»Schreiben heißt die Einsamkeit verteidigen, in der man sich befindet«, schreibt María Zambrano. Wenn aber schon das Schreiben generell die Einsamkeit verteidigt, was geschieht in einem Tagebuch, das der vorgegebenen Form zwar folgt, sich aber gleichzeitig gegen sie zur Wehr setzt? Frank Witzel vertraute sich zwei Monate jeden Tag einem Tagebuch an, ohne dabei der Form des Tagebuchs zu vertrauen. Seine Aufzeichnungen sind gekennzeichnet von einer Skepsis gegenüber dem eigenen Erleben und Denken - und nicht zuletzt auch gegenüber dem Vorgang des Schreibens selbst. Witzels Umgang mit den sogenannten Fakten, die sich hier, wenn überhaupt, nur am Rande finden, heben die Aufzeichnungen im wahrsten Sinne des Wortes ins Metaphysische: Personen, Begegnungen, Reisen oder alltägliche Ereignisse werden unmittelbar von ihrer vermeintlichen physischen Existenz befreit und schon im Notieren in die metaphysische Reflexion umgelenkt. Ein eindrucksvolles Schreibprojekt, das mit diesem ersten Bandseinen Anfang nimmt.»Betrachtet man das Schreiben aus einer existenzialistischen Sicht, dann wird auch verständlich, warum etwa Kafka wollte, dass man seine Schriften vernichtet, denn sie waren Zeichen seiner Lebenspraxis, Zeichen seiner Stadien auf dem Lebensweg, die ihm außerhalb der eigenen Existenz leer und unbedeutend erschienen.« - Frank Witzel
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2019Der Streit mit O. und wie man sie zurückgewinnt
Abtauchen mit Ansage: Frank Witzels Notizenband "Uneigentliche Verzweiflung" birgt ein Selbstgespräch
Eines Morgens fällt Frank Witzel, der seit vierzig Jahren an aberwitzigen Gedankenromanen schreibt und unter täglichen Panikattacken leidet, eine Möglichkeit ein, sich dem Leben tel quel zuzuwenden - indem er sein gedankliches Mäandern festschreibt, also dingfest macht. "Es geht um keine Chronologie, um kein System, sondern allein um den einen Gedanken, der entsteht und wieder vergeht und seltsamerweise etwas zu bewirken scheint, wenn wir auch nicht wissen, was."
Der französische Existenzialist Gabriel Marcel, dessen Buch Witzel lange besaß, ohne es je wirklich gelesen zu haben, hat es vorgemacht, indem er ein Journal métaphysique verfasste. Ihm fühlt der Autor in der Liebes- und Schreibkrise sich jetzt nah. Und gleitet gleich wieder ab in ein typisches Witzel-Szenario: "Mit dem Gedanken an Marcels Journal métaphysique verbindet sich unwillkürlich eine erzählerische Ebene; das Bild einer kleinen Kammer, einer Gasse in einem etwas abgelegenen Pariser Viertel, einerseits klamm, andererseits tröstlich. Tröstlich, sich wo und wann auch immer auf das Denken verlassen zu können. Klamm, sich eben darauf verlassen zu müssen, weil das Leben selbst nichts weiter zu bieten hat."
Man muss sich die Wohnung des Buchpreisgewinners von 2015 als klamme Kammer in Offenbach denken, in der unaufhörlich in Büchern geblättert, mit ihnen gerungen und schließlich auf eine Tastatur eingehackt wird, um wenigstens etwas vom Streit mit den Büchern festzuhalten. Das Ergebnis ist einmalig in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Gedankengänge von luzider Originalität und abgründiger Komik. Die Betrachtungen zu Heideggers Seyns-Philosophie zum Beispiel. Der metaphysische Diarist fügt dem Heidegger-Glossar einen wichtigen Eintrag hinzu. Nämlich das "Gewese", das der Philosoph um seine manchmal erstaunlich eingeschränkten Gedanken mache. Etwa, wenn er über das Sprechen und das Seyn nachdenkt, vielmehr über "die große Stille", aus der "das Wort auf den ersten Sprung kommt".
Was Heidegger da denkt, das sei doch das täglich Brot von Mystikern seit Jahrhunderten, meint Witzel genervt. Dass es nämlich einer Praxis bedarf, "die es ermöglicht, überhaupt diesen angedachten Weg zu gehen, während Heidegger als nicht handelnder Denker immer weiter Begrifflichkeiten aufeinanderhäuft, unter denen er seinen Ansatz immer wieder begräbt".
