dekadente Stilübung. Es liegt ein scharfer Chlor-Geruch über dieser keimfrei desinfizierten Prosa. Der Gestus des überfeinerten Kenners, der einem das Grauen als erlesene amoralische Delikatesse serviert, ist nichts anderes als ein umgekehrter Kitsch, ein Kitsch der Härte, Hardcore mit Häkeldeckchen. Und der fahle Doppelmond von Littells Gesäß – für den Leser ist er nur ein Schmerz in demselben.
CHRISTOPHER SCHMIDT
Jonathan Littell: Eine alte Geschichte. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 127 Seiten, 17,90 Euro.
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Jonathan Littell gibt sich
doppelmondsüchtig
Ein Mann joggt vom Schwimmbad nach Hause, er begrüßt seine Frau, badet den kleinen Sohn. Man isst gemeinsam zu Abend, trinkt Wein, hört klassische Musik, bringt das Kind ins Bett, dann schläft der Mann mit seiner Frau, im Fenster spiegelt sich der weiße „Doppelmond“ seines Gesäßes, das ihm so feminin vorkommt wie das einer Frau. Und plötzlich ist er wieder auf der Straße unterwegs, biegt erneut in einen Hauseingang ein, und abermals begrüßt ihn eine Frau. Nur ist es diesmal nicht seine eigene, sondern eine exotische Unbekannte mit einem umgeschnallten Gummi-Dildo, die ihn empfängt. Und das ist erst der Anfang von Jonathan Littells zweiteiliger Erzählung „Eine alte Geschichte“.
Wieder und wieder wird dieses Setting variiert, und jedes Mal verformt sich die Familienidylle des Anfangs zu einem krasseren Lust- und Schreckenskabinett. Als nächstes gerät der Ich-Erzähler an einen Stricher, der ihn nach dem Sex zusammenschlägt, dann findet er sich auf einer mondänen Party wieder, umgeben von lauter schönen Frauen, die sich jedoch als Männer herausstellen, als die Party in eine Orgie übergeht. Dann lenkt er seine Schritte in einen Schwulenklub, wo ihn ein brutaler Gangbang erwartet. Immer tiefer taucht der Erzähler ein ins Stahlbad der Wollust, ist mal Mann, mal Frau, mal Täter, mal Opfer, und manchmal einfach nur Voyeur. Jeder der beiden Teile der Erzählung kulminiert in einer exzessiven, kaum zu ertragenden Gewaltfantasie, bevor sich das erzählende Ich mit einem Sprung ins kühle Schwimmbecken aus der Hölle rettet.
Jonathan Littells Erzählung ist eine Reise in des Autors Herz der Finsternis. Er will sich seinen Dämonen und dunklen Lüsten stellen und gibt diesem Selbstversuch die Form einer Traumnovelle. In einer Art literarischem Tetris-Spiel fügt er wiederkehrende Wendungen und Motive – eine mit grünen Grashalmen auf Goldgrund bestickte Tagesdecke, Erinnerungsfetzen an einen Stromausfall, den Duft von Heidekraut, Moos und Mandeln – wie Spolien in die fließenden Metamorphosen des Textes ein. Und er wählt eine extrem unterkühlte Sprache, die das Pathos der Distanz steigern soll.
Doch es ist eben auch mit diesem Autor eine alte Geschichte. Der in New York geborene und auf Französisch schreibende Littell wurde mit seinem monströsen 1400-Seiten-Roman „Die Wohlgesinnten“ (2006), einem Gewaltporno über einen SS-Sturmbannführer, zu einer Skandalberühmtheit. Danach verlegte er sich auf die kleine Form und sagte der Petitesse Bonjour. In kurzen Texten umspielte er seine Lieblingsthemen, Gewalt und Leidenschaft, und gerierte sich als ruchloser Superästhet. Auch „Einealte Geschichte“ ist eine krude nihilistische Lebensfeier. Und eine dekadente Stilübung. Es liegt ein scharfer Chlor-Geruch über dieser keimfrei desinfizierten Prosa. Der Gestus des überfeinerten Kenners, der einem das Grauen als erlesene amoralische Delikatesse serviert, ist nichts anderes als ein umgekehrter Kitsch, ein Kitsch der Härte, Hardcore mit Häkeldeckchen. Und der fahle Doppelmond von Littells Gesäß – für den Leser ist er nur ein Schmerz in demselben.
CHRISTOPHER SCHMIDT
Jonathan Littell: Eine alte Geschichte. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 127 Seiten, 17,90 Euro.
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