Heidegger, das sei bestenfalls der Finger, der auf den Finger zeigt, der auf den Mond zeigt, weshalb er sich auch zur Poesie hingezogen fühle, "weil er hier einen Ort für sein eigenes Raunen und Wähnen zu finden meint". Das klingt wie eine böse Abrechnung. In Wahrheit ist es aber nur ein Selbstgespräch. Denn der vermeintliche Gegensatz von sklerotischem Denken und muskulärem Tun ist auch der Antrieb dieses Tagebuchs, das wiederum eine Antwort auf die Frage versucht, warum Witzels Beziehung zu einer gewissen O. sich nur im Streit zu offenbaren scheint. Darum geht es im Kern. Um die Fähigkeit hinreichend zu lieben und hinreichend zu leben. Ohne Angst und ohne Arg. Nicht uneigentlich verzweifelt sein, sondern eigentlich glücklich. "Ist mir das Wohlfühlen vielleicht nicht nur aus anerzogenen, katholischen, deutschen etc. Gründen suspekt, sondern weil es eine Verantwortung erfordert, mit der ich mich angreifbar mache?"
Witzel erhofft sich Antworten von Simone Weil, mit der er über Gnade nachdenkt. Und von Kierkegaard, auf dessen Abraham-und-Isaak-Drama "Furcht und Zittern" er immer wieder zurückkommt. Bei allem ahnt er, dass seiner habituell empfundenen Verzweiflung etwas "Uneigentliches" anhaftet. Dass sie gar nicht dem Leben entspringt, sondern dem Impuls, das Leben zu vermeiden.
Um seinen Körper nun als physikalische Evidenz in die Waagschale zu werfen, geht der Autor mehrmals pro Woche schwimmen. Mit Jean-Luc Nancy teilt er die Empfindung, der Körper wäge sich beständig im Denken. "Aber wie findet dieses Wägen des Körpers statt, wenn nicht in einer Form der Bewegung (wäre ich Heidegger, würde ich Be-Wägung schreiben)?" Die mal meditative, mal einfach nur stumpf rituelle Schwimmbewegung gerät Witzel dabei immer mehr zu einem "Abtauchen". Allerdings eines mit Ansage: "Ich arbeite daran, das Uneigentliche dem Eigentlichen immer ähnlicher zu machen, bis die beiden von außen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Ich mache es nicht, um andere zu täuschen (das ist lediglich der Nebeneffekt), sondern weil ich fälschlicherweise hoffe, mich so, quasi ohne eine grundsätzliche Entscheidung fällen zu müssen, in das Eigentliche hineinbewegen zu können." Wobei ihm schon auch klar ist, dass das Eigentliche eine suspekte Kategorie ist.
Bereits in seinem letzten Roman "Direkt danach und kurz davor" wurde es jäh von der Bühne gedrängt, obwohl beständig nach ihm gesucht wurde. Das Eigentliche war das große Abwesende dieses Buchs, während das Uneigentliche sich in tausend Zungen verbreitete. Der Roman versuchte damit die Verstocktheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft literarisch nachzustellen - ihr uneigentliches Sprechen durch "kommunikatives Beschweigen" einerseits. Und ihr wortreiches An-der-Sache-Vorbeireden andererseits.
Auch "Uneigentliche Verzweiflung" präsentiert philosophischen Slapstick vom Feinsten. Starke Momente hat der Autor aber auch im Aphorismus. Und der weiß manchmal mehr als sein Verfasser. Jedenfalls leuchtet einem sofort ein, dass O. so - und zwar nur so! - zurückzugewinnen wäre: "Am Anfang des Denkens steht eine Annahme (Vermutung) und am Ende des Denkens auch (ein Annehmen)."
KATHARINA TEUTSCH
Frank Witzel:
"Uneigentliche Verzweiflung". Metaphysisches Tagebuch I.
Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2019. 295 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abtauchen mit Ansage: Frank Witzels Notizenband "Uneigentliche Verzweiflung" birgt ein Selbstgespräch
Eines Morgens fällt Frank Witzel, der seit vierzig Jahren an aberwitzigen Gedankenromanen schreibt und unter täglichen Panikattacken leidet, eine Möglichkeit ein, sich dem Leben tel quel zuzuwenden - indem er sein gedankliches Mäandern festschreibt, also dingfest macht. "Es geht um keine Chronologie, um kein System, sondern allein um den einen Gedanken, der entsteht und wieder vergeht und seltsamerweise etwas zu bewirken scheint, wenn wir auch nicht wissen, was."
Der französische Existenzialist Gabriel Marcel, dessen Buch Witzel lange besaß, ohne es je wirklich gelesen zu haben, hat es vorgemacht, indem er ein Journal métaphysique verfasste. Ihm fühlt der Autor in der Liebes- und Schreibkrise sich jetzt nah. Und gleitet gleich wieder ab in ein typisches Witzel-Szenario: "Mit dem Gedanken an Marcels Journal métaphysique verbindet sich unwillkürlich eine erzählerische Ebene; das Bild einer kleinen Kammer, einer Gasse in einem etwas abgelegenen Pariser Viertel, einerseits klamm, andererseits tröstlich. Tröstlich, sich wo und wann auch immer auf das Denken verlassen zu können. Klamm, sich eben darauf verlassen zu müssen, weil das Leben selbst nichts weiter zu bieten hat."
Man muss sich die Wohnung des Buchpreisgewinners von 2015 als klamme Kammer in Offenbach denken, in der unaufhörlich in Büchern geblättert, mit ihnen gerungen und schließlich auf eine Tastatur eingehackt wird, um wenigstens etwas vom Streit mit den Büchern festzuhalten. Das Ergebnis ist einmalig in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Gedankengänge von luzider Originalität und abgründiger Komik. Die Betrachtungen zu Heideggers Seyns-Philosophie zum Beispiel. Der metaphysische Diarist fügt dem Heidegger-Glossar einen wichtigen Eintrag hinzu. Nämlich das "Gewese", das der Philosoph um seine manchmal erstaunlich eingeschränkten Gedanken mache. Etwa, wenn er über das Sprechen und das Seyn nachdenkt, vielmehr über "die große Stille", aus der "das Wort auf den ersten Sprung kommt".
Was Heidegger da denkt, das sei doch das täglich Brot von Mystikern seit Jahrhunderten, meint Witzel genervt. Dass es nämlich einer Praxis bedarf, "die es ermöglicht, überhaupt diesen angedachten Weg zu gehen, während Heidegger als nicht handelnder Denker immer weiter Begrifflichkeiten aufeinanderhäuft, unter denen er seinen Ansatz immer wieder begräbt".
Heidegger, das sei bestenfalls der Finger, der auf den Finger zeigt, der auf den Mond zeigt, weshalb er sich auch zur Poesie hingezogen fühle, "weil er hier einen Ort für sein eigenes Raunen und Wähnen zu finden meint". Das klingt wie eine böse Abrechnung. In Wahrheit ist es aber nur ein Selbstgespräch. Denn der vermeintliche Gegensatz von sklerotischem Denken und muskulärem Tun ist auch der Antrieb dieses Tagebuchs, das wiederum eine Antwort auf die Frage versucht, warum Witzels Beziehung zu einer gewissen O. sich nur im Streit zu offenbaren scheint. Darum geht es im Kern. Um die Fähigkeit hinreichend zu lieben und hinreichend zu leben. Ohne Angst und ohne Arg. Nicht uneigentlich verzweifelt sein, sondern eigentlich glücklich. "Ist mir das Wohlfühlen vielleicht nicht nur aus anerzogenen, katholischen, deutschen etc. Gründen suspekt, sondern weil es eine Verantwortung erfordert, mit der ich mich angreifbar mache?"
Witzel erhofft sich Antworten von Simone Weil, mit der er über Gnade nachdenkt. Und von Kierkegaard, auf dessen Abraham-und-Isaak-Drama "Furcht und Zittern" er immer wieder zurückkommt. Bei allem ahnt er, dass seiner habituell empfundenen Verzweiflung etwas "Uneigentliches" anhaftet. Dass sie gar nicht dem Leben entspringt, sondern dem Impuls, das Leben zu vermeiden.
Um seinen Körper nun als physikalische Evidenz in die Waagschale zu werfen, geht der Autor mehrmals pro Woche schwimmen. Mit Jean-Luc Nancy teilt er die Empfindung, der Körper wäge sich beständig im Denken. "Aber wie findet dieses Wägen des Körpers statt, wenn nicht in einer Form der Bewegung (wäre ich Heidegger, würde ich Be-Wägung schreiben)?" Die mal meditative, mal einfach nur stumpf rituelle Schwimmbewegung gerät Witzel dabei immer mehr zu einem "Abtauchen". Allerdings eines mit Ansage: "Ich arbeite daran, das Uneigentliche dem Eigentlichen immer ähnlicher zu machen, bis die beiden von außen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Ich mache es nicht, um andere zu täuschen (das ist lediglich der Nebeneffekt), sondern weil ich fälschlicherweise hoffe, mich so, quasi ohne eine grundsätzliche Entscheidung fällen zu müssen, in das Eigentliche hineinbewegen zu können." Wobei ihm schon auch klar ist, dass das Eigentliche eine suspekte Kategorie ist.
Bereits in seinem letzten Roman "Direkt danach und kurz davor" wurde es jäh von der Bühne gedrängt, obwohl beständig nach ihm gesucht wurde. Das Eigentliche war das große Abwesende dieses Buchs, während das Uneigentliche sich in tausend Zungen verbreitete. Der Roman versuchte damit die Verstocktheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft literarisch nachzustellen - ihr uneigentliches Sprechen durch "kommunikatives Beschweigen" einerseits. Und ihr wortreiches An-der-Sache-Vorbeireden andererseits.
Auch "Uneigentliche Verzweiflung" präsentiert philosophischen Slapstick vom Feinsten. Starke Momente hat der Autor aber auch im Aphorismus. Und der weiß manchmal mehr als sein Verfasser. Jedenfalls leuchtet einem sofort ein, dass O. so - und zwar nur so! - zurückzugewinnen wäre: "Am Anfang des Denkens steht eine Annahme (Vermutung) und am Ende des Denkens auch (ein Annehmen)."
KATHARINA TEUTSCH
Frank Witzel:
"Uneigentliche Verzweiflung". Metaphysisches Tagebuch I.
Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2019. 295 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main